heft 11. herbst 2020

Liebe Lesende,


ein Sommer ohne Festivals, ohne bis spät in den Abend gefüllte Universitätsbibliotheken, ohne überhitzte Hörsäle und den erlösenden Eiskaffee in der Mittagspause. Dafür mit auf dem Kopf stehenden Kamerabildern, maskierten Demonstrationen und jeder Menge offener politischer und sozialer Fragen. Dass die neuen Zwanziger mit vielen, auch unbekannten Herausforderungen einhergehen würden, war im Vorhinein absehbar, aber schon im ersten Jahr mit einer Pandemie konfrontiert zu werden, klingt eher nach dem Plot eines schlechten Weltuntergangsfilms als nach einer realen Begebenheit. Für uns Studierende sieht der Corona-Alltag ganz unterschiedlich aus. Eine gewisse Konstanz bietet mittlerweile wieder das Bierchen abends an der Spree oder am Landwehrkanal. Und eine Pause von Studium, Arbeit und Sorgen bietet nun auch die neue anwesenheitsnotiz. Für sie gilt kein Sicherheitsabstand und ihr könnt guten Gewissens tief in die Debatte des freien Willens eintauchen, in das Motiv eines antiken Vasenbildes und die Motivation hinter einer Underground-Shakespeare-Verfilmung, in das Drastische der schriftlichen Darstellung menschlicher Körper im Ersten Weltkrieg und die komplexe Semantik des Fingerrings im mittelalterlichen Ortnit, in das metaphorisch-hegelsche Verhältnis zwischen Kunst und ihren Rezipientïnnen und Filos liebevolle Illustrationen dieser sechs Hausarbeiten aus Filmwissenschaft, Kunst- und Bildgeschichte, deutscher Philologie und Philosophie.

Im redaktionellen Teil stellen wir euch dieses Mal – anstatt einer weiteren studentischen Zeitschrift – ein anderes, aber ebenfalls studentisches Format vor: objectif16. Hier wird nicht geschrieben, sondern zu filmwissenschaftlichen Themen vorgetragen. Das Geschriebene spielt dafür eine umso größere Rolle im nächsten Interview mit dem Gestalter-Kollektiv finaltype – sogar im doppelten Sinne: Die Gestalterïnnen hinter finaltype veröffentlichen nicht nur Schriften (Fonts) auf ihrer Website, sondern reflektieren auch in kurzen Artikeln deren Entwicklung und ihre Sichtweise auf Gestaltung als Prozess. In fünf kurzen Rezensionen bieten wir außerdem einen Einblick in die Reihe Schöner Lesen unter dem #frauenlesen des Kreuzberger Verlags SUKULTUR. Funfact: Die kleinen gelben Hefte werden mittlerweile zusammen mit Sofie Lichtenstein von Moritz Müller-Schwefe herausgegeben, der 2018 im heft 9 der anwesenheitsnotiz auch eine Hausarbeit veröffentlichte.

In unserer Redaktion begrüßen wir Anina Gröger, Anna-Maria Harth, Lisa-Marie Hempel, Eh-Jae Kim und Robert Steffani als neue Mitglieder und freuen uns schon auf die nächste Runde der anwesenheitsnotiz – mit
hoffentlich mehr Wohnzimmer– als Zoom-Sitzungen und vor allem euren Einreichungen!
Egal ob mit Hausarbeit im Anhang oder ohne, wenn ihr Anregungen und Kommentare habt oder sogar Lust, selbst als Redaktionsmitglied mitzuwirken, schreibt uns an die anwesenheitsnotizen@gmail.com!

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen!
Die Redaktion

Inhalt

Julia Dutschke: Willensfreiheit und Hirnforschung. [Hier lesen]
Der freie Wille ist eine Illusion. Das schlussfolgert der Philosoph Sam Harris aus den Ergebnissen eines Experiments, dass Benjamin Libet in den 70er des letzten Jahrhunderts durchgeführt hat. Aber ist dieser Schluss wirklich so zwingend wie Harris es annimmt? Oder kann den Experimenten zum Trotz nach wie vor eine These vertreten werden, in der eine determinierte Welt und ein freier Wille kompatibel sind? Julia Dutschke wirft einen kritischen Blick auf Harris Argumentation entlang der neurologischen Erkenntnisse und berücksichtigt dabei nicht nur Libets eigene Interpretation seines Experiments, sondern auch die Ergebnisse von Nachfolgeexperimenten und die theoretischen Überlegungen Kants zur Freiheit des Willens in einer streng kausalen Welt.

