Lara Tarbuk: Prinz Friedrich von Homburg – (k)ein »märkischer Hamlet«?

Lara Tarbuk: Prinz Friedrich von Homburg – (k)ein »märkischer Hamlet«?

Zu den intertextuellen Beziehungen zwischen Heinrich von Kleists Prinz Friedrich von Homburg und William Shakespeares Hamlet

1. Einleitung

Als den »märkische[n] Hamlet«[1] beschrieb Hans Werner Henze den träumerischen Prinzen aus Heinrich von Kleists um 1809 entstandenem Drama, der sich verfrüht in die Schlacht stürzt und dafür vom Kurfürsten zum Tode verurteilt wird. Auch heute noch vermag der Prinz Friedrich von Homburg Assoziationen an Shakespeares zögernden Königssohn zu wecken: »Eine Art deutscher Hamlet«[2] titelte die Südwest Presse nach der Premiere von Claus Peymans Inszenierung des Prinzen Friedrich von Homburg am 10.02.2017 am Berliner Ensemble. Wie sein Prinz als Hamlet, so wurde auch Kleist selbst immer wieder als deutscher Shakespeare gepriesen.

Diese intertextuellen Bezüge standen jedoch, wie viele andere, lange im Schatten der Vorstellung von Kleist als einem Solitär der Literaturgeschichte.[3] Benjamin Bennett räumt dem Drama eine Schlüsselstellung in der Geschichte des klassischen deutschen Dramas ein und erwähnt dabei auch die kontrafaktischen Bezüge zu Dramen Shakespeares, Goethes und besonders Schillers.[4] In ihren Studien zu Kleist und Shakespeare führt Meta Corssen die engen Beziehungen zwischen einzelnen Dramen auf eine geistig-seelische Verwandtschaft mit unbewusstem Einfluss zurück.[5] Für den Prinzen Friedrich von Homburg zieht sie, wie auch mehrere Interpreten nach ihr,[6] Shakespeares Komödie Measure for Measure als Vergleichsfolie heran. Erst Claudia Olks wegweisender Aufsatz setzt Kleists Drama zu Shakespeares Hamlet in Beziehung, zeichnet vor diesem Hintergrund die Entstehungsgeschichten in Kleist Briefen nach und legt den bestehenden intertextuellen Bezug überzeugend dar.[7]

Anhand struktureller Überschneidungen, übereinstimmender Charaktereigenschaften, gemeinsamer Motive und analoger Schauplätze wird deutlich, wie Kleists Text Shakespeares Drama explizit als Vergleichsfolie aufruft. Entscheidend ist dabei das als Tertium Comparationis fungierende Verhältnis der beiden Helden zur Tat, welches in beiden Dramen die Fragen nach dem richtigen Augenblick des Handelns aufwirft. Neben einer geteilten metatheatralen Reflexion der beiden Dramen, wie sie Claudia Olk bereits nachgewiesen hat,[8] tritt – so meine These – durch die spezifische Differenz zwischen Hamlet und Homburg die politische Dimension der verfrühten Tat in Kleists Drama zum Vorschein. Die nähere Bestimmung dieses Verhältnisses soll im Folgenden unter Rückgriff auf Adam Müller geschehen, der 1808 seine Überlegungen zu Hamlet im gemeinsam mit Heinrich von Kleist herausgegebenen Phöbus unter dem Titel Fragmente über William Shakespear veröffentlichte.[9]

Indem Kleist seinen Prinzen im Gegensatz zu dessen prominentem Vorläufer entschlossen zur Tat schreiten lässt, greift er bereits einen kritischen Aspekt des sogenannten »Hamlet-Fiebers« auf, den Ferdinand von Freiligrath 1844 in seinem bekannten Gedicht »Deutschland ist Hamlet« zum Politikum macht.[10] Eine derartige Übertragung der Handlungsunfähigkeit des Prinzen ins Politische findet sich auch in Adam Müllers Überlegungen zu Shakespeare wieder.[11] Sowohl Müllers als auch Kleists Hamlet-Rezeption findet erkennbar unter dem Eindruck der Schlachten von Jena und Austerlitz sowie der französischen Besatzung statt, sodass der politische Aufruf in ihren Werken besonders deutlich zu Tage tritt.[12] Die vergleichende Betrachtung dieser Konstellation soll zum einen den Bedeutungsaufbau von Kleists Prinz Friedrich von Homburg näher beleuchten und zum anderen einen Beitrag zur literarischen Hamlet-Rezeption in Deutschland bieten. Da die Frage nach der von Kleist rezipierten Übersetzung nicht abschließend zu klären ist, soll im Folgenden die Schlegel-Übersetzung von Shakespeares Tragödie als Textgrundlage dienen.[13]

2. Inhaltliche und strukturelle Übereinstimmungen

2.1. Hamlet und Homburg zwischen Wort, Traum und Wirklichkeit

Sowohl Shakespeare als auch Kleist bringen bereits im Titel ihrer Dramen die gesellschaftliche Stellung ihrer Protagonisten zum Ausdruck. Da der Prinz Friedrich von Homburg im engeren Sinne kein Königssohn ist, fällt die prominente Nennung des Prinzentitels umso stärker ins Auge. Die gesellschaftliche Position beider Protagonisten stellt dabei besonders einen Aspekt in den Vordergrund: den zukünftigen Anspruch auf den Thron. Während Hamlet dieses Recht von Geburt an innehat, sieht Homburg sich erst nachdem er die Nachricht vom vermeintlichen Tod des Kurfürsten erhält als dessen Nachfolger: »Der Kurfürst wollte, eh das Jahr noch wechselt, / befreit die Marken sehn; wohlan! Ich will der / Vollstrecker solchen letzten Willens sein!«[14] Neben dem Anspruch auf die Thronfolge eint die beiden Prinzen auch das familiäre Verhältnis zu den ihnen vorgesetzten Autoritäten: Beide sind vaterlos und sehen sich mit einem Stellvertreter in dieser Rolle konfrontiert. Das konkurrierende Verhältnis ist Teil der politischen Dimension der beiden Dramen.[15]

Was die beiden Helden jedoch im Kern verbindet, ist ihre Reaktion auf Herausforderungen, mit denen sie jeweils zu Beginn der Dramen konfrontiert werden. In den späten Nachtstunden begegnet Hamlet dem zuvor von der Nachtwache und seinem Freund Horatio gesehenen Geist auf einer Terrasse des königlichen Schlosses: »Räch seinen schnöden, unerhörten Mord«,[16] trägt ihm dieser auf. Doch schnell wird deutlich, dass Hamlet die Aufgabe des Rächers nicht mit sich vereinen kann und deshalb in seinen Monologen schwere Vorwürfe gegen sich erhebt:

Und ich,
Ein blöder schwachgemüter Schurke, schleiche
Wie Hans der Träumer, meiner Sache fremd,
Und kann nichts sagen, nicht für einen König,
An dessen Eigentum und teurem Leben
Verdammter Raub geschah. Bin ich ‘ne Memme?
Wer nennt mich Schelm? Bricht mir der Kopf entzwei?
(Hamlet, S. 69)

Anstatt die ihm aufgetragene Rache an Claudius zu vollbringen, weicht er immer wieder aus, stellt sie in Frage, täuscht den Wahnsinn vor, versucht die Schuld des Königs unter Beweis zu stellen und schreckt selbst im entscheidenden Moment, als er mit Claudius alleine ist und diesen schutzlos beten sieht, davor zurück, zu handeln. Damit steht ein Held im Zentrum des Dramas, der gerade dasjenige nicht tut, was gattungsgemäß von ihm erwartet wird, nämlich handeln. Die Frage nach dem Grund seines Zögerns und Zauderns hat insbesondere die ältere Forschung beschäftigt und lässt sich wohl nicht abschließend beantworten.[17] Näher bestimmen lässt sich jedoch die Art und Weise, in der er seiner Aufgabe wiederholt aus dem Weg geht. Über seine Situation spricht er unter dem Deckmantel des Wahnsinns mit anderen Figuren sowie in mehreren Reflexionsmonologen. Als Gegenentwurf zur Tat, die dem Melancholiker Hamlet immer wieder als Ausdruck der Schlechtigkeit der Welt erscheint, wählt er vor allem drei Bedeutungsfelder, auf die er die Tat metaphorisch überträgt: den Traum, das Schauspiel und das Wort. So entgegnet er Polonius in gespieltem Wahnsinn:

Polonius: […] Was lest Ihr, mein Prinz?
Hamlet: Worte, Worte, Worte.
Polonius: Aber wovon handelt es?
Hamlet: Wer handelt?
Polonius: Ich meine, was in dem Buche steht, mein Prinz.
Hamlet: Verleumdungen, Herr.
(Hamlet, S. 55)

Was hier noch in komischer Verkehrung erscheint, zieht sich als Gegenüberstellung durch das gesamte Drama. So lassen sich auch das Spiel im Spiel oder der Traum im weiteren Sinne in der Dichotomie von Wort und Tat fassen. Ob als Schauspieler, der in der Rede des Pyrrhus, den eigenen Racheauftrag nachfühlt, als Melancholiker, der sich im Traum vom »Drang des Ird’schen«[18] befreien will oder als Sohn, dessen »Wort’ ins Ohr wie Dolche«[19] dringen – immer wieder sucht Hamlet der Realität, die für ihn ganz und gar auf der sündigen Tat des Königspaares beruht, zu entfliehen, in eine fiktionale Gegenwelt des wirkenden Wortes, wie sie im Spiel im Spiel ihren prägnantesten Ausdruck findet. Wenn Hamlet diesem Prozess in seinen zahlreichen Monologen argumentativ und affektiv immer wieder nachgeht, stellt der Text durch die intensive szenische Introspektion des Protagonisten eine damals sehr neue Art literarischer Subjektivität in seinen Mittelpunkt, die an die Stelle der gattungsgemäß erwarteten Heldentat tritt.[20]

Eine derartige Flucht vor der Realität ist auch für Kleists Helden kennzeichnend. In seiner Traumvision schwebt dem Prinzen eine Verbindung von Liebesglück und Heldenmut vor, deren Verheißung er im Handschuh der Prinzessin Natalie erblickt. Die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, die Homburg im Laufe des Dramas zu überschreiten sucht, wird bereits in dieser Szene seitens des Kurfürsten entschieden gezogen, wenn er ihn abschließend zurückweist: »Im Traum erringt man solche Dinge nicht!«[21] Obgleich der Ablauf seines Traumes maßgeblich durch die Intervention des Kurfürsten beeinflusst ist, hat er seinen Ursprung im Charakter des Prinzen, der sich bereits vor dem Eingriff der Hofgesellschaft aus eigenem Streben nach Ruhm und Ehre einen Kranz windet. In diesem Sinne erscheint der Traum auch als dramatischer Ausdruck der Subjektivität des Prinzen. Dies ließe sich in ähnlichem Maße auch von Hamlets nächtlicher Begegnung mit dem Geist sagen. Sie wird zwar durch die vorangegangene Erscheinung des Geistes vor Horatio und der Nachtwache objektiviert,[22] jedoch gleichzeitig, etwa in Hamlets Begegnung mit der Mutter, wieder in Frage gestellt,[23] da diese den Geist nicht zu sehen vermag. Trägt jedoch Hamlet bereits vor dieser Begegnung den Gram auf seine Mutter und Claudius in sich, wie in der Szene I,2 deutlich wird, so lässt sich auch seine Begegnung mit dem Geist zu einem Teil auf ihn selbst zurückführen. In diesem Sinn lässt sich auch der Geist als bloße Verkörperung des ihn quälenden Racheauftrags verstehen. Der Einblick in die literarische Subjektivität des Helden steht so im Mittelpunkt beider Texte.

Für Kleists Prinzen von Homburg fallen die bis dahin getrennten Sphären von Traum und Wirklichkeit im Handschuh der Prinzessin zusammen: »Nur einen Handschuh, heftig, im Verfolgen, / Streif ich der süßen Traumgestalt vom Arm: / und einen Handschuh, ihr allmächtigen Götter, / Da ich erwache, halt ich in der Hand!«[24] Während der Befehlsausgabe vor der Schlacht ordnet er diesen der Prinzessin Natalie zu und füllt die zuvor thematisierte Lücke in seinem Traum. Gleichzeitig ist er dadurch jedoch erkennbar abgelenkt, weshalb die Handlungsanweisung des Feldmarschalls nur bruchstückhaft zu ihm durchdringt. Dass er diese nicht vollständig aufnimmt, ist demnach primär durch seine aus der unerwarteten Überschneidung von Traum und Wirklichkeit resultierende Ablenkung motiviert. Trotzdem fällt bereits in dieser Szene ein weiterer Aspekt ins Auge, der sich im Laufe des Dramas noch klarer herausstellt: die zugrundeliegende Diskrepanz zwischen Homburgs Selbstbild im Traum und seiner sozialen Rolle in der Wirklichkeit. Auch aus dieser Diskrepanz heraus lässt sich Homburgs auffällige Flucht in den Traum erklären:

Rittmeister von der Golz (nachdem er geschrieben).
Vom Platz nicht, der ihm angewiesen, weichen –

Feldmarschall (fährt fort).
Als bis, gedrängt von Hennings und von Truchß –

Der Prinz von Homburg (zum Rittmeister Golz, heimlich, indem er in seine Schreibtafel sieht).
Wer? lieber Golz! Was? Ich?
Rittmeister von der Golz.  Ihr, ja! Wer sonst?

