Liebe Lesende,
seit neun Jahren und zehn Heften präsentieren wir voller Stolz studentische
Arbeiten aus der Geistes- und Kulturwissenschaft. Anlässlich dieses
ersten Jubiläums können wir rück- und vorausblickend sagen, dass wir
noch immer hinter dem Gründungsgedanken stehen: Wir finden, dass
Studienarbeiten innovative, spannende oder querdenkerische Ansätze
vertreten und absolut lesenswert sein können.
Das mitternachtsblaue Heft 10 vereint exquisite 0,0013816130332163 % der
potenziellen Hausarbeiten* – sechs Beiträge – die Tapferen, die sich zu
Recht gegen die Schublade gesträubt haben.
* Die Zahl der potenziellen Hausarbeiten errechnet sich wie folgt: Im
Hochschuljahr 18/19 verzeichnet das Statistische Bundesamt exakt
340.127 StudentInnen der Geisteswissenschaften und 94.148 StudentInnen
der Kunst und Kunstwissenschaft an deutschen Universitäten.
Wenn wir davon ausgehen (künstlerische Rechenfreiheit), dass jede
und jeder immatrikulierte StudentIn in diesem Jahr auch mindestens
eine Arbeit à 15 Seiten verfasst hat, kommen wir auf satte 434.275 Arbeiten,
6,5 Millionen Seiten und somit rund 10.422.600.000 Zeichen
(großzügige Ränder und Zeilenabstände eurerseits eingeschlossen)!
Aber genug davon, bevor uns schwummrig wird – war ja schließlich
kein Versehen, dass wir »nix mit Zahlen« studiert haben. (Das stimmt nicht ganz – shout out to Elli!)
Vier der Beiträge dieser Ausgabe haben einen klaren literaturwissenschaftlichen
Schwerpunkt – allerdings sind wir offen für Einreichungen
aus allen Fachbereichen der Kultur- und Geisteswissenschaften, wie der
sozialpädagogische Einblick in die Arbeit von Jugendberufsagenturen
und die Suche nach dem Elefanten Abul Abaz in einem historischen
Abriss beweisen. In unserer Rubrik »State of the Art« richten wir den
Blick auf den Exzellenzcluster »Matters of Activity« im Gespräch mit
Deborah Zehnder – und haben auch weiterhin studentische Projekte im Auge: diesmal das Berliner Studierendenmagazin kunst b. Anlässlich der
Jubiläums-Ausgabe wollen wir auch auf das neu angelegte Archiv auf unserer
Website verweisen: Alle bisherigen Ausgaben der anwesenheitsnotiz
finden sich in ihrer vollen Farbenpracht als PDF mit Textsuchfunktion
unter https://anwesenheitsnotizen.wordpress.com/.
Wir freuen uns sehr, die neuen Redaktionsmitglieder Lena Sophie Weyers,
Ioanna Kostopoulou und Mats Jonathan Siekmann vorzustellen, die die
anwesenheitsnotiz seit dieser Ausgabe mitgestalten – und bedanken uns
herzlich bei Daniel Macleod für die Illustrationen.
Und an all jene, bei denen die Lektüre dieses Heftes Interesse an unserem
Projekt geweckt hat – ob Kommentare, Vorschläge oder Interesse, an der
nächsten Ausgabe mitzuwirken – ob als BeiträgerIn, als MitarbeiterIn
oder in Form finanzieller Unterstützung für den nächsten Druck (denn
wer dieses Heft in den Händen hält weiß, dass es kostenlos ist) – schreibt
uns einfach eine Mail an anwesenheitsnotizen@gmail.com!
Wir wünschen viel Spaß beim Lesen der neuen Ausgabe – und hoffen,
dass auf zehn Hefte auch zehn weitere folgen werden!
Die Redaktion
INHALTLICHES VORWORT
Carl Schüppel: Nomen elefanti erat Abul Abaz. Über die
Deutung und Bedeutung eines Geschenks.
