Zu allen Zeiten gibt es auch in der Wissenschaft Moden: Kernbegriffe, um die sich das akkumulierte Wissen gruppiert, Methoden, mit denen es zu Tage gefördert wird und Paradigmen, hinter die man nicht mehr zurückfallen sollte. Wir fragen an dieser Stelle zwei ProfessorInnen eines Faches nach diesem Stand der Dinge. Die doppelte Perspektive auf die Frage erlaubt es, auch unter Berücksichtigung des individuellen Forschungsschwerpunktes und der fachlichen Ausrichtung, Schnittmenge sichtbar zu machen, die den State of the Art beschreiben.
In dieser Ausgabe schreiben Thomas Schramme und Violetta L. Waibel.
Thomas Schramme
ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Philosophie der Medizin und die sich daraus ergebenden ethischen Fragen sowie Politische Philosophie. Von ihm ist u.a. erschienen: Gerechtigkeit und soziale Praxis. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2006.
Den gegenwärtigen Zustand der Philosophie zu beschreiben, ist nicht nur aufgrund der verzweigten und komplexen Themenvielfalt des Faches vermessen, sondern insbesondere, weil sie wie kaum eine andere Disziplin den „ewigen“ Fragen zugeneigt ist. Eine solche Momentaufnahme könnte suggerieren, wir befänden uns an einer bestimmten Stelle einer Entwicklung – dass etwa so, wie die Mediziner uns Erfolge in der Krankheitsbekämpfung ankündigen, die Philosophen behaupten könnten, die Lösung des Leib-Seele Problems stünde unmittelbar bevor. Dem ist nicht so, die großen philosophischen Fragen wie die nach dem Wesen der Wahrheit oder der Definition von Gerechtigkeit bleiben mit uns, sie werden behandelt, aber nicht gelöst. Um ein Problem zu lösen, muss man wissen, in welchem Falle man dabei erfolgreich ist oder worin der Zweck der Lösung besteht, doch das Nachdenken der Philosophie ist in diesem Sinne zweckfrei. Es kennt keinen Endzustand, an dem alles gesagt und getan wäre. Leider verdankt sich diesem Umstand die mitunter herrschende Unzufriedenheit gegenüber der Philosophie – doch darin liegt gerade ihr Witz und ihre Größe: Eben nicht triumphierend endgültige Antworten zu suggerieren, wo diese unmöglich sind.
Natürlich gibt es dennoch Moden in der Philosophie. Die Themen, welche gerade en vogue sind, lassen dabei immer auch Rückschlüsse auf die historische Situation zu. Denn die Philosophie ist in der Tat, wie es Hegel ausdrückte, ein Kind ihrer Zeit. Nehmen wir ein Beispiel: Globale Gerechtigkeit. Welche historische Verantwortung Individuen bzw. Nationen für das Elend einiger Menschen tragen, aber auch welche Pflichten sie zur Beseitigung des Leids haben, das wird derzeit in der Philosophie kontrovers diskutiert. Dieses Thema ist nun nicht vom Himmel gefallen, sondern ergab sich in einem historischen Kontext, der die Vernetzung lokalen Handelns mit globalen Auswirkungen in den Fokus der Aufmerksamkeit rückte.
Ein anderes Beispiel ist die gerade gehypte „experimentelle Philosophie“, die empirische Untersuchungen, etwa zu intuitiven moralischen Urteilen von Menschen, mit der philosophischen Analyse und Begründung verknüpfen will. Dieser Bewegung liegt daran, die verbreitete philosophische Methode des Gedankenexperiments, das zur Begründung von Urteilen häufig eingesetzt wird, auf ein tatsächlich empirisch nachvollziehbares Fundament zu stellen, also reale Experimente durchführen. Gäbe es keine Sehnsucht nach einer (vermeintlich) wissenschaftlichen Methode in der Philosophie, existierte vermutlich auch dieser Ansatz nicht.