Der Prinz von Homburg.
Vom Platz nicht soll ich –?
Rittmeister von der Golz. Freilich!
(Prinz Friedrich von Homburg, S. 21)

Die Rolle, die ihm der Feldmarschall in der Schlacht zugedacht hat, steht seinem Traum vom Heldentum diametral entgegen, schließt das heldenhafte Eingreifen vielmehr explizit aus. Mit Blick auf die Wortwahl des Prinzen lässt sich sein Verhalten demnach auch als Ablehnung der ihm zugedachten Rolle in der Schlacht lesen, mit der er sich nicht identifizieren kann. Als er, nachdem er Natalie den Handschuh übergeben hat, wieder in die Welt des Traumes tritt, ändert sich seine Haltung schlagartig: »(dann wendet er sich mit triumphierenden Schritten wieder in den Kreis der Offiziere zurück). Dann wird er die Fanfare blasen lassen!«[25] Es fällt auf, dass er mehrfach nur diesen Teil des Befehls wiederholt, der sich auf sein Eingreifen bezieht, das Warten jedoch mehrfach ausspart. Der Traum erscheint hier als Flucht vor der Wirklichkeit. Hat er in der Realität, wie in dieser Szene deutlich wird, dem Kurfürsten »zwei Siege jüngst verscherzt«[26] und dementsprechend auch keine herausragende Stellung im Schlachtplan erhalten, so sieht er sich in seiner Traumwelt bereits als Sieger, wie auch im den ersten Akt abschließenden Fortuna-Monolog zum Ausdruck kommt.[27]

Auch unmittelbar vor der Schlacht zeigt sich der Prinz zunächst nicht in der Lage, den Befehl aufzunehmen. Als Hohenzollern ihm den Auftrag ein weiteres Mal wiederholt, verliert sich der Prinz erneut in Gedanken:

Hohenzollern.
– Zum Glück nicht diesmal eben viel für dich.
Der Truchß und Hennings, die das Fußvolk führen,
Die sind zum Angriff auf den Feind bestimmt,
Und dir ist aufgegeben, hier zu halten
Im Tal, schlagfertig mit der Reuterei,
Bis man zum Angriff den Befehl dir schickt.

Der Prinz von Homburg (nach einer Pause, in der er vor sich niedergeträumt).
– Ein wunderlicher Vorfall!
(Prinz Friedrich von Homburg, S. 27)

Wieder flieht er genau dann in seine Traumwelt, wenn diejenigen Aspekte der Realität in den Vordergrund rücken, die mit dieser nicht vereinbar sind. Dass diese Diskrepanz im Verhältnis der Identität des Prinzen zu seiner Außenwelt begründet liegt, legt auch die Vorgehensweise Hohenzollerns nahe, wenn dieser ihn aus dem Traum zurückholen will: er nennt seinen Namen.[28] Wie Hamlet, der im Wort einen Ausweg aus der ihm auferlegten Pflicht zur Rache sucht, versucht auch Homburg der ihm zugedachten Rolle zu entgehen, indem er in die fiktionale Welt des Traumes tritt. Die Diskrepanz zwischen dem Helden und der ihm zugedachten Rolle ist für beide Dramen konstitutiv.

2.2. Die Grabszenen als dramatische Wendepunkte

Die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt des Handelns, wie sie beide Dramen bestimmt, konkretisiert sich auch für beide Helden auf ähnliche Weise, nämlich im Anblick des offenen Grabes.[29] Sei es unmittelbar auf der Bühne, wie bei Shakespeare, oder durch den emotional aufgeladenen Botenbericht, wie bei Kleist – die Tatsache, dass in beiden Dramen ein geöffnetes Grab eine entscheidende Rolle spielt, löste beim zeitgenössischen deutschsprachigen Publikum Skandale aus. So wurde die entsprechende Szene bei der Aufführung beider Stücke auch häufig gestrichen.[30] Gleichzeitig macht eine derartige Reaktion auf die entsprechenden Szenen die rezeptionsästhetische Besonderheit dieses Motives deutlich, weshalb auch an dieser Stelle im Hinblick auf die Ähnlichkeit der beiden Texte von einem bewussten Anklang des Kleist’schen Textes an seinen Prätext auszugehen ist.

Dass die Totengräberszene im Hamlet auch eine Abhandlung über das Wesen der Tat ist, zeigt sich noch vor Hamlets Aufritt, im Gespräch der beiden Totengräber über die Todesumstände Ophelias:

Erster Totengräber. Es muß aber se offendendo geschehen, es kann nicht anders sein. Denn dies ist der Punkt: wenn ich mich wissentlich ertränke, so beweist es eine Handlung, und eine Handlung hat drei Stücke: sie besteht in Handeln, Tun und Verrichten. Ergel hat sie sich wissentlich ertränkt.
(Hamlet, S. 139)

In grotesker Manier wird hier der Tod Ophelias, zu dem bis zum Schluss des Dramas keine näheren Umstände bekannt werden, mit der Frage nach der Tat und ihren Bedingungen in Verbindung gebracht. Die knappe, komische Antwort des Totengräbers, die die Reflexion über die Tat aus ihrer Definition ausspart, steht dabei in Kontrast zu Hamlets ernsten Monologen und ständigen Zweifeln.[31] Diesen Unterschied thematisiert auch Hamlet selbst, wenn er auf des Totengräbers Humor selbstironisch entgegnet: »So pflegt es zu sein; je weniger eine Hand verrichtet, desto zarter ist ihr Gefühl.«[32] Seine Begegnung mit dem Tod, die erkennbar Motive aus seinem »Sein oder Nichtsein«-Monolog im dritten Aufzug aufnimmt, gipfelt in der Betrachtung von Yoricks Schädel.[33] Dieser fungiert in der frühneuzeitlichen Emblematik wie in dieser Szene als Zeichen des memento mori.[34] Zusammen mit dem offenen Grab materialisiert sich darin für Hamlet die finale Konsequenz seines eigenen Zauderns, und das noch bevor er vom Tod Ophelias als der unmittelbaren Konsequenz seines Verhaltens erfährt. Damit in Einklang steht das in der Forschung häufig konstatierte veränderte Verhalten Hamlets in der darauffolgenden Begegnung mit der Trauergesellschaft:

Hamlet hervortretend:             Wer ist der, des Gram
So voll Emphase tönt? Des Spruches des Wehes
Der Sterne Lauf beschwört und macht sie stillstehen
Wie schreckbefangne Hörer? – Dies bin ich,
Hamlet der Däne. Springt in das Grab.
(Hamlet, S. 149.)

