In jeder Ausgabe stellen wir Kunstschaffenden folgende Frage:
Gleich von mehreren Seiten wird von der Wissenschaft über Kunst gesprochen. Die Philosophie meldet sich zu Wort, die Kunstwissenschaften, die Psychoanalyse und so fort. Assoziationen zum Werk werden zu Theoriegebäuden, die sich am Ende eines theoretischen Rundganges vielleicht im Werk eines Künstlers reflektieren. Kann das auch andersherum passieren? Oder folgt die Theorie immer der Praxis? Gibt es einen Einfluss der Wissenschaft auf die Kunst, Implikationen, ein Band zwischen Wissenschaft und Kunst?
Uns interessiert an dieser Stelle, wie Sie (wenn Sie das denn tun) sich selbst in diesem (Spannungs-)Feld verorten und wie Sie ganz persönlich den Umgang der Wissenschaft mit der Kunst beschreiben würden.
Für die Beantwortung hat der jeweilige Kunstschaffende eine Seite Platz und kann sich die Textform aussuchen. Diesmal:
Laurent Chétouane (Theaterregisseur und Choreograf)
1973 in Angouléme (Frankreich) geboren, studierte zunächst Ingenieurswissenschaft, bevor er an an der Sorbonne Theaterwissenschaft und dann Theaterregie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main studierte. Seit 1999 arbeitet Laurent Chétouane als freier Regisseur europaweit an verschiedenen Theaterhäusern. Die nächste Premiere Nora oder ein Puppenheim (Ibsen) findet am 27. August am Nationaltheatret Oslo statt.
Website: www.laurentchetouane.com
Position und Perspektive
Ich kann nicht sagen, dass es eine Disziplin an sich gibt, die für mich wichtig wäre. Es geht eher um Theoretiker, die mir helfen zu denken. Beziehungsweise die mich begleiten, mich dazu bringen, formulieren zu können, was ich empfinde, vielleicht ahne. Es geht vielleicht eher um Begegnungen mit Konzepten, die geeignet sind für das, was ich suche. Es sind immer Autoren, auf die ich gerne zurückgreife, wenn ich mich einsam fühle. Es sind Deleuze, Foucault, Derrida, Lacan. In letzter Zeit habe ich Spinoza angefangen zu lesen. Es sind Freunde, da sie einen unterstützen, wenn man glaubt, dass man irrt.
Die Position des Analytikers ist bei mir nur eine Zwischenposition, eine notwendige Etappe. Ich muss analysieren können was ich da gemacht habe, um weiter kreieren zu können. Da helfen mir diese Theoretiker. Es gibt auch eine Lebenspraxis, eine Lebensethik, die in die Probenarbeit einfließt. Zum Beispiel während Tanzstück #4 habe ich Roland Barthes gelesen besonders seinen Unterricht am College de France mit dem Titel Comment vivre ensemble. Er benutzt dadrin das Konzept der „idiorythmischen Gruppe“, was mir hilft, weiter zu denken, da ich merke, dass es weiter denkt, was die Tänzer und ich versuchen hinzustellen. Er [Barthes] ist plötzlich ein Freund, ein Begleiter, der uns sagt: „Ja, was ihr sucht, hat mich auch interessiert, es war sogar eine Utopie, die ich hatte“. Wir teilen plötzlich das gleiche Begehren. Seine Gedanken zu lesen hilft mir/uns, konkrete Formen zu finden, die die Zuschauer dann erleben werden. Theorien sind potentielle Lebensmöglichkeiten. Inspiration für den Geist. Sogar Poesie.
Ich analysiere sehr gerne Bühnenprozesse, Darstellungssysteme und welche Präsenzmechanismen von Schauspielern, Tänzern benutzt werden, ohne dass sie sich dessen bewusst werden. Vielleicht sehe ich einen Großteil meiner Tätigkeit darin, die Performern bewusster darüber zu machen, was sie auf der Bühne tun. Ich liebe es Performer zu sehen, die mit ihrem Können denken.
Man kann mit einem Körper denken, mit einer Bewegung denken. Ich muss nur sehen, dass der Performer sein Können benutzt, von diesem Können Gebrauch macht. Es reicht dafür nicht, dass er sich gut bewegen kann. Ich muss sehen, dass er ein Verhältnis hat, zu dem was er kann. Er bringt sein Können bewusst ins Spiel. Er sieht, was er tut und zeigt mir, dem Zuschauer, dass er sieht, was er gerade veranstaltet. Dadurch nimmt der Performer eine Position gegenüber dem ein, was er kann. Vielleicht suche ich einen ethischen Performer. Und für mich beginnt Ethik, wenn man darüber nachdenkt, was man tut. Ich arbeite an einer Ethik der Performance, glaube ich. Deshalb sind Philosophen für mich so wichtig. Sie bremsen. Stellen infrage. Hinterfragen. Die Performer, die mit mir arbeiten, müssen bereit sein, sich zu hinterfragen. Dürfen nie sicher sein. Sondern im Werden bleiben. Ich mag es nicht zu sehen, wenn ein Performer etwas hat oder ist. Ich will sehen, dass er für einen Augenblick zu etwas wird, aber gleichzeitig sofort zu etwas anderem. Eine Dauertransformation. Die Zeichen sind nie fest, sie fließen immer. Da knüpfe ich natürlich an Deleuze oder Bergson an. Die Theorie von Delueze zum Kino hat mich lange begleitet.
Ein Stück (er)lesen oder (er)fühlen
Lesen und intuitiver/assoziativer Zugang schließen sich nicht aus. Sie arbeiten zusammen. Jeder Zuschauer muss eine Lektüre finden. Er muss eine Eingangstür finden, und sich dann begleiten lassen, in der Reibung zwischen sich und der Performance. Es ist eine Dauerbewegung zwischen sich und der Performance. Eine Oszillation zwischen Bühne und Zuschauerraum. Man muss in sich hören, sehen, was geschieht, was für Gedanken entstehen, und sie weiter an die Performance reiben. Was entsteht dann? Bühne und Zuschauerraum sind zwei getrennte Welten, die sich gegenseitig ernähren. Aber sie bleiben doch getrennt von einander. Eigentlich sollte es im besten Fall laufen, wie wenn man ein Stück Musik hört. Mein bester Freund sagte mir zu Tanzstück #3: „Es war so schön.“ Dann habe ich in gefragt, was war so schön an dem Abend? Er antwortete: „Es ist schwer, über Musik zu sprechen!“ Ich fand die Antwort sehr interessant. Für ihn war der ganze Abend ein Stück Musik gewesen. Oder wirkte auf ihn wie ein Stück Musik. Wie liest man Musik? Wie wirkt Musik auf einen Zuhörer? Darüber streiten sich immer noch die Wissenschaftler…