Position und Perspektive: Marica Bodrožić

In jeder Ausgabe stellen wir Kunstschaffenden folgende Frage:

Gleich von mehreren Seiten wird von der Wissenschaft über Kunst gesprochen. Die Philosophie meldet sich zu Wort, die Kunstwissenschaften, die Psychoanalyse und so fort. Assoziationen zum Werk werden zu Theoriegebäuden, die sich am Ende eines theoretischen Rundganges vielleicht im Werk eines Kunstschaffenden reflektieren. Kann das auch andersherum passieren? Oder folgt die Theorie immer der Praxis? Gibt es einen Einfluss der Wissenschaft auf die Kunst, Implikationen, ein Band zwischen Wissenschaft und Kunst?

Uns interessiert an dieser Stelle, wie Sie (wenn Sie das denn tun) sich selbst in diesem (Spannungs-)Feld verorten und wie Sie ganz persönlich den Umgang der Wissenschaft mit der Kunst beschreiben würden.

Marica Bodrožić (Schriftstellerin)

1973 in Dalmatien (Kroatien) geboren, studierte Kulturanthropologie, Psychoanalyse und Slawistik in Frankfurt am Main. Ihre ersten Publikationen, Gedichte und Erzählungen, erschienen  u.a. in Lettre International und FAZ, das erste Buch Tito ist tot erschien 2002 bei Suhrkamp. Sie arbeitet ebenfalls als Übersetzerin aus dem Englischen und Kroatischen. Zuletzt erschien 2010 Das Gedächtnis der Libellen bei Luchterhand.

Marica Bodrožić legt mit Das Gedächtnis der Libellen eine eindringliche Liebesgeschichte über eine junge Frau vor, die den elementaren Schmerz des Verlustes verarbeitet und dabei in die eigene Vergangenheit eintaucht. „Es ist ein Buch von großer und origineller Humanität geworden“ (Burkhard Müller in der Süddeutschen Zeitung). (Quelle: Luchterhand)

Das Gedächtnis der Libellen. Roman, 254 S., 19,99€.

Die Berührung im Unendlichen

Wissen ist immer etwas, das neue Lücken öffnet, glücklich machende Lücken, aber auch hungrig klaffende und Verzweiflung (also auch Zweifel) ausstreuende Lücken – diese werfen dringliche und notwendige neue Fragen auf; unvermutete Perspektiven sind auf einmal da wie früher in der Kindheit eine Frucht auf dem Lande für mich da war. Ich habe mit den Büchern eine Brücke für mich gebaut. Früher. In der Pubertät zum Beispiel, da waren sie mir Schutz. In Bussen, in U-Bahnen, später, als das Erwachsenwerden sichtbar vollzogen, aber im Inneren noch wankelmütig unentschieden war (passenderweise in Zügen), waren die Bücher eine Art Schild und Schutz vor den sprechenden Körpern und fordernden Blicken der anderen. (Später kam die überraschende Entdeckung, dass mit jedem Buch eine eigene Sichtbarkeit manifestiert wurde, von der ich gar nichts wusste.)

In Büchern sind menschliche Lebenslücken das große Thema. Jeder faszinierende, literarisch in Text geformte Protagonist (und jeder Mensch an sich) hat von einer Lücke zu berichten. Jeder hat eine Lücke, einen geistigen oder seelischen Kern, von dem aus er die Welt bearbeitet und von ihr bearbeitet wird. Also habe ich in dieser Konsequenz immer daran geglaubt, dass jene, die Bücher schreiben und über das Leben nachdenken, auch theoretisch dem Leben auf den Leib rücken, dass also diese Menschen selbst zwingend eine solche Lücke haben müssen. Bis heute frage ich mich immer, wie einer wohl das geworden ist, was und wer er nun einmal geworden ist. Dabei greife ich oft (passenderweise unbewusst)  auf die Erklärungskoordinaten der Psychoanalyse zurück, die ich als sehr wichtig für mein Denken und Schreiben empfinde. Nach der Biologie war das für mich die zweite faszinierende Wissenschaft und diese hat meinen Blick nachhaltig geprägt und grundlegend verändert. Später kam etappenweise die Physik dazu und mit ihr die Entdeckung, dass physikalisches und metaphysisches Denken manchmal strukturelle Übereinstimmungen aufweisen – vor allem in den Metaphern, die mir als Lyrikerin besonders einladend vorkommen (,Lichtjahre’ ist ein Beispiel, das jedem einleuchtet, aber auch so ein Wort wie ,Beugungssteinchen’ empfinde ich als eine große Gabe in einem unendlich zu bestückenden Wort-Garten). Diese Erkenntnis beflügelte mich so sehr, dass ich in meinem Roman Das Gedächtnis der Libellen eine Physikerin ihren Beruf aufgeben und eine Schriftstellerin werden lasse (in der Hoffnung, die sich mit der meiner Protagonistin Nadeshda deckt: dass die Wörter neue Lichträume erschaffen können, die nachhaltig satt machen, satt im Sinne einer existentiellen Bedürftigkeit und in der aussöhnenden Betrachtung der Vergangenheit). Dabei erschien es mir besonders verlockend, die Emanzipation der Frau in eine Liebesgeschichte zu packen, die sich an der Stelle fortschreibt, an der André Breton sein berühmtes Buch Nadja enden lässt: im Inneren der Figur. Bei Breton muss Nadja vierzig Jahre ins Gefängnis, bei mir muss sie für immer ins Leben  und darf nicht hinter Gittern verschwinden (in sich selbst absterben). Dem Surrealismus sei Dank, dass die Widersprüche auch hier als Teil der sinnlichen Welt und des Körpers stehenbleiben dürfen.