Doch auch wenn die Philosophie als Fach, das primär durch das Nachdenken betrieben wird, dadurch dem historischen Kontext verhaftet bleibt, so entwickeln sich in den letzten Jahren Forschungsschwerpunkte nicht nur aus einem generellen, nahezu existentiellen Bedürfnis nach Klärung, sondern durch forschungspolitische Vorgaben. Denken kostet zwar nichts, aber die Denker eben schon. Da Philosophie daher auf den schnöden Mammon angewiesen ist, orientiert sie sich in ihrer Themenwahl – zumindest an den Universitäten – auch an dem Opportunen, will sagen: an dem Förderfähigen. Von diesem Blickwinkel aus betrachtet, ist die vermutlich wichtigste Entwicklung der letzten Jahre die Ausrichtung auf trans- und interdisziplinäre Forschung und Lehre, die meist in Gruppen bzw. im Verbund betrieben wird.
Für viele Kolleginnen und Kollegen stellt diese Entwicklung eine Herausforderung dar, aber bisweilen auch eine Zumutung, denn dem normalen philosophischen Betriebszustand kommt weder das Interdisziplinäre noch das Gemeinschaftliche entgegen. Die einzelne, genialische Denkerin in ihrem Kämmerchen, die einsam vor sich hindenkt und alle paar Jahre ihre Ergebnisse zwischen zwei Buchdeckel pressen lässt, ist nach wie vor ein verbreitetes Ideal. Diese Vorstellung hat auch ihre Berechtigung, wie ich finde. Letztlich sind Philosophen auch nicht anders als andere Menschen; sie haben verschiedene Vorlieben und Fähigkeiten; und viele grübeln eben lieber für sich allein und nicht im festgelegten Rahmen eines Forschungsprojekts. Hinzu tritt, dass sich die Qualität der philosophischen Arbeit wie kaum eine andere Tätigkeit an der Genauigkeit der Sprache und der Klarheit der Begriffe bemisst. Insofern graut es so manchem Philosophen vor der Kakophonie des disziplinenübergreifenden Diskurses. Die derzeit grassierende Forschungspolitik stellt daher eine nicht zu verleugnende Gefahr für eine traditionelle, legitime und erfolgreiche Arbeitsweise der Philosophie dar. Um es plakativ zu sagen: Ein Wittgenstein bekäme heute keine Professur.
Violetta L. Waibel
Violetta L. Waibel ist Professorin für Europäische Philosophie und Continental Philosophy an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Kant und der Deutsche Idealismus und die philosophische Frühromantik unter besonderer Berücksichtigung der theoretischen Philosophie und Ästhetik. Von ihr ist u.a. erschienen: Hölderlin und Fichte. 1794-1800. Paderborn: Schöningh 2000 und neuerdings (als Herausgeberin mit anderen): Fichte and the Phenomenological Tradition. Berlin: De Gruyter 2010.
Philosophie beschäftigt sich noch heute mit Platon und Aristoteles, Denker die vor mehr als 2000 Jahren lebten, sie beschäftigt sich mit Augustinus, ferner mit Kant und Hegel, und all den anderen Denkern des Deutschen Idealismus, eine Bewegung die vor 200 Jahren ihre Glanzzeit erlebte, endlich studiert sie auch Nietzsche, Kierkegaard, Heidegger, Wittgenstein. Jahrtausende, Jahrhunderte das immer gleiche, bereichert durch wenige neue Glanzlichter unter den Denkern des Abendlandes?
Bleibt die Zeit stehen in der Philosophie? Der immer gleiche Kanon der immer gleichen Schriften, der ewig großen unter den Denkern der Vergangenheit? Oder sieht die Philosophie auch auf die Neuerungen, die in der Gesellschaft vor sich gehen?
Schon allein die Beschäftigung mit der Tradition der Philosophie scheint nur eine immer gleiche zu sein. Jede Zeit hat ihre Weise, sich an den Denkern der Vergangenheit zu orientieren. Philosophiegeschichte ist nicht, sie wird je neu geschrieben, unter veränderten Fragestellungen, veränderten methodologischen Zugangsweisen, aktuellen Themenstellungen des Zeitgeschehens, deren Analyse mitunter wirkungsvoll im Rückgriff auf verwandte Themenstellungen in der philosophischen Tradition analysiert und bewertet werden kann. Das kulturelle Gedächtnis der Tradition, das in den Bibliotheken zwischen Buchdeckeln schlummert, wartet auf den neugierigen, kreativen Leser, der den Buchstaben im Dialog mit dem Wissen über Tradition und vergangenen Zeitkontext aus der aktuellen Jetztperspektive neues Leben einhaucht.