Angelia Gaspardo: Der Körper im Krieg. Drastik und Groteske bei Remarque und Krleza. [Hier lesen]
In ihrem Beitrag beleuchtet Angelia Gaspardo Erzählungen über den Ersten Weltkrieg aus einer etwas anderen Perspektive. Die literarischen Darstellungen der Körper dienen als Linse, durch die man die Schilderungen des Krieges betrachten und nachvollziehen kann. Der Körper in seinen extremen Formen und auch den extremen Situationen des Krieges ausgesetzt; diese Beschreibungen reflektieren das Grauen und zeichnen ein Bild des Krieges, der unmittelbar am Körper der Beteiligten stattfindet. Es stellt sich die Frage: Inwiefern sind die Beschreibungen der Körper drastisch und grotesk? Wie kann man diese Groteske und diese Drastik rezipieren? Hierzu vergleicht Gaspardo Erich Maria Remarques Soldatenkörper in Im Westen nichts Neues mit den Körpern der Syphilitischen in Miroslav Krležas Der Tod des Franjo Kadaver. Beide Erzählungen finden an zwei unterschiedlichen Orten statt, an der Front und im Spital, aber beide während der Zeit des Ersten Weltkrieges und es finden sich viele Parallelen und Unterschiede, die von Gaspardo analytisch untersucht werden. Es ist eine Untersuchung der Möglichkeit der literarischen Zeichnung des Ersten Weltkrieges, aber auch vor allem des Körpers und seinen groteskdrastischen Darstellungsformen.

Luise Mörke: Im offenen Feld der Bedeutung. Überlegungen zu einem attischen Vasenbild als »Bild über Bilder«. [Hier lesen]
Luise Mörkes Text ist im Raum zwischen Essay und wissenschaftlicher Hausarbeit angelegt und beschäftigt sich mit der Betrachtung einer Malerei auf einer antiken Vase, die sie als »Bild über Bilder« bezeichnet. Mörke beschreibt den Versuch, sich den Bildinhalt durch wiederholtes sowie verweilendes Schauen zu erschließen und unterfüttert dies mit Gedanken über das Verhältnis von Bild und Text bzw. die Unterschiede von Prozessen der Bildbetrachtung und Lektüre.

Elisabeth Korn: Shakespeare von unten. Die Verfilmung kanonischer Literatur und ihr Platz im Underground-Kino am Beispiel von Rosa von Praunheims Macbeth Oper (1970). [Hier lesen]
Elisabeth Korns Arbeit schaut sich Rosa von Praunheims Fernsehproduktion Macbeth Oper (1970) als einen Ausnahmefilm an: Sowohl Literaturverfilmung und Teil des Undergroundkinos, spielt der Film mit medialen Konventionen und positioniert sich subversiv gegen einen Werkkanon. Die Spannung zwischen Undergroundkino auf der einen und »Hochkultur« (Shakespeare, Oper) auf der anderen Seite führt, Elisabeth zufolge, zu einem Erwartungsbruch bei Zuschauerïnnen, die sich hier mit einem Film konfrontiert sehen, der sich durch die Verzerrung der Frühneuenglischen Sprache und unscharfe Bilder weitgehend etablierten Kommunikationsformen des Films entzieht.

Luca Wirth: Die Bedeutung des vingerlein im Ortnit. [Hier lesen]
Ob in Grimms Märchen, Lessings Nathan der Weise oder Tolkiens The Lord of the Rings – in der europäischen Literaturgeschichte kommt das Motiv des Fingerrings auffallend häufig vor. Wie komplex und auch widersprüchlich seine Semantik sein kann, zeigt Luca Wirth am weniger prominenten Beispiel des vingerlein im Ortnit. Nach einer kurzen Einführung in die Motivgeschichte des Rings in mittelalterlicher Erzähldichtung untersucht sie, ausgehend von Marcel Mauss’ Gabentheorie, die Bedeutung des Fingerrings als zentrales Handlungselement im Ortnit. Hierbei deckt sie nicht nur die Konnotationen des vingerlein auf, sondern auch Ortnits widersprüchliche Beziehung zu seiner Mutter. Von einem unbekannten Autor vermutlich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts verfasst, lässt sich der Ortnit nur schwer klassifizieren. Da sein zentrales Thema die Werbung einer heidnischen Braut ist, liegt eine Einordnung in die Brautwerbungsdichtung zwar nahe. Es gibt jedoch ebenso Elemente, die auf die Heldenepik, den höfischen Roman, die mittelhochdeutsche Lyrik, die Spielmannsepik oder sogar die französischen Chansons de geste hindeuten. Die Unklarheit des Textes macht sich schließlich auch in den inhaltlichen Leerstellen bemerkbar, auf die Wirth in ihrer Arbeit nachdrücklich aufmerksam macht.

Tihomir Arnaudov: The Gaze of Argus. The metaphor of Argus in Hegel’s Lectures on Aesthetics. [Hier lesen]
Hegel vergleicht das Kunstwerk mit dem tausendäugigen Argus, der aus allen Ecken der Gemälde den Blickenden erblickt. Die Ambivalenz des Auges eröffnet eine Unerschöpflichkeit interpretatorischer Zugänge, während sie alle Betrachterïnnen selbst als Elemente real-sozialer Landschaften objektiviert. Begegnungen mit Kunst sind so überfordernde, aber auch intime Ereignisse. Tihomir Arnaudov erläutert, wie die Metapher des Argus im Kontext von Hegels Philosophie auf diese Weise verstanden werden kann und bettet sie anschließend mithilfe Wittgensteinschen Vokabulars in Hegels Philosophie dialektischer Konzepte ein.

Rubriken:

Position und Perspektive: Interview mit finaltype [Hier lesen]

Feature: Studentische Publikation (Interview mit Max, Joshua und Viktor von objectif 16) [Hier lesen]

Rezension #frauenlesen in der Reihe Schöner Lesen [Hier lesen]

Illustrationen von filolino