Bereits in seinen ersten Worten wird die Veränderung deutlich: In der Konfrontation mit dem Tod vollzieht sich im letzten Akt der Tragödie die Identifikation Hamlets mit der ihm auferlegten Rolle des Rächers, die er im Ausruf »Dies bin ich, Hamlet der Däne« hervorhebt. Und obgleich er bereits im nächsten Augenblick zu Laertes ins Grab springt, um mit ihm zu ringen, klingt auch hier seine Übertragung der Tat auf das Wort nach, wenn er seine Rolle immer noch über Akte des Sprechens und Ausdrückens definiert, wie in seiner Hervorhebung des laut tönenden Grames oder des beschwörenden Spruches deutlich wird.

Auch Homburgs Konfrontation mit dem offenen Grab stellt einen dramatischen Wendepunkt dar.[35] Anders als bei Shakespeare taucht das offene Grab bei Kleist nicht unmittelbar auf der Bühne auf, jedoch erscheinen die angsterfüllten Worte des Prinzen von Homburg (– einem preußischen General!), dem zeitgenössischen Publikum ähnlich eindrucksvoll:

Der Prinz von Homburg
O Gottes Welt, o Mutter, ist so schön!
Lass mich nicht, fleh ich, eh die Stunde schlägt
Zu jenen schwarzen Schatten niedersteigen!
Mag er doch sonst, wenn ich gefehlt, mich strafen,
Warum die Kugel eben muß es sein?
Mag er mich meiner Ämter doch entsetzen,
Mit Kassation, wenns das Gesetz so will,
Mich aus dem Heer entfernen: Gott des Himmels!
Seit ich mein Grab sah, will ich nichts, als leben,
Und frage nichts mehr, ob es rühmlich sei!
(Prinz Friedrich von Homburg, S. 55–56)

In seiner Verzweiflung fleht Homburg um sein nacktes Leben und ist bereit, sowohl seinen Anspruch auf Natalie als auch seine gesellschaftliche Stellung dafür aufzugeben.[36] Damit gibt er auf einen Schlag die beiden prägenden Attribute seines Traumbildes auf, nämlich die Liebesbeziehung zur Prinzessin sowie die gesellschaftliche Hochachtung. Dies betont auch Natalie, wenn sie dem angsterfüllten Prinzen den Heldentod in der Schlacht als eine seinem Stand gemäße Haltung vor Augen führt.[37] Im Angesicht des Todes erkennt Homburg die Folgen seiner Tat sowie die Grenzen des Traumes und verliert in seiner Todesangst vor Natalie und später auch vor dem Kurfürsten sein Gesicht. Dem Kurfürsten gelingt so die Zurückweisung des Traumes, wie er sie bereits in der ersten Szene ankündigte: »Ins Nichts mit dir zurück, Herr Prinz von Homburg, Ins Nichts, ins Nichts!«[38]

3. Fortschreibung und Überschreitung

Neben sporadisch anklingenden Überschneidungen wie den ähnlichen Schauplätzen oder der vergleichbaren Figurenkonstellationen weist Kleists Prinz Friedrich von Homburg zwei besonders ausgeprägte intertextuelle Bezüge zu Shakespeares Hamlet auf: Einen Helden, dessen im Mittelpunkt stehende Subjektivität mit den gesellschaftlichen Ansprüchen an ihn in Konflikt gerät, sowie das Motiv des offenen Grabes, in dem sich ihm die zugrundeliegende Frage nach dem richtigen Augenblick der Tat offenbart. Ruft Kleist damit einerseits den Prätext Hamlet als Assoziationsraum und Vergleichsfolie auf, so bringen gerade die Parallelen bereits erkennbar die zugrundeliegende Differenz der beiden Protagonisten hinsichtlich ihres Handelns zum Ausdruck.

Wenn sich Homburgs träumerisches Dasein mit Hamlets Verhalten in Verbindung bringen lässt, geschieht dies im Rückgriff auf eine Deutungstradition der Figur, die vor allem in den Werken Goethes ihren Ausgang nimmt.[39] Darin erscheint Hamlet bereits explizit als eine Träumerfigur, die von der eigenen Handlungsohnmacht geplagt wird und deren Seele mit dem ihr auferlegten Racheauftrag nicht in Einklang zu bringen ist: »Eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist«,[40] heißt es bekanntlich im Wilhelm Meister. Greifen die Romantiker Goethes Deutung auf und betonen dabei insbesondere Hamlets schwermütigen Charakter, so wird ihnen Hamlet »zum Inbegriff romantischen Menschentums.«[41] Wenn demnach Kleist in seinem Drama auf das Traumprinzenmotiv zurückgreift und damit auf Shakespeares Drama anspielt, steht auch er erkennbar in dieser Deutungstradition. Dies wird zusätzlich von den zahlreichen romantischen Motiven in der Eingangsszene unterstrichen. Ausgehend von dieser Deutung setzt später auch die politische Lesart der Figur ein, die eine besondere nationale Affinität gegenüber Hamlet postuliert und in ihm den Prototypen des deutschen Intellektuellen erblickt, dessen Idealismus jedoch an der politischen Realität scheitert.[42] Den wohl berühmtesten Ausdruck findet diese Deutungstradition in den Versen Ferdinands von Freiligraths aus dem Jahr 1844: »Deutschland ist Hamlet!«[43] Die politische Wendung geht mit der Absage an den romantischen Hamlet-Kult einher, die Spannung zwischen Traum und Tat wird dem Jungen Deutschland zum nationalen Problem.[44]

