Daniel Teufel: Wüste, Wind & Wiederkehr. Zum Typus des postmodernen Pilgers in Rilkes Stundenbuch.

Glaube daran, daß  das Produktive nicht seßhaft ist, sondern nomadisch!
Michel Foucault

Pilgerreisen ohne Ziel – Verhängnis oder Fähigkeit?

Was bleibt von einem Leben als Pilgerreise, wenn man ihm die Zuversicht auf ein erlösendes Ziel nimmt? Lediglich eine beschwerliche, verzweifelte, aussichts- und hoffnungslose Wanderschaft! – So lautet zumindest die trostlose Diagnose des Soziologen Zygmunt Bauman für den lebenslang pilgernden Menschen der Moderne. Denn es ist einerseits das sehnsüchtige Verlangen nach einer stabilen Identität und einer erhabenen Lebensweise, welche den modernen Menschen zum Pilgern verleiten, und andererseits seine moderne Wirklichkeit, welche ihm das Stillen dieser Sehnsucht unmöglich macht, da sie weder eindeutige Bestimmungen, noch Stabilitäten und erst recht keine dauerhaften Erlösungen zulässt.1 Nach Bauman ist deshalb die Figur des Pilgers lediglich noch „die passendste Allegorie für die moderne Lebensstrategie und ihre entmutigende Aufgabe der Identitätsbildung“2 und eine moderne Pilgerschaft ist nur noch ein verzweifelter Zwang und ein aussichtloses Wandern, immer auf der Suche nach dem erfüllenden, erlösenden Dasein, das sie nie finden wird. Doch es gibt einen Ausweg aus jenem Teufelskreis, ein Ausweg ohne Aussicht auf ein erlösendes Ziel und fernab traditionell religiöser Ideale: Ein Lebensweg, der mit jeder Verzweiflung bricht, indem er in jener unaufhörlichen Wanderschaft seine eigentliche Erfüllung findet und das ziellose Pilgern nicht als hoffnungs- und trostlosen Zwang, sondern als wesenhafte Fähigkeit betrachtet.

Im Folgenden möchte ich veranschaulichen, wie Rainer Maria Rilke, gerade als ein paradigmatischer Zeitgenosse der Moderne, in und mit seinem Stundenbuch Baumans modernen Pilger überwindet und eine neue, postmoderne Form des Lebens als Pilgerreise präsentiert. Die folgenden Seiten sollen dabei die spezifischen Eigenschaften dieses Pilgertypus und sein Verhältnis zur (post-)modernen Wirklichkeit, sein Gottesbild und seine Ideale genauer untersuchen. Beginnen möchte ich dabei mit einer kurzen Gegenüberstellung von modernen und postmodernen Perspektiven (1). Anschließend sollen die beiden essenziellen Schritte hin zu einer postmodernen Pilgerschaft (2, 3) und abschließend deren Pilgerideal (4) vorgestellt werden.

Alle Seitenzahlen in Klammern und in den Fußnoten beziehen sich im Folgenden, falls nicht anders gekennzeichnet, auf Rainer Maria Rilke Das Stundenbuch.3

(Die Figur des Pilgers taucht in den Monologen, imaginären Dialogen, Gebeten und Gesängen des Stundenbuchs in verschiedensten Zusammenhängen auf; selbst der zweite Teil Das Buch von der Pilgerschaft beschäftigt sich, zumindest buchstäblich, nur vereinzelt mit einer aus dem Christentum gewohnten Pilgerfigur. Wird in dieser Arbeit von postmoderner Pilgerschaft in Rilkes Stundenbuch gesprochen, so ist damit nicht nur eine auf der fiktionalen Ebene auftauchende Figur gemeint, sondern vor allem die Gesamterscheinung des lyrischen Ichs in allen drei Teilen des Stundenbuchs und letztendlich ebenfalls die künstlerischen Verfahren und Ideale des Lyrikers Rilke selbst. Das gesamte Stundenbuch soll hier als ein Exempel und Produkt eines postmodernen Pilgerns bezeichnet und behandelt werden.)

1. Exil – Dilemma – Heimat? Ein Leben in der Wüste

 Sandburgen statt Stahlbauten

War sie lange Zeit das hoffnungsvolle Exil aller Pilger, ist sie für Baumans modernen Typus nur noch Sinnbild seines trostlosen Verhängnisses: Die Wüste. In ihr, dem oftmals erhabenen Schauplatz göttlicher Wunder und Eingebungen fernab aller verführerischen Ablenkung und allem Müßiggang der Städte, konnte der Pilger nicht nur seinem Selbst und seinem Gott begegnen. Im „Land der Selbstschöpfung“4 und „Archetyp und Treibhaus der rohen, bloßen, ursprünglichen und uranfänglichen Freiheit“5 war es zudem möglich, Gott und das individuelle Selbst eigens zu konstruieren. Doch die Wüste hat sich ausgedehnt. Sie ist nicht mehr kurzzeitiger Flucht-, Rückzugs- oder Kurort und auch nicht mehr das Wartezimmer der kommenden Erlösung, sondern wurde mit Anbruch der Moderne zur allgegenwärtigen Wirklichkeit, aus deren grenzenloser Leere kein Entkommen mehr möglich war und in der jeder Sinn und alle Werte und Ordnungen nur noch die Beständigkeit einer Sanddüne hatten.6

„Man muß sein Leben als eine Pilgerreise leben, um nicht in einer Wüste verlorenzugehen – in einem Land ohne Bestimmung muß man dem Wandern einen Zweck unterlegen. […] Das Ziel, der gesetzte Zweck der Pilgerreise des Lebens, gibt dem Formlosen Form, macht aus dem Fragmentarischen ein Ganzes, verleiht dem Episodischen Kontinuität.“7