Es gibt keine Wissenschaft, die mich langweilt. Alles, was über das Leben und die Kultur des Menschen in Erfahrung zu bringen ist, fasziniert mich, weshalb ich oft schon in einander scheinbar widersprechenden Begriffen das Denken zu fassen versucht habe. Eine Formulierung wie die der ,Mathematik der Seele’ kommt mir deshalb ganz natürlich vor. Gleichungen, Schnittmengen und Widersprüche sind  mir dabei immer als etwas dem Inneren des Menschen Zugehöriges erschienen, in etwa so, wie eine gesunde Hand auch zu einem Menschen gehört (eine kranke leider aber auch denkbar ist).

Ohne die Philosophie wäre die Existenz in ihrer Mehrdimensionalität streng genommen unaushaltbar für mich. Es gibt zu viele Deutungsmöglichkeiten. Das ist gut für die Kunst, so lässt sich das Weite wie ein Mosaik erobern, Buch für Buch, Text für Text wird es immer leichter den Widerspruch (auch im eigenen Menschsein) auszuhalten – ja, darin die Schönheit und die Herausforderung des Seins zu sehen; der Widerspruch ist eine existentielle Einladung zur Heiterkeit (nicht zur Arroganz). Vor dem gänzlich Schelmischen bewahrt mich aber im Schreiben immer wieder eine tiefe Ernsthaftigkeit (die ich zu verhindern suche, aber sie unterwandert mich). Vielleicht ist der Grund dafür ganz einfach: Ich habe zu viele Fragen. Und erhoffe mir wie jeder Mensch natürlich Antworten auf sie. Streng wissenschaftliche Antworten sind sehr anziehend, ich brauche sie immer wieder, aber sie genügen mir letztlich nicht. Logik hat eine große Anziehungskraft. Aber sie führt auch manchmal in die Irre. Durch Logik allein entsteht weder Wissenschaft noch Poesie. Die menschliche Hoffnung und Neugier, die geistige Unermüdlichkeit ist ebenso wichtig. Ein Schuster kann sie genauso haben wie ein Wissenschaftler oder ein Dichter.

Deshalb bin ich am Ende vielleicht nicht Kulturanthropologin geworden, was ich sicher gerne geworden wäre, wenn das Schreiben nicht die größere Versuchung dargestellt hätte – die Vielfalt des Ausdrucks hat etwas Tröstliches, von Buch zu Buch kann ich die Welt ein Stückchen erobern, Stimmen verteilen, auf Figuren umverteilen. Für das Schreiben habe ich mir verschiedene Formen ausgesucht, Lyrik und Prosa sind mir sehr wichtig, aber auch das Essayistische ist für mich unabkömmlich. In all diesen Verzweigungen kann der Körper seinen Platz bekommen, aber auch das Denken in meinem Kopf, das ich dann übersetze, also wie ein Boot übersetzen lasse, und die Ankunft ist dann verzeichnet, als Text, als Unterwegssein in einen Text. Erfahrungen aus dem eigenen Leben sind dabei genauso wichtig wie Erfahrungen aus Theater, Musik und Kino, aus der Lektüre etwa von Freud und C.G. Jung, aus W.G. Sebald und Milan Kundera, Julia Kristeva und Natalia Ginzburg. Ich liebe Widersprüche, in Menschen, Texten und in den Auskünften, die Geistes- und Kulturwissenschaften, aber auch die Naturwissenschaften aussenden. Jede Wissenschaft ist einer Entwicklung unterworfen, genauso wie wir Menschen es auch sind. Eine Wissenschaft, die für sich das Abgeschlossene einfordert, erscheint mir als langweilig, das ist wohl auch das Faszinierende am alten Griechenland, in dem die Mathematiker auch Philosophen waren. Deshalb ist auch die Formulierung der euklidschen Geometrie von der „Berührung im Unendlichen“ für mich keine abstrakt mathematische, es ist auch eine philosophische oder vielmehr poetische Umfassung eines bestimmten Weltausschnitts, der sich mit dem Imaginären verbündet. Das Imaginäre: eine Verlockung! Das ist mein Denkmetier. Von hier aus macht es Kopffreude, meine Sprachboote auszusenden. In jedem Lexikon ist ein Fischfang möglich, in jedem Namen, in jeder Betrachtung. Aber nur durch das Konkrete, durch ein Lächeln, durch ganz bestimmte Hände, die ganz anders sind als alle anderen Hände, durch das Spezifische, wofür die Wissenschaft im weitesten Sinne steht, wird eine Geschichte das, was wir interessant nennen. Das Allgemeine ist das Langweilige. Nur das Spezifische, das Singuläre ist anziehend, weil wir so etwas lernen können.

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