Als einer der ersten nimmt Adam Müller eine solche politische Umdeutung der Hamlet-Figur in seinen 1809 im Phöbus erschienenen Fragmenten über William Shakespear vor.[45] Entstanden sind sie im Rahmen seiner Vorlesung Über dramatische Kunst, die Müller 1806 in Dresden hielt.[46] In Shakespeares Tragödie erkennt er Ähnlichkeiten mit der eigenen Zeit, die geprägt ist von dem Zusammenbruch Preußens und der Napoleonischen Herrschaft.[47] In seinem Kapitel über Hamlet bezieht er das Drama auf die großen Linien der politischen Geschichte:

In den Anfängen der Staaten und Reiche ist That und Handlung alles, innrer Drang des Schaffens und Wirkens führt alle Hände; jeder muss etwas gewaltiges thun und hat kaum Zeit es zu sagen, wenn er es gethan, geschweige es lange in sich zu bedenken, hin und wieder zu berathen ehe er es thut. […] Nachher, wenn das Staatswerk gedeiht und in sich selbst fortwächst, dann lässt das Treiben der Menschen allmählich nach, und nun erst kommen die leisten Naturen, und leiseren Organe der Stimme und der Sprache, und mit ihnen die zeichnenden und bildende Künste zu Wort. Man schreibt die Erinnerungen nieder, man bespricht immer weitläufiger das, was einst mit dem lebendigen Worte gethan wurde. Endlich kann man auch an das, was zukünftig gethan werden soll, nicht mehr ohne weitläufige Seelenvorrede kommen: jede That versteckt sich wie hinter eine Art von speculativem Bollwerk, das erst erobert werden muss, ehe zu ihr selbst gelangt werden kann. […] – Ich spreche nicht, wie es etwa scheinen möchte, von meiner eigenen Zeit, sondern die Rede ist von Hamlet.[48]

Was am Ende dieses pessimistischen Entwicklungsentwurfes steht, lässt sich leicht erahnen: der vollständige Untergang des Staates. In diesem politischen Zyklus verordnet er auch die eigene Zeit, wie die Antiphrase am Ende des Zitats in besonderer Deutlichkeit herausstellt. Die Handlungsohnmacht Hamlets leitet Müller hier nicht mehr aus seiner Persönlichkeit oder der Rache selbst ab, sondern sieht sie als Folge eines zerrütteten Staates. Auch er stellt damit den Gegensatz zwischen Wort und Tat in den Mittelpunkt des Dramas, positioniert sich selbst jedoch erkennbar auf Seiten der Tat. Das siegreiche Erscheinen Fortinbras am Ende des Dramas deutet er dementsprechend als Zeichen der Parteinahme des Dichters selbst gegen seinen zögernden Protagonisten: »Ruhig sieht er [Shakespeare, L.T.] unter der noch glimmenden Asche allenthalben die Knospen neuer Zeit und neuer Geschlechter hervorkeimen, die Fortinbras ankündigt.«[49] Neben der Rückführung von Hamlets Zögern auf ein politisches Versagen findet sich hier, in der Zurückweisung des romantischen Hamlet-Kultes, auch erstmals eine entschiedene Kritik am Verhalten des philosophierenden Königssohnes, die dem Dichter und seinem Werk zugeschrieben wird.

In seiner dramatischen Analyse Hamlets betont Müller vor allem zwei Szenen, die er unter dem Begriff der Spiegelszenen zusammenfasst: Das Spiel im Spiel als Spiegel der Tat des Königs sowie die Konfrontation mit Laertes auf dem Friedhof, die Hamlet selbst den Spiegel vorhalte. Dabei beklagt er insbesondere, dass die Grabszene, in welcher Hamlet »sowohl in der wahnsinnigen Ophelia als in dem racheschnaubenden Laertes, dieselbe Veranlassung, nämlich die Ermordung eines Vaters«[50] erblickt, in zeitgenössischen Aufführungen auf deutsche Bühnen häufig ausgelassen werde. Auch diesen Umstand vermag er im Sinne seiner Zeitkritik zu deuten: »Für Gesellen dieser Art hat das Stück auch ohne diese Scene schon eine zu unmäßig grosse Bedeutung.«[51] An dieser Stelle richtet sich seine Kritik nur vordergründig an das Drama selbst: Im Mittelpunkt steht vielmehr das von der Forschung mehrfach als »Hamlet-Fieber« bezeichnete Rezeptionsphänomen, dem ein bewundernder Blick auf den zögernden Königssohn zu Grunde liegt.

Die Vehemenz dieser Kritik lässt sich aus den historischen Umständen seiner Zeit verstehen, auf die Müller in seiner Schrift auch wiederholt anspielt. So stellt Johannes von Schlebrügge in seinem Aufsatz über Müllers ShakespeareFragmente diese unter das Zeichen eines »romantisch[en] Kampf[es] gegen Napoleon«.[52] Unter dem Eindruck der Schlacht von Austerlitz vereinnahme Adam Müller den Dichter Shakespeare für eine politische Mythologie eines von der Fremdherrschaft befreiten Deutschlands.[53] So erweise sich auch seine Interpretation von Shakespeares Richard III. als »kaum verschlüsselter Aufruf zur Vorbereitung eines neuen Krieges gegen den französischen Usurpator.«[54] In diesen Kontext stellt Müller auch das Geschichtsdrama, dessen Entwicklung er von den Anfängen bei Schiller bis zu seiner erhofften Vollendung im Werke Kleists nachzuvollziehen sucht.[55]

Auch Kleists Prinz Friedrich von Homburg ist nicht losgelöst von seinem politischen Entstehungskontext zu betrachten, insbesondere als das Schauspiel selbst zahlreiche Verweise auf die politische Wirklichkeit enthält. So verweist, wie Wolf Kittler überzeugend darlegt, die Figur der Prinzessin Natalie aufgrund ihres Dragonerregiments verschlüsselt auf die Königin Luise.[56] Auch Homburgs historisches Vorbild, Prinz Lois Ferdinand von Preußen, der in der Schlacht von Saalfeld 1806 gefallen ist, rekurriert als Hoffnungsträger der antinapoleonischen Fraktion[57] auf die politischen Forderungen an Preußen, sich gegen die französische Fremdherrschaft zur Wehr zu setzen, denen nachweislich auch Kleist nahe stand.[58] Unter Einfluss von Müllers Vorlesungen fordert auch er in seinen antinapoleonischen Schriften mehr Engagement für die Einheit der Nation.[59] Da Müller und Kleist in dieser Hinsicht einen ähnlichen politischen Horizont teilen, lassen sich auch ihre Deutungen der Hamlet-Figur, das heißt Müllers theoretische Überlegungen zu Shakespeare und Kleists poetische Auseinandersetzung mit der Figur, mit Bezug auf diesen lesen. Bisher wurde Kleists Schauspiel in der Forschung vornehmlich mit Müllers Vorlesungen Über die Staatskunst in Verbindung gebracht.[60] Im Folgenden soll es hauptsächlich vor dem Hintergrund der Shakespeare-Fragmente Müllers betrachtet werden; Kleists  Kenntnis derselben kann aufgrund ihres Erscheinens in seinem Phöbus vorausgesetzt werden.