Doch gerade dies verhindert die moderne Wüstenwirklichkeit. Zwar hat sie nichts von ihrem Potenzial zur Selbstschöpfung verloren, doch ist es unmöglich, an dieser Schöpfung festzuhalten. Ein stabiles, ordentliches und sinnvolles Ganzes, so wie es sich der Pilger nach Bauman wünscht8, lässt sich in dieser allgegenwärtigen Wüste weder finden noch erzeugen; was er gerne aus „Stahl und Beton“9 errichten würde, kann er nur aus Sand bauen und eine Sandburg ist leider alles andere als eine Festung und schon gar keine Heimat für die Ewigkeit. Alles (Gottes-, Selbst- und Weltbild) ist somit entweder instabiles Sandkonstrukt oder Fata Morgana und hält keinem Wüstenwind und keiner sinnlichen oder geistigen Prüfung stand. Selbst die eigenen Spuren und Wege verwischen im Sand.10 Bleibt man den bisherigen Metaphern treu, so lässt sich das Dilemma des modernen Pilgers wie folgt zusammenfassen: Kein stabiler Lebensweg, kein rettender Ausweg, kein trostspendender Endpunkt, keine beständigen Strukturen, sondern lediglich eine grenzenlose Wüstenwelt, in der man entweder mit leeren oder mit sandgefüllten Händen dasteht.

Verhängnisvoller Wüstenwind – verehrenswerter Sandsturm

„[…] Wüsten sind windige Orte.“11 – Der entscheidende Unterschied zwischen moderner und postmoderner Weltsicht liegt in Tonfall und Melodie jenes Satzes. Für den einen ist es ein Lamento seiner trostslosen Existenz, für den anderen jedoch eine Hymne auf seine unbeständige Heimat. Im Gegensatz zum modernen Streben nach stabilen Ordnungen, ist der „bestimmende Grundzug der postmodernen Idee vom guten Leben […] das Fehlen einer Bestimmung des guten Lebens“12. Mit anderen Worten: „Wenn das moderne ‚Problem der Identitätʻ darin bestand, eine Identität zu konstruieren und sie fest und stabil zu halten, dann besteht das postmoderne ‚Problem der Identitätʻ hauptsächlich darin, die Festlegung zu vermeiden und sich die Optionen offenzuhalten.“13 Wer Stabilitäten, determinierte Wege und Ziele gerne aufgibt, stört sich nicht mehr an der windigen Wüste; für wen Freiheit und Offenheit das Höchste aller Dinge bedeuten, für den ist die wüstenähnliche Wirklichkeit ein optimaler Lebensraum. Aus dieser Perspektive wird der verhängnisvolle Wüstenwind der Moderne zum ultimativen Katalysator postmoderner Lebensqualität.

Auch Rainer Maria Rilke ist die Wüste bzw. die charakteristische Unbestimmbarkeit seines modernen Zeitalters nicht entgangen, er scheint jedoch ähnlich dem postmodernen Denken schon früh einen Weg aus der Verzweiflung gefunden zu haben:

Wenngleich wir Modernen am weitesten entfernt sind von der Möglichkeit, anderen oder auch nur uns selbst durch Definitionen zu helfen, haben wir doch vielleicht vor den Gelehrten die Unbefangenheit und Aufrichtigkeit und eine leise Erinnerung aus Schaffensstunden voraus, welche unseren Worten in Wärme ersetzt, was ihnen an historischer Würde und Gewissenhaftigkeit fehlt. Die Kunst stellt sich dar als eine Lebensauffassung, wie etwa die Religion […].14

Diese neue „Lebensauffassung“ Kunst, „eine leise Erinnerung aus Schaffensstunden“, reibt sich nicht an mangelnden Definitionen auf, sondern ihre „Wärme“ ersetzt die fehlende „Gewissenhaftigkeit“, und so heißt es weiter:

Wenn ihr [der Kunst] einmal die Welt unter den Füßen zerbricht, bleibt sie als das Schöpferische unabhängig bestehen und ist die sinnende Möglichkeit neuer Welten und Zeiten.15

Rilkes Vertrauen in die Kunst hebt scheinbar alle Angst vor einer unbeständigen, zerrinnend zerbrechenden Wüstenwirklichkeit auf; ein Vertrauen, das sich aus dem künstlerischen Schöpfungspotenzial, „neu[e] Welten und Zeiten“ erschaffen zu können, speist. In diesen Zeilen lassen sich bisher keine Anzeichen für ein verzweifeltes, trostloses, unerfülltes (Pilger-)Dasein in einer modernen Welt erkennen.

Nur wenige Jahre nach Über Kunst wird Rilke sein Stundenbuch abgeschlossen haben, in welchem verschiedenste Einflüsse und Erfahrungen mehrerer Jahre zusammenkommen und ein religiöses Streben der Moderne auf jenes künstlerische Schöpfungspotenzial trifft. Zwar wäre es leichtfertig, Baumans metaphorische Verwendung von Wüste und Wind mit ihren wörtlichen Erwähnungen im Stundenbuch gleichzusetzen, umso mehr, um dann wiederum von Rilkes Verwendung von Wüste und Wind auf sein Verhältnis zur modernen Wirklichkeit rückzuschließen. Dennoch gibt es einige Verse, welche einen Vergleich dieser metaphorischen Verwendungen und den damit einhergehenden Assoziationen und Gefühlen herausfordern, wie z.B.:

[…]
Gemalt hätt ich dich: nicht an die Wand,
an den Himmel selber von Rand zu Rand,
und hätt dich gebildet, wie ein Gigant
dich bilden würde: als Berg, als Brand,
als Samum, wachsend aus Wüstensand –
[…](S. 167)

