Liebe Usende,
der Sommer ist vorbei, die Bäume werfen keine Schatten mehr; brauchen sie aber auch nicht, denn die Tage werden kürzer und kälter. Jetzt werden Frisbee und Fußball wieder gegen die freiwillige Lektüre getauscht, um sich beim Schein der Stehlampe ins Flohmarkt/IKEA-Mobiliar zu fläzen… Da die Semesterferien vorbei sind, wird auch die Wahl der Lektüre wieder etwas freier. Gerade die richtige Zeit, um einmal zu schauen, womit sich andere Studierende vorzugsweise beschäftigen.
Dass es hierfür ein großes Interesse gibt, zeigte die Reaktion auf unsere Pilotausgabe vom April 2010. Als Erwiderung unseres ersten Call for Notes erreichten uns mehr Hausarbeiten, als wir dachten. Aus dem gesamten deutschsprachigen Raum haben wir wunderbare Texte bekommen und auch die Bereitschaft, am intensiven Lektorat mitzuarbeiten, ist erfreulich hoch gewesen. Deshalb freuen wir uns, Euch Arbeiten aus verschiedenen Fachrichtungen von Studierenden aus Berlin, Gießen, Leipzig und Wien zur Lektüre anbieten zu können.
Die Resonanz überstieg unsere Erwartung, doch die von uns gewünschte Diskussion blieb leider aus. Wir hoffen, dass sie mit dem nun erweiterten Korpus an Arbeiten ins Rollen kommt! Die Plattform für eure Kommentare, Kritiken, Anregungen und Nachfragen an die Autoren ist die Website anwesenheitsnotiz.de. Hier finden auch all jene, die kein Printexemplar in der Hand halten, alle Arbeiten zum Nachlesen. Für den Winter haben wir uns vorgenommen, die Website auszubauen.
Neben unserer Rubrik „Position & Perspektive“, deren Fragen uns dieses Mal dankenswerterweise die Schriftstellerin Marica Bodrožić beantwortet, hat die Redaktion auch etwas Neues erdacht: „State of the Art“. Hier werden zwei ProfessorInnen eines Fachbereiches den neuesten Stand im selben, unter Berücksichtigung ihres eigenen fachlichen Schwerpunktes und persönlichen Blickwinkels, beschreiben. Wir wünschen uns, dass bei der Beschreibung einige aktuelle Kernpunkte des Fachbereiches, aber auch richtungsweisende Tendenzen eingefangen werden können. Wir bedanken uns bei Thomas Schramme (Hamburg) und Violetta Waibel (Wien), dass sie sich bereit erklärt haben, ins kalte Wasser der neuen Rubrik zu springen und den Stand der Dinge im Fachbereich Philosophie aus ihrer Sicht zu beschreiben.
Einen maßgeblichen Anteil an der Verbreitung der Zeitschrift und somit auch am Inhalt haben die Fachschaften zahlreicher Universitäten, die sich bereit erklärt haben, die Zeitschrift bei sich im Fachbereich zu verteilen und uns auf ihrer Website anzukündigen. Vielen Dank an Euch für eure großartige Hilfe.
Kommt gut durch den hoffentlich nicht wieder zu langen Winter.
Eure Redaktion
Inhaltliches Vorwort
Dem Autor der ersten Arbeit in diesem Heft, Simon Haasis, geht es um die Rezeption des Komponisten Johann Sebastian Bach durch die Vertreter der Neuen Musik, namentlich Arnold Schönberg und vor allem Anton Webern. Bach im Gewande des fortgeschrittensten Komponierens. Betrachtungen zur Ästhetik der Ricercar-Bearbeitung Anton Weberns ist ein musikwissenschaftlicher Abriss der Bach-Rezeption des 19. Jahrhunderts mit genauem Blick auf das Werk Anton Weberns und setzt sich mit einem Begriff der Tradition auseinander, der eine Ästhetik der Bearbeitung einschließt, vom Nachspielen abrückt und Möglichkeiten reflektiert, Musikstücke zu verstehen, zu erforschen und für die Nachgeborenen fruchtbar zu machen.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Christoph Hümmers Artikel Lars von Triers ,Ring‘-Inszenierung für die Bayreuther Festspiele 2006. Was macht ein Regisseur, dessen Metier eigentlich der Film ist, mit einem monumentalen Bühnenwerk wie Richard Wagners Ring der Nibelungen? Der dänische Regisseur hatte sich für die Bayreuther Festspiele 2006 verpflichten lassen, brach sein Engagement jedoch aus technischen, finanziellen und schöpferisch-kreativen Gründen vorzeitig ab. Stil und Methoden Lars von Triers künstlerischer Arbeit werden hervorgehoben und ermöglichen so im Analyseteil einen Zugang zum Blick Lars von Triers auf Wagners musiktheatralisches Werk.