Wie bereits mehrfach herausgestellt, lässt Kleist in seinem »vaterländische[n] Schauspiel«[61] den träumerischen Prinzen zu früh in die Schlacht eingreifen. Damit stellt der Prinz nicht nur seinen Gehorsam gegenüber dem Kurfürsten in Frage, sondern bringt auch seinen Hang zu überstürztem Handeln zum Vorschein. Das Ideal des unmittelbaren Handelns aus einem »innre[n] Drang des Schaffens«[62] heraus, wie es Adam Müller vorschwebt, findet sich auch in Homburgs Worten wieder, der sich auf die Unmittelbarkeit des Herzens beruft. Auch Nathalie betont gegenüber dem Kurfürsten neben der Gesetzestreue »die lieblichen Gefühle«,[63] um das Handeln des Prinzen zu verteidigen. Dabei fällt auf, dass auch sie, die durch die Wiederaufnahme der Worte Ophelias[64] sowie durch ihr Verhältnis zum Prinzen deutlich in die Nähe der tragischen Geliebten Hamlets gerückt wird, sich von dieser gerade durch ihr entschlossenes eingreifendes Handeln unterscheidet.

Durch die intertextuellen Verweise ruft Kleist Hamlet als Vergleichsfolie auf und rückt seinen träumerischen Protagonisten erkennbar in die Nähe des zögernden Königssohnes. Indem er jedoch dessen entschlossenes Eingreifen in die Schlacht in den Mittelpunkt des Dramas stellt, grenzt er ihn gleichzeitig von Hamlet ab. Damit stimmt er mit Müllers Lesart insofern überein, als er die entschlossene Tat in ihrem Wert für die Gesellschaft – so bringt schließlich auch die Schlacht zu Fehrbellin letztlich einen militärischen Sieg[65] – im Kontrast zu dem Zögern Hamlets affirmativ hervorhebt. Beide Prinzen und ihre jeweiligen Heere sind einer äußeren Bedrohung ausgesetzt. Am Ende des Prinzen Friedrich von Homburg steht jedoch nicht der siegreiche Einzug des Feindes Fortinbras, sondern der Aufruf zur Schlacht:

Mehrere Offiziere.
Ins Feld! Ins Feld!

Graf Truchss.     Zur Schlacht!

Feldmarschall.                Zum Sieg! Zum Sieg!

Alle. In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!

Ende
(Prinz Friedrich von Homburg, S. 93)

Die Kritik an Hamlets Handlungsohnmacht und seinem Hang zum Philosophieren schlägt sich auf diese Weise auch in Kleists poetischer Auseinandersetzung mit der Figur nieder. Prinz Friedrich von Homburg wird zur politischen Erlöserfigur, die einen Ausweg aus der Unfähigkeit Preußens zum vaterländischen Befreiungskrieg bieten soll.[66] Kleists Zeitgenossen konnten das Drama demnach auch als Aufforderung an den preußischen König verstehen, in den Befreiungskrieg zu ziehen. Die Handlungsaufforderung wird gerade vor dem Hintergrund von Hamlets Handlungsohnmacht, als Ausdruck eines verkommenden Zeitalters, in ihrer Dringlichkeit hervorgehoben.

Beide Dramen bringen die Diskrepanz zwischen Wort und Tat bzw. Traum und Wirklichkeit in ihren Schlussszenen zum Ausdruck, die die poetologischen Anspielungen erneut in den Vordergrund stellen: »Wo ist dies Schauspiel?«,[67] fragt Fortinbras, als er in der letzten Szene die Bühne betritt. Im Prinzen Friedrich von Homburg wird das Traumspiel, welches zu Beginn des Dramas steht, zyklisch wiederholt. Werden dem Prinzen dabei zunächst die Augen geöffnet, bezeichnet dies den Moment des Erwachens – die Traumwelt wird dadurch als Wirklichkeit erkennbar. Ein letztes Mal fragt Homburg: »Nein sagt! Ist es ein Traum?«,[68] worauf ihm Kottwitz nun entgegnen kann: »Ein Traum, was sonst?«,[69] da Traum und Wirklichkeit in Einklang stehen. Auch die in diesen Worten weiterhin enthaltene Ambivalenz, die den Wirklichkeitsstatus des Geschehens in Frage stellt, löst insofern die tiefe Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Traum, als sie die Grenze zwischen beiden demonstrativ aufhebt. Shakespeares Ende hingegen ist ein betont tragisches, da Hamlet an seinem Auftrag zu Grunde geht. Auch die ihm auferlegte Rache vermag er insofern nicht zu vollbringen, als er zwar den König tötet, dabei jedoch auch die Königin zu Tode kommt. Besonders die Worte Fortinbras, der Hamlet auf die Bühne tragen lässt, bringen dessen Scheitern zum Ausdruck:

Fortinbras. Lasst vier Hauptleute Hamlet auf die Bühne
Gleich einem Krieger tragen: denn er hätte,
Wär er hinaufgelangt, unfehlbar sich
Höchst königlich bewährt; und bei dem Zug
Lasst Feldmusik und alle Kriegsgebräuche
Laut für ihn sprechen.
(Hamlet, S. 168)

In Fortinbras’ Vergleich von Hamlet mit einem Krieger und seiner Anordnung, Kriegsgebräuche durchzuführen, tritt der Kontrast zu dem von Hamlet erwarteten Verhalten als Unterschied zwischen Schein und Sein in besonderer Schärfe hervor. Hamlet ist nämlich gerade nicht der mutige Krieger, den Fortinbras in ihm zu sehen vorgibt. Seine Unentschlossenheit zu handeln bringt das tragische Ende hervor. Der glückliche Ausgang des Prinzen Friedrich von Homburg, in dem trotz allem die Ambivalenz von Traum und Wirklichkeit bestehen bleibt, ist nicht etwa als Parodie auf Shakespeares Tragödie zu lesen,[70] sondern vielmehr als Bekräftigung der Tat Homburgs, die den Einzug des Feindes verhindert. Wird der Prinz zwar bis zu einem gewissen Grad vom Kurfürsten erzogen und an die Anforderungen des Militärs angepasst, so wird er trotzdem als »Sieger in der Schlacht bei Fehrbellin«[71] geehrt, wie es ihm einst im Traum vorschwebte.