Die letzte Zeile birgt die entscheidende Formulierung: Das lyrische Ich würde mit Hilfe eigener Schöpfungskraft seinen Gott (welcher im gleichen Gedicht zuvor schon als „grenzenlose Gegenwart“ bezeichnet wurde) als einen zerstörerischen Sandsturm „wachsend aus Wüstensand“ formen. Nicht nur die Wüste, die später noch als ein Ort der göttlichen Präsenz bestimmt wird (S. 196: „Du bist das Wunder in den Wüsten, / das Ausgewanderten geschieht.“), sondern gerade der zerstörerische Wind wird mit göttlicher Kraft und Erscheinung in Verbindung gebracht; ein stürmischer Gott wird nahezu ersehnt. Aus dieser Sicht und auch im weiteren Gesamtbild des Stundenbuchs, bekommt „Wüsten sind windige Orte“ eine deutlich postmoderne Melodie. Zumal der Wind, als eine der fast omnipräsenten und omnipotenten Metaphern des Stundenbuchs, neben der Welle und dem Gesang (alle bestimmt durch eine dynamische, nicht greifbare Präsenz), oft zur bildlichen Darstellung einer alles durchdringenden Kraft und dem Wesen Gottes dient.16 Die Wüste wäre demnach ein göttlicher Ort gerade weil der Wind dort ständig weht.

Wie auf den folgenden Seiten noch zu sehen sein wird, sind diese Vor- und Darstellung einer göttlich-windigen Wüste und Rilkes Vertrauen in die künstlerische Schöpfungskraft deutliche Merkmale einer postmodernen Pilgerschaft, welche schon vermuten lassen, dass das Stundenbuch, trotz einiger moderner Tendenzen, es vorzieht, ein unbestimmtes, dynamisches Dasein zu führen, anstatt stabile Ordnung zu wünschen. Dieser Wandel hin zum postmodernen Pilgern vollzieht sich in zwei Schritten.

2. Schritt 1: Die Erfahrung der Wüste

Während bei den wörtlichen Erwähnungen der Wüste im Stundenbuch Vorsicht geboten ist, diese nicht direkt mit Baumans Wüstenmetapher gleichzusetzen, gibt es ein Gedicht im Buch vom mönchischen Leben, welches eine entsprechende inhaltliche Darstellung einer modernen Wüstenwirklichkeit, bestimmt durch Identitätskonflikte, Orientierungslosigkeit und Stabilitätssehnsucht, liefert:

Stimme eines jungen Bruders:
Ich verrinne, ich verrinne
wie Sand, der durch Finger rinnt.
Ich habe auf einmal so viele Sinne,
die alle anders durstig sind.
Ich fühle mich an hundert Stellen
schwellen und schmerzen.
Aber am meisten mitten im Herzen.

Ich möchte sterben. Lass mich allein.
Ich glaube, es wird mir gelingen,
so bange zu sein,
daß mir die Pulse zerspringen. (S. 168f.)

Im verzweifelten Schluchzen des jungen Bruders sind die metaphorischen Assoziationen zur wüstenähnlichen Wirklichkeit (gerade auch die leeren, sandigen Hände) unverkennbar: Das Selbst verrinnt zu einer orientierungslosen Zerstreuung und wünscht sich letztendlich vor lauter Verlorenheit und sehnsüchtigem, unstillbarem Durst nur noch den alles beendenden Tod. Die Klagelaute stammen jedoch nicht vom lyrischen Ich selbst und betrachtet man das darauffolgende Gedicht (zusätzlich in einer früheren Fassung des Buches vom mönchischen Lebens, in welcher die einzelnen Gedichte durch Prosaeinschübe ergänzt wurden17) so wird deutlich, dass der Mönch bzw. das lyrische Ich unerwartet fröhlich auf die schmerzliche Situation seines jungen Bruders reagiert; er entdeckt hier keine beklagenswerte Aussichtslosigkeit, sondern einen wegbereitenden Schritt hin zu Gott:

Da jubelte der Mönch:
Sieh, Gott, es kommt ein neuer an dir bauen ,
[…]18

Der Mönch scheint die Relevanz jener Schmerzen zu kennen und zu wissen, dass diese Erfahrung der wahren Wirklichkeit als verrinnende, durstige Wüste zu einer neuen Perspektive und Lebensart verhilft. Eine nahezu identische Vorrausetzung für eine neue und von Verzweiflung erlöste Art der Lebensführung beschrieb zuvor auch schon Friedrich Nietzsche.19 In Zarathustras Rede Von den drei Verwandlungen20 muss der Mensch bzw. sein Geist zum Kamel, dem Wüstentier schlechthin, werden und als solches die Schwere der Welt erfahren und ertragen lernen:

Alles diess Schwerste nimmt der tragsame Geist auf sich: dem Kameele gleich, das beladen in die Wüste eilt, also eilt er in seine Wüste.21

Bei Rilke und Nietzsche ist demnach die leidvolle Erfahrung (in) der Wüste die Erfahrung der wahren Wirklichkeit, d.h. die Ent-Täuschung aller Illusionen von stabilen Identitäten und Orientierungen. Ähnlich dem modernen Pilger22 ist die Voraussetzung für eine solche Erfahrung der wahren Wirklichkeit, dass man dem Leben in der Stadt den Rücken kehrt, denn die Stadt fängt den gesunden Menschen ein und führt ihn in ein verachtenswertes, sündiges und krankes Dasein.23 In ihr „fällt“ selbst Gottes „Winde Wehen / […] in die Gassen, die es anders drehen“ (S. 240) und über diesen verdrehten Winden Gottes weht der alles bedeckende Schleier der Maja, die große Täuschung und das falsche Spiel, welche die Wahrheit der Wüste mit Hilfe niedriger Verführungen und Scheinorientierungen vertuschen. Das Leben in der Stadt gleicht dem blinden Vertrauen in eine miese Fata Morgana.