Der Artikel keine werke mehr. Eine erste Annäherung an Jean-Luc Nancys Begriff der entwerkten Gemeinschaft ist Marcus Quents intensive Auseinandersetzung mit einem Kerngedanken der philosophischen Theorie Jean-Luc Nancys, welche die Möglichkeiten von Gemeinschaft und Miteinander befragt. Ausgehend von den „gescheiterten ‚Kommunismen‘ unserer Zeit“ widmet sich dieser Beitrag der von Nancy vorgeschlagenen Weise, Sein zu denken und ist zudem eine Auseinandersetzung mit dem Philosophen und dessen „Schreib-Bewegung“.
Im Kontext der philosophischen Erkenntnistheorie spannt Sarah Ambrosi um den Begriff der Diagrammatologie in ihrem Artikel Projektionen. Diagrammatologie als Theorie des strukturellen Zusammenhangs von Imagination, Operation und Wissen ein Netz an erkenntnistheoretischen Überlegungen zu Strategien und Systemen der Orientierung des Menschen beziehungsweise des Subjektes in der Welt. Die Diagrammatologie befasst sich mit Prozessen des Sichtbarwerdens und -machens im Zusammenhang mit dem Denken und blickt auf die Kraft der Imagination.
Sara Melchior betrachtet eine Performance, die auf flexible Weise Orientierungspunkte setzt und verschiebt: Raumstrukturen in Maria La Ribots Performancesammlung Panoramix ist eine Untersuchung der performativen Raumschaffung durch die Interaktion der spanischen Künstlerin Maria La Ribot mit den Zuschauenden in einem Galerieraum. Die Autorin wendet die Gedanken zum Glatten und zum Gekerbten von Gilles Deleuze und Félix Guattari produktiv auf ihren Untersuchungsgegenstand an.
Einen kommunikationstheoretischen Schwerpunkt setzt Dominik Wurnig in seiner analytischen Arbeit zur arte-Fernsehsendung Karambolage. In Kulturelle Identität – eine kommunikationswissenschaftliche Untersuchung der Repräsentation der kulturellen Konstruktion Deutschlands und Frankreichs in der arte-Sendung Karambolage werden mit Hilfe der Theorien der Cultural Studies und des Symbolischen Interaktionismus kulturelle Identifikationsmuster in der symbolischen Repräsentation aufgezeigt und hinterfragt. So entsteht eine kritische Analyse der in der Sendung dargebotenen kulturellen Identität.
Der Beitrag Julien Thens thematisiert das artifizielle Konstrukt der Erzählerstimmen in einer Erzählung Robert Musils. In Ein Flüstern im Rauschen. Zur Amsel von Robert Musil bringt der Autor eine erzähltheoretische Analyse der Amsel in Zusammenhang mit den (Marx’schen) Gedanken zum Warenfetisch und dem Gebrauchswerts des Dinges, wobei es um politische Ökonomie als gestaltendes Element gesellschaftlicher Verfasstheit geht. Mit dem Schlagwort der Krise des Erzählens behandelt der Autor die „ästhetische Verschränkung von krisenhaftem Sein und Bewusstsein“ und die Weise ihres Niederschlags in Musils Erzählung.
Am Text arbeitet auch Daniel Teufel; er stellt mit Raum(schaffen) für Nullbürger und Antihelden. Die Perspektiven einer POETIK 2.10 am Beispiel René Polleschs die Frage nach den tragischen Wirkmöglichkeiten des Theatertextes, speziell des Werkes des Dramatikers und Regisseurs René Pollesch. Der Artikel behauptet mit Hilfe von u.a. Jean-Luc Nancy und Jacques Rancière das Wesen und die Politik einer mythophilen Menschheit und sucht nach möglichen Brüchen und Ausbrüchen auf der Ebene des alltäglichen und künstlerischen Erzählens.
In unserer Rubrik Position & Perspektive freuen wir uns in dieser Ausgabe über den Beitrag von Marica Bodrožić. Die im heutigen Kroatien geborene Schriftstellerin, die in Berlin lebt und auf Deutsch schreibt, stellt den Einfluss der Wissenschaft, auch der Naturwissenschaft, auf ihr Leben und Schreiben dar. Die Berührung im Unendlichen beweist eindrucksvoll, dass Poetik und Wissenschaft nicht immer Gegensätze sind. Neu in diesem Heft ist die Rubrik State of the Art, in der Professorinnen und Professoren den aktuellen Stand ihres Faches beschreiben. Den Anfang machen an dieser Stelle Thomas Schramme aus Hamburg und Violetta Waibel aus Wien, die aktuelle Tendenzen in der Philosophie aufzeigen.