4. Schluss

Von analogen Handlungsorten und vergleichbaren Expositionen, ähnlichen Figurenkonstellationen und Liebesbeziehungen über die in beiden Dramen angelegte Diskrepanz zwischen Wort, Tat, Traum und Wirklichkeit bis hin zu dem Motiv des offenen Grabes als dramatischem Wende- und Einsichtspunkt weisen die beiden Dramen – Kleist Prinz Friedrich von Homburg und Shakespeares Hamlet – zahlreiche Parallelen zueinander auf. Insbesondere der im Mittelpunkt beider Dramen stehende Einblick in die literarische Subjektivität der Helden und ihr Verhältnis zu ihrer Umgebung betont die Ähnlichkeit der jeweiligen Prinzen.

Im Gegensatz zu Shakespeare lässt Kleist seinen entrückten Prinzen jedoch nicht vor der großen Tat zaudern. Vielmehr greift Homburg zu früh in die Schlacht ein, um seinen Traum mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen. Besonders in der politischen Situation seiner Zeit betont Kleists »vaterländisches Schauspiel« durch den Kontrast zu Shakespeares zauderndem Königssohn die entschlossene Tat des Prinzen, die auch als Aufruf zum Kampf gegen Napoleon verstanden werden kann. Wie Adam Müller stellt Kleist eine Welt vor, in der im Angesicht des drohenden Feindes keine Zeit für hamletisches Philosophieren bleibt. Anstelle der Flucht ins wirkende Wort, wie sie Hamlet immer wieder vornimmt, tritt die Tat bei Kleist aus einem »innre[n] Drang des Schaffens«[72] heraus. In dieser Hinsicht weisen sowohl Adam Müllers theoretische als auch Kleists dichterische Auseinandersetzung mit der Hamlet-Figur eine frühe Zurückweisung des romantischen Hamlet-Bildes und eine politische Deutung der Figur auf.

 

[1] Hans Werner Henze: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955–1984. Hrsg. von Jens Brockmeier. dtv: München 1983. S. 76.

[2] Christoph Müller: Eine Art »deutscher Hamlet« zu Peymanns Abschied. In: Südwest Presse (13.02.2017). Abgerufen am 12.03.2017 unter http://www.swp.de/ulm/nachrichten/kultur/eine-art-deutscher-hamlet-zu-peymanns-abschied-14435964. html.

[3] Vgl. dazu Bernd Hamacher: »Darf ichs mir deuten, wie es mir gefällt? 25 Jahre Homburg-Forschung zwischen Rehistorisierung und Dekonstruktion.« In: Heilbronner Kleist-Blätter 6 (1999). S. 9-67; Rosemarie Zeller: »Kleists Prinz Friedrich von Homburg auf dem Hintergrund der literarischen Tradition.« In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 30 (1986). S. 404-416.

[4] Vgl. Benjamin Bennett: Modern Drama and German Classicism. Renaissance from Lessing to Brecht. Ithaca, London: Cornell University Press 1979. S. 30.

[5] Vgl. Meta Corssen: »Kleist’s und Shakespeare’s dramatische Gestalten.« In: Jahrbuch der deutschen Shakespeare-Gesellschaft 58 (1922). S. 46-67. Bes. S. 46; dies.: Kleist und Shakespeare. Reprint der Ausgabe Weimar 1930. Hildesheim: Gerstenberg 1978. Hier insb. S. 207-208.

[6] Vgl. Susanne Kaul: Poetik der Gerechtigkeit. Shakespeare – Kleist. München: Wilhelm Fink 2008. Hier S. 171-201; Rüdiger Görner: Gewalt und Grazie. Heinrich von Kleists Poetik der Gegensätzlichkeit. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2010. Hier S. 72-74.

[7] Claudia Olk: »Prinz Friedrich von Homburg. Kleists märkischer Hamlet«. In: Kleist-Jahrbuch (2017). S. 23-36.

[8] Vgl. ebd.

[9] Adam Müller: »Fragmente über William Shakespear«. In: Phöbus. Ein Journal für die Kunst. Neuntes und Zehntes Stück. Septbr. u. Octbr. 1808. Hrsg. von Heinrich von Kleist u. Adam H. Müller. Nachdruck. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1961. S. 479-511.

[10] Ferdinand von Freiligrath: »Hamlet.« In: Ders.: Gedichte. Auswahl und Nachwort von Dietrich Bode. Stuttgart: Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung 1975. S. 55.

[11] Vgl. Roger Paulin: The Critical Reception of Shakespeare in Germany 1682-1914. Native Literature and Foreign Genius. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 2003. S. 442.

[12] Vgl. Johannes von Schlebrügge: »Adam Müllers Shakespeare. Ein Verbündeter im romantischen Kampf gegen Napoleon.« In: Das Shakespeare-Bild in Europa zwischen Aufklärung und Romantik. Hrsg. von Roger Bauer, Michael de Graat u. Jürgen Wertheimer. Bern: Peter Lang 1988. S. 226-240. Hier S. 230.

[13] Vgl. Meta Corssen: »Kleist und Shakespeare.« Hier S. 20-24.

[14] Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel. Hrsg. und kommentiert von Bernd Hamacher. Reclam: Stuttgart 2001. S. 35. Im Folgenden zitiere ich aus dieser Ausgabe unter Angabe von Kurztitel und Seitenzahl.

[15] Zu politischen Elementen im Hamlet vgl. Ekkehart Krippendorff: »Das Politische.« In: Hamlet-Handbuch. Stoffe, Aneignungen, Deutungen. Hrsg. von Peter W. Marx. Stuttgart, Weimar: Springer 2014. S. 59-62.

[16] William Shakespeare: Hamlet. Übersetzt von August Wilhelm Schlegel. Hrsg. von Dietrich Klose. Stuttgart: Reclam 2014.

[17] Vgl. Sabine Schülting: »Die späteren Tragödien. Hamlet, Prince of Denmark.« In: Shakespeare-Handbuch. Die Zeit – Der Mensch – Das Werk – Die Nachwelt. Hrsg. von Ina Schabert. Stuttgart, Weimar: Metzler 2000, S. 533-544. Hier S. 535.

[18] William Shakespeare: Hamlet. S. 74.

[19] Ebd. S. 104.