Ist die Ent-Täuschung dieser Fata Morgana und das Erfahren und Erkennen der wahren Wirklichkeit als ewige Zerstreuung, Verwehung und Zerrinnen auch schmerzhaft, sie ist der essenzielle erste Schritt hin zu einer postmodernen Pilgerschaft. Zwar deckt sich der Gemütszustand des jungen Bruders noch mit dem Teufelskreis des modernen Pilgers, doch der folgende zweite Schritt, die Bejahung dieser Erfahrung und die Hingabe an diese Wüste, verdeutlicht den neuen, durchbrechenden Umgang mit der ent-täuschten, modernen Wirklichkeit:

Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz,
an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen;
du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen,
du Wald [Wüste?], aus dem wir nie hinausgegangen,
 […] (S. 169)

3. Schritt 2: Die Bejahung des Werdens und des Vielen

Das dynamische Dasein und der natürliche Zyklus der Welt

Doch wie geht nun ein postmoderner Pilger mit dieser ent-täuschten Welt um? Ganz einfach: Er erkennt das ewige Verwehen und Verrinnen als die einzig wahre Natur aller Dinge an und gibt sich dieser vollständig hin; er akzeptiert nicht nur ein dynamisches Dasein, er bejaht es, er will es. Postmoderne Pilgerschaft ist ein Jasagen zum windigen Dasein in der Wüste. Was dies genau bedeutet, lässt sich besonders an Anfang und Ende des Buches von der Pilgerschaft nachvollziehen:

Dich wundert nicht des Sturmes Wucht, –
du hast ihn wachsen sehn; –
die Bäume flüchten. Ihre Flucht
schafft schreitende Alleen.
Da weißt du, der vor dem sie fliehn
ist der, zu dem du gehst,
und deine Sinne singen ihn,
wenn du am Fenster stehst.

Des Sommers Wochen standen still,
es stieg der Bäume Blut;
jetzt fühlst du, daß es fallen will
in den der Alles tut.
Du glaubtest schon erkannt die Kraft,
als du die Frucht erfaßt,
jetzt wird sie wieder rätselhaft,
und du bist wieder Gast.

Der Sommer war so wie dein Haus,
drin weißt du alles stehn —
jetzt mußt du in dein Herz hinaus
wie in die Ebene gehn.
Die große Einsamkeit beginnt,
die Tage werden taub,
aus deinen Sinnen nimmt der Wind
die Welt wie welkes Laub.

Durch ihre leeren Zweige sieht
der Himmel, den du hast;
sei Erde jetzt und Abendlied
und Land, darauf er paßt.
Demütig sei jetzt wie ein Ding,
zu Wirklichkeit gereift, —
daß Der, von dem die Kunde ging,
dich fühlt, wenn er dich greift. (S. 201)

Sowie der Wind die Wüste in Bewegung hält, ist hier „des Sturmes Wucht“ die gewaltige Verkörperung eines „wundersame[n] Spiel der Kräfte“ (S. 168), welche vom lyrischen Ich jedoch weder gefürchtet noch beklagt, sondern erwartet und angesteuert, ja sogar von seinen Sinnen be- oder ersungen wird. Dieser Sturm scheint der unerschöpfliche Motor des zyklischen Wesens aller Dinge und der ewigen Wiederkehr (ein Begriff der bei Rilke wie Nietzsche eine entscheidende Rolle spielt) zu sein. Was diese ewige Wiederkehr ist und bringt, macht Rilkes Natur- und Jahreszeitenmetaphorik deutlich: Es ist die zyklische Metamorphose eines Samens, der zum Baum wird, eines Baumes, der zur Wüste wird und einer Wüste, die Samen trägt. In diesem Anfang des Buches von der Pilgerschaft stellt sich gerade das Ende des Sommers und der Übergang vom Baum zur Wüste dar. Dort wo gerade noch „Bäume“ standen, sind nun „schreitende Alleen“; aus den einst verwurzelten ‚Standpunktenʻ werden viele, offene Pfade und die stürmische Kraft lässt eine herbstliche Landschaft entstehen, voll „welke[m] Laub“ und „leeren Zweigen“. In ihr ist wieder alles entwurzelt und zerfallen, heimatlos, rätselhaft und fremd, offen und unbestimmt wie in einer Wüste – ein dem lyrischen Ich nicht unvertrauter Zustand: „und du bist wieder[!] Gast.“ In dieser Situation des Ein- und Aufbruchs lässt sich sowohl die neu entstandene Wegstruktur als auch das aktuell wieder entwurzelte Dasein des lyrischen Ichs, des (postmodernen) Pilgers, mit den Eigenschaften eines Rhizoms, in der Definition von Gilles Deleuze und Félix Guattari24, vergleichen. Ein Rhizom ist der (wiederkehrende) Ausgangspunkt eines Werdens und eines Vielen und als solches sind Weg und Dasein des Pilgers bestimmt durch die Offenheit in alle Richtungen und das zyklische Oszillieren von Rhizom-sein und Baum-werden.25 Hat der Pilger am Anfang des Buches von der Pilgerschaft nun gerade wieder das Baum-sein hinter sich gelassen und wandert rhizomatisch durch die Wüste, wird er am Schluss des zweiten Teils wieder bei einem, aber nicht dem selben(!), Baum-werden ankommen:
[…]
Und meine Hände, welche blutig sind
vom Graben, heb ich offen in den Wind,
so daß sie sich verzweigen wie ein Baum.
Ich sauge dich mit ihnen aus dem Raum
als hättest du dich einmal dort zerschellt
in einer ungeduldigen Gebärde,
und fielest jetzt, eine zerstäubte Welt,
aus fernen Sternen wieder auf die Erde
sanft wie ein Frühlingsregen fällt. (S. 230)

Hier schließt sich der Kreislauf der Jahreszeitenmetaphorik mit dem „Frühlingsregen“, welcher für das Wachstum des Baumes sorgt (bis ihn der nächste Herbststurm wieder entwurzeln wird) und damit offenbart sich auch im Zusammenspiel der beiden Gedichte26 der Zyklus der ewigen Wiederkehr als eine „Reproduktion des Werdens“27 ohne Anfang und Ende und ohne eine Wiederholung des Gleichen:

„Nicht das Sein kehrt wieder, sondern die Wiederkehr selbst macht das Sein aus, insoweit dieses im Werden und im Vergehen sich bejaht. Nicht das Eine kehrt wieder, sondern das Wiederkehren selbst ist das Eine, das sich im Verschiedenen oder Vielen bejaht.28

Was beim modernen Pilger noch Teufelskreis genannt wurde, bejaht der postmodernde Pilger als ewige Wiederkehr und dieses Bejahen einer wüstenähnlichen Wirklichkeit, bestimmt durch das Werden und das Viele, äußert sich in einem Hingeben und einem Wollen. Die Hingabe äußert sich in den Momenten des Fallens und wie ein Ding sein (zwei Schlüsselmetaphern des Stundenbuchs), in denen man sich von den Kräften der Wiederkehr durchziehen, bestimmen und formen, sich einpflanzen, entwurzeln und ausstreuen lässt. Ding-sein ist dabei gerade nicht, eine Einheit oder ein (be-)greifbares Ganzes zu sein, sondern „[d]ie Geschichte eines Dings besteht ganz allgemein in der Aufeinanderfolge der Kräfte, die sich seiner bemächtigen“29 und das verleiht dem Ding ein dynamisches, rhizomartiges Dasein. „Demütig sei jetzt wie ein Ding“ und falle „in den der Alles tut“ – so verhält sich das lyrische Ich in hingebungsvoller Erwartung des Sturmes, des natürlichen Motors der Wiederkehr. Bejahung heißt aber auch aktives Wollen dieser Wiederkehr und allem, was diese mit sich bringt (und das Stundenbuch leidet wahrlich nicht an einem Mangel an Willensäußerungen):

Du siehst, ich will viel.
Vielleicht will ich Alles:
das Dunkel jedes unendlichen Falles
und jedes Steigens lichtzitterndes Spiel.
[…] (S. 163)

Alles bejahen, sich allem hingeben und alles wollen, selbst und gerade das eigene Über- und Untergehen30 ist die Lebensstrategie des postmodernen Pilgers. Er sucht, braucht und will kein einzelnes Sein, kein stabiles, (be-)greifbares Ganzes (ob Selbst, Gottes- oder Weltbild), er weiß, dass es so etwas in der Wüste nicht gibt und so erfreut er sich an dieser Wahrheit und an seinem dynamischen, pluralen Dasein als rhizomartige Sanddüne im Spiel des Wüstensturms „und [s]eine willigen Werke wachsen / von Wiederkehr zu Wiederkehr.“ (S. 182)

Der Glaube an die kosmische Metamorphose

[…]
Mit diesem Hinfluten, mit diesem Münden
in breiten Amen ins offene Meer,
mit dieser wachsenden Wiederkehr
will ich dich bekennen, will ich dich verkünden
wie keiner vorher.
[…] (S. 162)

Was für das postmoderne Pilgerdasein, seine Natur und sein Weltbild gilt, gilt auch für seinen Gott: Gott ist kein Stillstand und keine Einheit, er ist ein Werden und ein Vieles – Gott ist nicht (be-)greifbar, sondern ist ein dunkles Gewebe (vgl. S. 158) und eine „ewige Metamorphose“ (S. 245). Diese Metamorphose erscheint im Gesamtbild des Stundenbuchs als Verschmelzung eines komplexen Pantheismus mit einer dionysischen Gottesgestalt.

Komplexer Pantheismus bedeutet, Gott ist sowohl der substantielle Urgrund (Boden, Grund, Garten)31 als auch der Motor des natürlichen Zyklus (Wind, Welle, Sturm) und zugleich selbst Teil und Produkt dieser ewigen Wiederkehr (Sohn, Erbe, Metamorphose)32 – Gott ist Wüste, Wind und Rhizom in Einem (oder besser in Vielen). Dieser pantheistischen Dreieinigkeit entspringen zudem auch dionysische Qualitäten, wie Nietzsche sie in Der Geburt der Tragödie darstellt (eine Schrift, mit der sich Rilke zur Entstehungszeit des Stundenbuchs auseinandersetzt33). Nietzsches Dionysos ist selbst in gewisser Weise pantheistisch veranlagt und „verwandelt sich […] selbst in unzählige Bejahungen, um so mehr, als er sich im Ursein auflöst und das Viele mit dem Urgrund eins werden lässt“34. Dabei bejaht er nicht nur sein eigenes dynamisches und plurales Dasein, sondern auch die damit verbundenen Negativitäten, Differenzen und Paradoxien, denn Dionysos ist ein Gott, „der ja sagt zum Leben, für den das Leben bejaht, aber gewiß nicht gerechtfertigt oder erlöst werden muß“35.

Diese Paradoxien muss ein Leser des Stundenbuchs nicht lange suchen, denn der ihm dort präsentierte Gott lässt sich nicht auf ein einheitliches, (be-)greifbares und widerspruchsfreies Ganzes reduzieren. Die komplexen und paradoxen Bezeichnungen, Prädikate und Sinnbilder machen die Existenz Gottes nur als eine Vielheit erfahrbar („‚Ist das nicht eben Göttlichkeit, dass es Götter, aber keinen Gott gibt?ʻ“36) und so erfährt selbst das lyrische Ich die göttliche Präsenz stellenweise als ein „Wald der Widersprüche“ (S. 182) und sogar als eine „Schlacht“ (S. 188). Doch es scheint, als ob das lyrische Ich nicht selten gerade diese leidenschaftliche, anregende wie aufreibende Auseinandersetzung mit den Paradoxien und Differenzen seines Gottes herausfordert und jene bedauert, welche noch nie in den Genuss dieser „Schlacht“ gekommen sind oder sich nie im göttlichen „Wald der Widersprüche“ verlaufen haben:

Ihr vielen unbestürmten Städte,
habt ihr euch nie den Feind ersehnt?
O daß er euch belagert hätte
ein langes schwankendes Jahrzehnt.
[…] (S. 184)

Dieser „Feind“ der „unbestürmten Städte“, Unstimmigkeiten und Widersprüche, sind essenzielle und existenzielle Erfahrungen des pantheistisch-dionysischen Gottes, dessen Existenz keiner Theodizee bedarf und keinem Gott mit Kompetenzen gleicht. Eher liefert das Stundenbuch eine Kosmodizee, eine göttliche Allgegenwart, welche sich durch rhizomatische Metamorphosen und eine paradoxe Performanz auszeichnet. Diese Gegenwart kann nie ergründet, verstanden oder erklärt werden, sondern erscheint synchron als Ding und Kraft sowie als Inbegriff und Alterität des eigenen Selbst:

[…]
Du bist die sich verwandelnde Gestalt,
die immer einsam aus dem Schicksal ragt,
die unbejubelt bleibt und unbeklagt
und unbeschrieben wie ein wilder Wald.

Du bist der Dinge tiefer Inbegriff,
der seines Wesens letztes Wort verschweigt
und sich den Andern immer anders zeigt:
dem Schiff als Küste und dem Land als Schiff. (S. 219)

So wie der postmoderne Pilger seine Natur durch Hingabe und Willen bejaht, so bejaht er diesen kosmischen Gott und erkennt in ihm selbst die Bejahung des Werdens und des Vielen. Auch wenn diese göttliche Gegenwart nicht leicht mit gängigen Bibellesarten in Einklang zu bringen ist, gilt für den postmodernen Pilger und den Umgang mit der wüstenähnlichen Wirklichkeit Ähnliches wie für den Menschen in Jeremia 17. 5 (der dankbarer Weise in nahezu analoger Bildsprache spricht):

(So spricht der Herr:) Verflucht der Mann, der auf Menschen [Sinn und Werte] vertraut, auf schwaches Fleisch [den Schein] sich stützt, und dessen Herz sich abwendet vom Herrn. Er ist wie ein kahler Strauch in der Steppe, der nie einen Regen kommen sieht; er bleibt auf dürrem Wüstenboden, im salzigen Land wo niemand wohnt. Gesegnet der Mann, der auf den Herrn [das Dynamische und Plurale] sich verläßt und dessen Hoffnung der Herr [die ewige Wiederkehr] ist. Er ist wie ein Baum [Rhizom], der am Wasser gepflanzt ist und am Bach seine Wurzeln ausstreckt: Er hat nichts zu fürchten, wenn Hitze kommt; seine Blätter bleiben [werden] grün; auch in einem trockenen Jahr ist er ohne Sorge, unablässig [in ewiger Wiederkehr] bringt er seine Früchte.37

Wer weltlicher Vernunft und falscher Widerspruchsfreiheit abschwört und auf das dynamische, plurale und paradoxe Wesen der Welt und Gottes vertraut, der wird ein erfülltes und kein durstiges Leben in der Wüste der modernen Wirklichkeit haben.

4. Die Mystik und Ethik des ästhetischen Daseins

Ein bejahendes Vertrauen in ein dynamisches und plurales Wesen der Welt ist die einzige Heimat des heimatlosen postmodernen Pilgers. Außer ihr kennt er keine Gebote und keine Regeln – sein Dasein ist kein moralisches und kein rechtschaffendes (eher ein Welt und Werte schaffendes) und auch kein büßendes und kein enthaltsames, sondern ein rein mystisch-ästhetisches, „denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“38. Die mystische Basis, das Eins-sein mit Gott, ist hier das Vieles-sein und auch das gemeinsame Arm-sein39 und deshalb Vieles-sein-können mit Gott; in Rilkes Worten: „Das Dionysische Leben ist ein unbegrenztes In-Allem-Leben […].“40 In gewisser Weise lassen sich Nietzsches Bemerkungen über Die Geburt der Tragödie ebenfalls auf das Stundenbuch übertragen:

In der That, das ganze Buch kennt nur einen Künstler-Sinn und – Hintersinn hinter allem Geschehen, – einen „Gott“, wenn man will, aber gewiss nur einen gänzlich unbedenklichen und unmoralischen Künstler-Gott, der im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit inne werden will, der sich, Welten schaffend, von der Noth der Fülle und Ueberfülle, vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze löst.41

Mit diesem Künstler-Gott Vieles-sein(-können) heißt auch selbst Künstler sein und damit gesellt sich zur pluralistischen Mystik das entscheidende ästhetische Dasein hinzu. Der Künstler ist Ding und gleichzeitig selbst Kraft, sein Dasein oszilliert zwischen bestimmt werden und selbst bestimmen, zwischen Hingabe an Welt und Gott und dem eigenen Erschaffen dieser beiden.42 Als ein solcher Schaffender, als „weltbildende Kraft“43, ist der Künstler einem Kind vergleichbar, „das spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft“44.

Genau diese Figur des Kindes vereint nun alle Eigenschaften des postmodernen Pilgers und ist die vorbildliche und erstrebenswerte Lebensform im Stundenbuch45, wie auch im Denken und den Schriften Nietzsches. Von diesem Kind gilt es die Unschuld und das Spiel als die beiden Substanzen eines freien, bejahenden und unbeschwerten Umgangs mit der Welt und all ihren Dingen und Wesen zu erlernen. Hat man dies erreicht, ist auch die dritte und letzte Verwandlung des Geistes erreicht:

Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen. Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.46

Für solch kindlich künstlerische Pilger ist das Leben ein rein ästhetisches Dasein und „[n]iemand kann die Grenzen ihres Seins erkennen“47. Ihre Kunst ist ein unschuldiges Schaffen und Zerstören, ihr Leben ein bejahendes Spiel; ein Dasein, welches dem Ideal des Urmenschen in der Geburt der Tragödie entspricht:

Es gab nach dieser Empfindung eine Urzeit des Menschen, in der er am Herzen der Natur lag und bei dieser Natürlichkeit zugleich das Ideal der Menschheit, in einer paradiesischen Güte und Künstlerschaft, erreicht hatte: von welchem vollkommnen Urmenschen wir alle abstammen sollten, ja dessen getreues Ebenbild wir noch wären: nur müssten wir Einiges von uns werfen, um uns selbst wieder als diesen Urmenschen zu erkennen, vermöge einer freiwilligen Entäusserung von überflüssiger Gelehrsamkeit, von überreicher Cultur.48

Hat er sich von seiner „Gelehrsamkeit“ und seiner „Kultur“ – zwei der kräftigsten Falten im Schleier der Maja – befreit, so hört der postmoderne Pilger seine Natur und seinen Gott rufen:

Seid wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter!49

Die einzige Ethik, die diesem mystisch-ästhetischen Wesen des postmodernen Pilgerns dann noch entspricht, ist eine Ethik der dionysisch-bejahenden, tragischen Freude, welche erkennt „dass das Tragische reine und mannigfache Positivität, dynamische Heiterkeit ist. Tragisch ist das Jasagen: […] denn es bejaht das Werden und im Werden das Sein; denn es bejaht das Viele und im Vielen das Eine“ 50.

Während Bauman die Figur des Pilgers als Allegorie für den Menschen der Moderne nutzt, um die verzweifelte Suche nach Stabilitäten und Orientierungen sowie den erwartenden, doch stets enttäuschten Blick in eine vermeintlich bessere Zukunft zu betonen, liefert Rilke ein gänzlich anderes Verständnis eines Lebens als (postmoderne) Pilgerreise. Diese ist ein mystisch-tragisches Wandern im Hier und Jetzt und im Vertrauen auf ein rein ästhetisches Dasein und die eigene Schöpfungskraft. Für einen solchen Pilger gilt: Seine Gebete sind Gedichte und Gesänge (und nichts wird beim Lesen des Stundenbuchs deutlicher!), deren „Musik die Sprache des Willens“51 und der Bejahung des Werdens und des Vielen ist. Sein Wandern ist ein Tanzen als heitere Geste des dynamischen, pluralen, dionysischen Lebens. Sein Weg ist ziellos, zyklisch, oszillierend, ewig wiederkehrend, Übergang und Untergang und dabei ist sein Selbst stets „viele Pilger“ (S. 223), welche alle ein Vieles an Wegen und Kräften, Gesängen und Tänzen enthalten. Einmal ganz ohne Metaphysik und Metaphorik, ist der postmoderne Pilger ein Mensch, welcher sich von Sinn, Sicherheiten und stabilen Realitäten gelöst hat und lediglich seine wesenhafte Schizophrenie52 und die unbegreiflich komplexe, paradoxe und rauschende Gegenwart der modernen Welt als einzige Wahrheit anerkennt. (S)ein postmodernes Pilgern ist die Möglichkeit und Fähigkeit mit dieser letzten Wahrheit umzugehen, sich den Unbeständigkeiten und Vielfalten des Lebens in tragischer Heiterkeit hinzugeben und die niemals gegebenen, niemals beständigen Dinge, Wesen und Werte sich bestimmen und schaffen zu lassen bzw. sie selbst zu bestimmen  und zu erschaffen.

Fazit: Wolle die Wandlung

„Es gibt keinen Unterschied zwischen dem, wovon ein Buch handelt, und der Art, wie es gemacht ist“53 und deshalb möchte diese Arbeit behaupten, das Stundenbuch ist zur gleichen Zeit ein Exempel und ein Produkt eines postmodernen Lebens als Pilgerreise und einer Möglichkeit und Fähigkeit, in unserer heutigen Wüste erfüllt zu leben. Denn Rilkes Stundenbuch liest sich wie eine Art Manifest einer ästhetischen Bejahung, wie ein Buch ohne geradlinigen Weg und erkennbares Ziel, allein aus dem Vertrauen in das künstlerische Schöpfungspotenzial erwachsen. Gerade weil es ein aus paradoxen und komplexen Vielheiten bestehendes Werk ist und seine Gebete im wahrsten Sinne des Wortes poetische Gesänge sind, präsentiert es sich nicht nur inhaltlich, sondern auch in seinem ganzen Wesen als postmoderne Pilgerschaft.

Wirft man von dieser Perspektive aus einen Blick auf Rilkes Gesamtwerk, seine Kunstphilosophie und seine Biographie, liegt es nicht allzu fern, sich zu fragen, ob nicht Rilke selbst als ein solcher, postmoderner Pilger zu bezeichnen wäre; zumindest die Ideale eines solchen und die Möglichkeit und Fähigkeit, rein ästhetisch und tragisch mit der Wirklichkeit umzugehen, finden in Rilkes Dichtung ein ewiges Wiederkehren:

Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.

Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte;
wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau’s?
Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.
Wehe -: abwesender Hammer holt aus!

Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung;
und sie fuhrt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne,
das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt.

Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung,
den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne
will, seit sie lorbeern fühlt, daß du dich wandelst in Wind.54

Es lässt sich (wie letztendlich immer) darüber streiten, ob Rilke jenes berühmte „Wolle die Wandlung“ als einen Aufruf verfasst und verstanden hat, in einer wüstenähnlichen Wirklichkeiten eine menschliche Düne zu sein, kindlich-künstlerisch mit dem Sand der Werte zu spielen und im Wind der Mächte, Diskurse und der ewigen Wiederkehr zu tanzen. Sicher ist jedoch, dass diesem Ausruf ein stetiger Widerhall passender Pendants in Kunst und Wissenschaft gefolgt ist und dass sich Spuren und Fragmente eines postmodernen Lebens als Pilgerreise heutzutage überall, besonders im Umgang mit Kunst, Philosophie und Religion, aber auch in unserem alltäglichsten Verhalten finden lassen. Und so schließt meine Arbeit genau wie sie begonnen hat mit einem der vielen philosophischen Ebenbilder jenes „Wolle die Wandlung“:

Gib dem Vorzug, was positiv ist und multipel, der Differenz vor der Uniformität, den Strömen vor den Einheiten, den mobilen Anordnungen vor den Systemen! Glaube daran, daß das Produktive nicht seßhaft ist, sondern nomadisch!55

FU Berlin, Sommersemester 2009

1 Vgl. Zygmunt Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen. Essay zu postmodernen Lebensformen. Hamburg: Hamburger Edition 1997. S. 140ff.