Carl Schüppel nimmt in seinem Beitrag ein außergewöhnliches Geschenk
in den Blick: Einen prächtigen Elefanten soll der abbasidische Kalif Harun
ar-Raschid an den Hof Karls des Großen übersandt haben. In einem
historischen Abriss bettet der Beitrag das Geschenk ein in ein Netzwerk
strategischer Überlegungen, um die Beziehungen zwischen christlicher
und muslimischer Großmacht zu stabilisieren.
Schüppel versteht das Geschenk als politischen Schachzug mit »Zeichen-
Funktion« – nicht zuletzt, da es sich mit dem Elefanten um ein symbolträchtiges,
kulturgeschichtlich höchst aufgeladenes Tier handelt. Im Angesicht
seiner »Seltenheit und Kostbarkeit« verhalf Abul Abaz Karl nicht
nur zu höherem, imperialem Ansehen – es adelte auch seinen Geber, den
abbasidischen Kalifen, und kann daher womöglich auch als politischer
Überbietungsversuch gelten.
Inga Hesse: Mord im locus amoenus. Die Behandlung von amor
hereos und petrarkistischem Liebesmodell in den drei Eklogen
Garcilaso de la Vegas.
Inga Hesse analysiert die Verschmelzung diverser Traditionen der Liebeslyrik
in den Eklogen Garcilaso de la Vegas, einem einflussreichen
spanischen Poeten des Siglo de Oro im 16. Jhd. Nachvollzogen wird der
Einfluss des Petrarkismus und der mittelalterlichen cancionero-Tradition,
die Einzug in Garcilasos Liebeslyrik erhalten haben – und deren
Spuren in den Werken europäischer Autoren durch die Renaissance bis
in die Frühe Neuzeit nachvollziehbar sind. Doch Garcilasos Adaption
des Petrarkismus, so die Kernthese der Arbeit, weist darüber hinaus die
Unzulänglichkeiten dieses platonischen Liebesbestrebens auf. Was, wenn
die Geliebte nicht zurücklieben will oder kann? Intelligentia, voluntas
und memoria des Liebenden werden gefährlich eingeschränkt. Während Petrarca riet, den Gefühlen durch Lesen und Schreiben von Liebesgedichten
Raum zu verleihen, integriert Garcilaso sexuelle, sinnliche oder
brutale Elemente in seine Texte – und weist in seinen Eklogen anhand
des Beispiels dreier Schäfer in einem locus amoenus die Unpraktikabilität
des petrarkistischen Liebesmodells auf: Alle drei Schäfer sind unglücklich
verliebt und müssen einen Weg finden, um ihre Geliebte zu vergessen
… von Männern mit feuchten und Frauen mit trockenen Gehirnen.
Lara Tarbuk: Prinz Friedrich von Homburg – (k)ein »märkischer
Hamlet«? Zu den intertextuellen Beziehungen zwischen
Heinrich von Kleists Prinz Friedrich von Homburg und William
Shakespeares Hamlet.
Lara Tarbuk geht in ihrem Beitrag den intertextuellen Bezügen zwischen
Heinrich von Kleists Prinz Friedrich von Homburg und William Shakespeares
Hamlet nach und arbeitet heraus, dass sich Kleists Drama in der
Auseinandersetzung mit der Vorlage als Kommentar zu der zeitgenössischen
politischen Situation lesen lässt. Während Shakespeares Protagonist
von Zweifel und Zaudern geprägt ist, zeichnet sich der Prinz Friedrich
von Homburg dadurch aus, dass er die Initiative ergreift. In Abgleich
zu Adam Müllers Shakespeare-Fragmenten zeigt Tarbuk, dass Kleist mit
seinem »vaterländischen Schauspiel« den Nerv der Zeit getroffen hat:
Durch das eigenmächtige Handeln seines Protagonisten distanziert er
sich von dem zaudernden Träumer Hamlet und stellt eine potentielle
politische Erlöserfigur ins Zentrum seines Dramas, in einer Zeit, in der
Forderungen nach einem Freiheitskampf gegen die napoleonische Herrschaft
populär wurden.