Unter den zahlreichen Teilbereichen, die die Philosophie seit jeher bearbeitet, wie Ontologie und Metaphysik, Erkenntnistheorie, Philosophie des Geistes, Moral- und Rechtsphilosophie, Sozialphilosophie, Philosophie von Kunst und Ästhetik, seit wenigen Jahrzehnten die philosophische Genderforschung, die kein Äquivalent bei den großen Denkern der Vergangenheit hat, sind auch ganz neue Bereiche zu finden, wie die seit einem Jahrzehnt boomende Medienphilosophie und die Kulturphilosophie. Das spiegelt sich auch darin wider, dass eine ganze Reihe neuer Professuren für diese Bereiche an verschiedenen Universitäten in Deutschland, Österreich und anderswo eingerichtet wurden.
Die philosophische Forschung zur Ästhetik und Kunsttheorie beschäftigt sich mit der Vergangenheit ebenso, wie sie auf die jüngsten Tendenzen acht hat, die auf den kleineren und größeren Bühnen der Theater, Opern und Festspielhäuser, den Räumen der zeitgenössischen Performances, den Museen und Ausstellungsprojekten zur Kunst der Tradition und der Gegenwart durch die avantgardistischen Vertreter der Kunst stattfinden. Ringvorlesungen, zu denen Kolleginnen und Kollegen aus zahlreichen Universitäten eingeladen werden, die an den fraglichen Themen arbeiten, sind eine hervorragende Möglichkeit, sich und die Studierenden über die neuesten Entwicklungen zu informieren.
Krankheit und Tod, Themen, die die Gesellschaft seit jeher gerne verdrängt und früher an die Kirchen delegierte, heute den Bestattungsinstituten überlässt, werden in jüngster Zeit nicht nur vermehrt künstlerisch verarbeitet und reflektiert, sondern auch in zahlreichen ethischen und kulturphilosophischen Projekten und Untersuchungen aus der Verdrängung geholt.
Seit etwa zwei Jahrzehnten hat die Philosophie der Gefühle die von Rationalität, Vernunft und exakter Erkenntnis beherrschte Philosophie eingeholt. Das Verhältnis von Emotion und Kognition in der Philosophie zu erforschen, ist auf empirische Ergebnisse der psychologischen und neurologischen Forschung angewiesen, aber die Philosophie trägt Wesentliches dazu bei, das neue Selbstverständnis des Menschen aufgrund der neueren Ergebnisse bewusstseinsphänomenologisch zu deuten und für das Selbstverständnis des Menschen als einem ebenso abhängigen wie selbstbestimmten Wesen fruchtbar zu machen.
Die freie Selbstbestimmung des Menschen, das große Thema der Philosophie der Neuzeit seit Kant, ist in jüngster Zeit hart angegriffen worden. Hatte schon Freud gezeigt, wie wenig der Mensch Herr im eigenen Hause ist, so gelang es der neurologischen Forschung jüngst immer wieder, die Freiheit des Menschen radikal in Frage zu stellen oder gar zu behaupten, dass deren Nichtexistenz nun endgültig bewiesen sei. Sucht man nach Argumenten gegen diese medienwirksamen Thesen, so lohnt es sich, sich in die Schriften zum Thema der reichen Tradition der Philosophie zu vertiefen. Die Tradition bietet einen Fundus von unterschiedlichsten Antworten auf die seit je kontrovers geführte Debatte um die Freiheit. Philosophie sucht das intellektuelle Herkommen für den Menschen von Heute zu erklären, das uns seit langem und noch immer prägt. Philosophie ist ein Dialog von Vergangenheit und Jetztzeit.