2 Ebd. S. 149.

3 Rainer Maria Rilke: „Das Stundenbuch“. In: Werke. Kommentierte Ausgabe in 4 Bänden. Bd. 1: Gedichte 1895 bis 1910. Hrsg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski, August Stahl. Frankfurt a. M./Leipzig: Insel 1996. S. 153-252.

4 Zygmunt Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen. S. 137.

5 Ebd. S. 138.

6 Vgl. ebd. S. 136ff.

7 Ebd. S. 140.

8 Vgl. ebd. 142f.

9 Ebd. S. 134.

10 Vgl. ebd. S. 144.

11 Ebd. S. 144.

12 Ebd. S. 130.

13 Ebd. S. 133.

14 Rainer Maria Rilke: „Über Kunst“. In: Werke. Bd. 4: Schriften. S. 114.

15 Ebd. S. 114f.

16 Vgl. z.B. S. 160, S. 171, S. 175, S. 185, S. 189, S. 202f., S. 214, S. 244.

17 Rainer Maria Rilke: Gesammelte Werke. Edition Lempertz 2005. S. 253-322.

18 Ebd. S. 270f.

19 Es gibt unzählige Arbeiten, welche die Beziehung Rilkes zu Nietzsche thematisieren und diskutieren. Für diese Untersuchung spielt es jedoch nur eine geringe Rolle, in wie weit Nietzsches Schriften direkten Einfluss auf das Stundenbuch hatten. Mir ist es wichtiger, die Parallelen und gemeinsamen Nenner im Bezug auf Weltbild und Lebenseinstellungen einer postmodernen Pilgerschaft hervorzuheben. Diese gemeinsamen Nenner sind, zumindest was Die Geburt der Tragödie und Also sprach Zarathustra betrifft, deutlich erkennbar.

20 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Stuttgart: Reclam 1994. S. 25f.

21 Ebd. S. 25.

22 Vgl. Zygmunt Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen. S. 136f.

23 Vgl. dazu die Beschreibungen der Stadt im Buch von der Armut und vom Tode, S. 234ff.

24 Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Rhizom. Berlin: Merve 1977. S. 21f.

25 Vgl. ebd. S. 25.

26 Interessanterweise präsentieren sich diese beide Gedichte als Anfang und Ende des Buches von der Pilgerschaft ebenfalls als Zyklus, in dem letztendlich kein Anfang und Ende bestimmt werden kann. So lassen sie sich als zwei Hälften eines nahtlos ineinander übergehenden Kreislaufs (von Wald zur Wüste, von Rhizom zum Baum) zusammenfügen.

27 Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie. Hamburg: Eva 1991. S. 204f.

28 Ebd. S. 55.

29 Ebd. S. 7.

30 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. S. 12: „[…] was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist.“

31 Vgl. z.B. S. 193 oder S. 223.

32 Vgl. z.B. S. 208f., 219, 245.

33 Vgl. Rainer Maria Rilke: „Marginalien zu Friedrich Nietzsche“. In: Werke. Bd. 4: Schriften. S. 161-172.

34 Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie. S. 18.

35 Ebd.

36 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. S. 190.

37 Neue Jerusalemer Bibel. Hrsg. von Alfons Deissler, Anton Vögtle. Stuttgart: Katholische Bibelanstalt 1980. S. 1133. [Die ursprüngliche Formatierung wurde an das Format dieser Arbeit angepasst.]

38 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Stuttgart: Reclam 1993. S. 41.

39 Die „Armut“ als eine Schlüsselmetapher des dritten Buches unterstreicht die erhabene Offenheit und Potenzialität Gottes; Armut und Heimatlosigkeit sind die Vorraussetzung für eine ewige Metamorphose, vgl. S. 244ff und S. 249.

40 Rainer Maria Rilke: Marginalien zu Friedrich Nietzsche. S. 163.

41 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. S. 11.

42 Gerade die Konstruktion eines Gottes ist ein häufig wiederkehrendes Moment in den ersten beiden Büchern des Stundenbuchs, vgl. z.B. S. 170 oder S. 183.

43 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. S. 148.

44 Ebd.

45 Vgl. z.B. S. 162, S. 194, S. 214, S. 217, S. 238, S. 249.

46 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. S. 26.

47 Rainer Maria Rilke: Über Kunst. S. 118.

48 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. S. 119.

49 Ebd. S. 103.

50 Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie. S. 42. Siehe auch S. 22: „Was das Tragische definiert, ist die Freude am Vielen, die vielfältige Freude. […] Tragisch bezeichnet die ästhetische Form der Freude […].“

51 Friedrich Nietzsche: Geburt der Tragödie. S. 101.

52 Vgl. Zygmunt Bauman: Flaneure, Spieler und Touristen. S. 162. Ebenso Gilles Deleuze, Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974. S. 7ff.

53 Gilles Deleuze, Félix Guattari: Rhizom. S. 7.

54 Rainer Maria Rilke: „Die Sonette an Orpheus. Zweiter Teil, VII. Sonett“. In: Werke. Bd. 2: Gedichte 1910 bis 1926. S. 263.

55 Michel Foucault: „Der ‚Anti-Ödipusʻ – Eine Einführung in eine neue Lebenskunst“. In: Ders.: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve 1978. S. 229.

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