Kristina Werth: Jugendberufsagenturen im Kontext
der Jugendsozialarbeit. Bürokratieabbau auf Kosten
benachteiligter Jugendlicher?
Nach §1 Abs. 3 SGB VIII soll Jugendhilfe »junge Menschen in ihrer individuellen
und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen
zu vermeiden oder abzubauen«.
Kristina Werth thematisiert in ihrem Beitrag die Einrichtung sogenannter
Jugendberufsagenturen, kurz JBA, welche sich aus der Bundesagentur
für Arbeit (BA), Jobcentern und öffentlichen und freien Trägern der
Kinder- und Jugendhilfe zusammensetzen. Hier nimmt sie besonders die
Perspektive benachteiligter Jugendlicher im Sinne der Ansprüche sozialpädagogischer
Jugendförderung in den Blick. Die aktuelle Praxis wird
kritisch hinterfragt, um schließlich die Frage beantworten zu können,
inwiefern das angestrebte Ziel der Jugendberufsagenturen – Jugendliche
nachhaltig in die Berufswelt zu integrieren – aus sozialpädagogischer
Perspektive erfüllt werden kann.
Karl Kelschebach: Bildungskritik in Robert Musils Roman Die
Verwirrungen des Zöglings Törleß.
Entschiedene Bildungskritik liest Karl Kelschebach in Musils Verwirrungen
des Zöglings Törleß: Im Roman über den jungen Internatsschüler
verberge sich ein dualistisches Realitätskonzept, dem die Schule nicht
gerecht zu werden vermöge – der Beitrag begibt sich auf die Suche nach
Antagonismen, in denen die eine Seite stets die Überhand hat. Dabei
kontrastiert Musils Törleß formal wie inhaltlich mit dem altväterlichen,
scheinbar wohlwollenden – und doch autoritären – Bildungsbegriff, den
er aufs Korn nimmt: Indem er etwa in Momenten des aufklärerischen,
kantischen Lichts immer das Dunkle, (auch sexuell) Begehrenswerte
aufscheinen lässt, oder das dröge Bildungsbürgertum parodistisch überzeichnet.
Der biographistischen Ausdeutung des Textes als Schulroman,
der es auf konkrete pädagogische Praktiken absieht, stellt Kelschebach
eine Interpretation der Bildungskritik im Törleß als über die Institution
Schule hinausreichende Gesellschaftskritik entgegen.
Eva Neu: »… daß er ein ›Finis‹ unter die Seiten schreibt«. Zur
Bedeutung des Todes für Erzählung und Roman bei Walter
Benjamin.
Einem bisher vernachlässigten Aspekt des vielbeachteten Aufsatzes »Der
Erzähler« von Walter Benjamin widmet sich Eva Neu in ihrem Beitrag:
Die Reflexion über den Tod führt die Autorin dabei zu einer ambivalenten
Beobachtung. Einerseits sei die Kulturtechnik des Erzählens für Benjamin
im Verfall begriffen – diese Diagnose knüpft an die Romantheorie
Georg Lukács’ an. Andererseits sei der Tod jedoch nicht nur Sujet, sondern
wichtiges, sinnstiftendes Strukturelement einer jeden Erzählung, sei
diese nun literarischer Art oder Ergebnis einer Betrachtung des eigenen
Lebens. Die Autorin beschreibt jedoch nicht nur diesen doppelten Boden
des benjaminschen Aufsatzes – sie zeigt auch auf, wie in Benjamins
Ausdeutung des Todes die Grenzen von Erzählung und Roman, von (biographischer)
Dichtung und realer Biographie überschritten werden. Dass
mit der Erzählung eben auch die Reflexion über den Tod aus der Gesellschaft
verschwindet, ist die Schlussfolgerung dieser engen motivischen
Verflechtungen, der Eva Neu bei Benjamin detailreich nachspürt.