[20] Vgl. Wolfgang G. Müller: »Einleitung.« In: William Shakespeare: Hamlet, Prince of Denmark. Hamlet, Prinz von Dänemark. Englisch-deutsche Studienausgabe. Hrsg. von Wolfgang G. Müller, Norbert Greiner. Tübingen: Stauffenburg 2006. S. 15-75. Hier S. 15-16.

[21] Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg. S. 8.

[22] Vgl. Janette Dillon: The Cambridge Introduction to Shakespeare’s Tragedies. Cambridge: Cambridge University Press 2007. S. 67.

[23] Vgl. William Shakespeare: Hamlet. S. 105.

[24] Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg. S. 14.

[25] Ebd., S. 22.

[26] Ebd. S. 23.

[27] Ebd. S. 24.

[28] Ebd. S. 10.

[29] Neben Corssen und Kaul, die die Szene mit Measure for Measure in Verbindung bringen, zieht auch Carl Fries Shakespeare als Referenzpunkt heran, nimmt jedoch dessen Drama König Heinrich der Achte in den Blick. Vgl. Carl Fries: »Shakespeare bei Kleist.« In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen 168 (1935). S. 232-235. Hier S. 234. Zu keinem der beiden Dramen gibt es jedoch eindeutige Belege für Kleists Kenntnis.

[30] Vgl. Bernd Hamacher: »Prinz Friedrich von Homburg.« In: Kleist-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Hrsg. von Ingo Breuer. Stuttgart, Weimar: Metzler 2009. S. 80-89. Hier S. 88.

[31] Zu Shakespeares Strategie, dem ernsten Hamlet in dieser Szene eine Clown-Figur gegenüberzustellen vgl. Janette Dillon: The Cambridge Introduction. S. 69-71.

[32] William Shakespeare: Hamlet. S. 142.

[33] So ist auch die in der Rezeptionsgeschichte geläufige Verbindung des dritten Monologes mit der Betrachtung von Yoricks Schädel keineswegs zufällig, da beide Szenen das Thema von Handeln und Sterben variieren. Zur Verselbstständigung der Figur als kulturellem Zitat vgl. Ramona Mosse: »Hamlet als Metakommentar des Theaters.« In: Peter W. Marx (Hrsg.): Hamlet-Handbuch. S. 107-114.

[34] Vgl. Peter W. Marx: »Yorick.« In: Ebd. S. 69-71. Hier S. 70.

[35] Vgl. hierzu auch die Analyse von Claudia Olk: »Prinz Friedrich von Homburg.« S. 34.

[36] Vgl. Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg. S. 56. V. 1021–1037.

[37] Vgl. Ebd. S. 57.

[38] Ebd. S. 8.

[39] Vgl. Franz Loquai: Hamlet und Deutschland. Zur literarischen Shakespeare-Rezeption im 20. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993. S. 4.

[40] Johann Wolfgang von Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre.« In: Ders.: Werke. Weimarer Ausgabe. Bd. 22. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar: H. Böhlau 1899. S. 75.

[41] Walter Muschg: »Deutschland ist Hamlet.« In: Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft West (1965). S. 32-58. Hier S. 43.

[42] Vgl. Sabine Schülting: Hamlet, Prince of Denmark. S. 542.

[43] Ferdinand von Freiligrath: »Hamlet.« S. 55.

[44] Vgl. Walter Muschg: Deutschland ist Hamlet. S. 46.

[45] Vgl. Manfred Pfister: »Hamlet und der deutsche Geist. Die Geschichte einer politischen Interpretation.« In: Jahrbuch der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft West (1992). S. 13-38. Hier S. 20.

[46] Vgl. Johannes von Schlebrügge: »Adam Müllers Shakespeare.« S. 226.

[47] Vgl. Manfred Pfister: »Hamlet und der deutsche Geist.« S. 20.

[48] Adam Müller: »Fragmente über William Shakespear.« S. 78. Hervorhebung i.O. gesperrt.

[49] Ebd. S. 79.

[50] Ebd.

[51] Ebd.

[52] Johannes von Schlebrügge: »Adam Müllers Shakespeare.« S. 226.

[53] Vgl. Ebd. S. 237.

[54] Ebd. S. 237.

[55] Vgl. Roger Paulin: The Critical Reception. S. 268.

[56] Vgl. Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege. Freiburg im Breisgau: Rombach Wissenschaftsverlag 1987. S. 256-260.

[57] Vgl. Bernd Hamacher: »Prinz Friedrich von Homburg.« S. 82.

[58] Vgl. dazu Dirk Grathoff: »Heinrich von Kleist und Napoleon Bonaparte, der Furor Teutonicus und die ferne Revolution.« In: Ders.: Kleist: Geschichte, Politik, Sprache. Aufsätze zu Leben und Werk Heinrich von Kleists. Wiesbaden: Springer 2000. S. 175-197.

[59] Vgl. Peter Klaus: »Für ein anderes Preußen. Romantik und Politik in Kleists Prinz Friedrich von Homburg«. In: Ders.: Ikarus in Preußen. Heinrich von Kleists Traum von einer besseren Welt. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007. S. 1­­-21. Hier S. 22.

[60] Vgl. Jochen Marquardt: »Ein Traum, was sonst? Die Vision vom Nationalstaat in Adam Müllers Vorlesungen über Friedrich II. und Kleists vaterländisches Schauspiel.« In: Beiträge zur Kleist-Forschung 6 (1993). S. 25-48.

[61] Heinrich von Kleist: »Brief an Georg Andreas Reimer vom 21. Juni 1811.« In: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Band 4. Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793-1811. Hrsg. von Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker-Verlag 1997. S. 496.

[62] Adam Müller: »Fragmente über William Shakespear.« S. 79.

[63] Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg. S. 60.

[64] Vgl. Claudia Olk: »Prinz Friedrich von Homburg.«  S. 35.

[65] Vgl. dazu die Worte des Kurfürsten in Szene II, 10.

[66] Vgl. Marcel Krings: »Der Typus des Erlösers. Heilsgeschehen in Kleists Prinz von Homburg«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 79 (2005). 64-95. Hier S. 70.

[67] William Shakespeare: Hamlet. S. 167.

[68] Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg. S. 93.

[69] Ebd.

[70] Vgl. Jeanette Fietz: »Das Marionettenmotiv in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre in Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater und in seinen Dramen.« [Diss.] Technische Universität Berlin 2013. Abgerufen am 12.03.2017 unter https://depositonce.tu-berlin.de/handle/11303/4155. S. 238.

[71] Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg. S. 93.

[72] Müller: »Fragmente über William Shakespear.« S. 79.

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