
1. Einleitung
Seit jeher scheinen Ringe für Menschen eine besondere Bedeutung zu haben. Auch heute noch kann es erstaunen, dass eine »bestimmte, derart kleine Form wie der Ring die komplexen Ereignisse widerspiegeln kann, die unser Leben prägen und beherrschen«, und doch trifft genau das zu. So galten und gelten Ringe (nicht immer, aber auch) ungeachtet ihres materiellen Werts durch alle geschichtlichen Zeitalter hindurch bis heute als »bedeutungsvoller und wichtiger persönlicher Besitz«[2].
Das führt die Forschung auf das Alter der Ringe zurück, denn es gilt als bewiesen, dass schon lange vor Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. – also dem Zeitraum, in dem Menschen sich die Technik der Metallbearbeitung aneigneten und erste Schmuckstücke aus Metall in Vorderasien hergestellt wurden – Ringe aus Knochen, Stein o.ä. getragen wurden. Kulturübergreifend spinnen sich seit der Antike verschiedene Geschichten und Mythen um Ringe, die ihnen unterschiedliche magische Kräfte zusprechen.[3]
Mit der vorliegenden Arbeit beleuchte ich zunächst den mittelalterlichen Ring, das vingerlîn, vingerlin oder vingerlein, und seine unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten besonders in der Literatur. Im Mittelalter konnten Ringe auf Stand und Reichtum des Trägers hinweisen, wurden als Schmuck, Siegelringe, Liebeszeichen oder ‒ im religiösen Kontext ‒ als schützende Amulette getragen.[4] Auch in mittelalterlicher Kunst finden sich gehäuft Darstellungen von Ringen; so auch in literarischen Werken. Hier kann ein Ring entweder als Zeichnung[5] oder im Text inhärent auftreten.
Anschließend widme ich mich dem Vorkommen des vingerlein im Ortnit,[6] also dem Zauberring, den König Ortnit vor der Brautwerbung von seiner Mutter bekommt. Um zu verstehen, welche Bedeutung dieser Gabe zugeschrieben werden kann, stelle ich zunächst Theorien zu Gaben und Liebesgaben besonders in mittelalterlicher Literatur vor; dazu orientiere ich mich an Gabentheorien von Marcel Mauss, Ulrich Hoffmann und Ludger Lieb.[7]
In den folgenden zwei Kapiteln arbeite ich textnah mit dem Ortnit und lege einen besonderen Fokus auf die Stellen, in denen das vingerlein vorkommt. Hierbei gehe ich chronologisch vor und beginne mit der Szene, in der die Mutter ihrem Sohn den Ring übergibt. Um zu verstehen, welche Bedeutung dem tatsächlich beigemessen werden muss, untersuche ich, inwiefern die Mutter-Sohn-Beziehung über ein schlichtes Eltern-Kind-Verhältnis hinausgeht. Unter Berücksichtigung der vorher angestellten Beobachtungen zu Gabentheorien stelle ich heraus, welche Bedeutung der Übergabe des Rings in diesem Kontext zugeschrieben werden kann.
Die anschließende Textstelle, in der Ortnit zum ersten Mal auf seinen Vater, den Zwergenkönig Alberich, trifft, verdient einen genaueren Blick. Denn nur durch den Ring kann Ortnit den Zwerg überhaupt sehen, was er jedoch zu Beginn noch nicht weiß. Der Ring steht im Mittelpunkt der Begegnung, um ihn dreht sich das Gespräch und nur durch ihn wird es Alberich möglich, sich seinem Sohn zu erkennen zu geben.
Auch nach der erfolgreichen Brautwerbung spielt der Ring eine wichtige Rolle, als der rachsüchtige Brautvater Nachorel Drachen sendet, die Ortnits Reich verwüsten. Ortnit sieht sich gezwungen, gegen diese zu kämpfen und verabschiedet sich von seiner Frau. Beim Abschied fordert Ortnit ihr vingerlein, das ihr, von einem anderen zurückgebracht, als sicheres Zeichen seines Todes gelten soll. Nach kurzem Ritt fällt ihm auf, dass er den Ring, der Alberich sichtbar macht, vergessen hat und zurück muss. Was zuerst wie eine bloße Vergesslichkeit des Königs anmutet, entpuppt sich nach einem genaueren Blick als weit mehr. Neben dem vingerlein der Mutter gibt es noch einen weiteren, den Ring der Königin, der ihr als Erkennungszeichen für Ortnits Tod gelten soll.

Im letzten Teil der Arbeit gehe ich auf eine große Leerstelle ein, die nach der Lektüre des Ortnit bleibt. Denn obwohl die Weitergabe des Rings anfangs von Mutter und Vater in großer Manier verboten und thematisiert wird, hat es, zumindest dem Anschein nach, im weiteren Verlauf keine Konsequenzen, dass Ortnit den Ring in mehr als nur einer Situation tatsächlich aus der Hand gibt. Dazu gebe ich einen Erklärungsversuch.
2. Das mittelhochdeutsche vingerlîn
Das mittelhochdeutsche Wort vingerlîn ist aus dem zum ersten Mal im 9. Jahrhundert nachgewiesenen althochdeutschen fingirî(n) bzw. fingirlî(n) entstanden.[8] Während es heute getrost mit »Ring« übersetzt werden darf, kann das vingerlîn jedoch nicht mit dem mittelhochdeutschen rinc gleichgesetzt werden.Der Terminus rinc wird in mittelhochdeutscher Literatur nämlich hauptsächlich für am Körper getragene Ringe, die zum Schmuck oder zum Schutz angelegt werden, oder zur Bezeichnung eines Kreises (im Sinne eines Umkreises) gebraucht; vingerlîn hingegen bezeichnet ausschließlich Fingerringe. Somit steht, wie Frank Führbeth schreibt, »seine Zugehörigkeit zu dem Finger (und damit zu dem Träger des vingerlîn als ›Besitzer‹ des Fingers)«[9] im Zentrum. Erst ab dem 14. Jahrhundert, also im Spätmittelalter, wird die Bezeichnung vingerlîn vom Terminus rinc abgelöst, aus dem sich dann der neuhochdeutsche »Ring« entwickelt.[10]
Das vingerlîn konnotiert, so schreibt Führbeth weiter, meistens eine »Eigenschaft des Trägers«;[11] es ist somit Signifikant dieser Eigenschaft und kann als »pars pro toto«[12] auch den Träger selbst bezeichnen. Als Schmuck getragen symbolisiert es »Schönheit, Macht oder Reichtum«,[13] kann jedoch auch für die Herrschaftsgewalt des Trägers in verschiedenen Kontexten, von Königswürde über Bischofsehre bis hin zu Zauberkunst, stehen.[14] In manchen Situationen kann es als Legitimation oder Bestätigung der wahren Identität dienen, als Siegelring oder einem Brief beigefügt.[15]
Die Übergabe eines vingerlîn ist ein Zeichen für Freundschaft, auch bzw. gerade bei einer anstehenden Trennung. Allerdings geht damit gleichzeitig auch eine Verpflichtung einher: Der Ring wird zum Pfand für minne und triuwe.[16]
Von einer Frau getragen steht das vingerlîn oft für die Ehre und Treue derselben ‒ im übertragenen Sinne auch für das weibliche Genital, wodurch ein unbedachter Ring-Raub, wie er im Parzival beschrieben wird, gleich eine zusätzliche Deutungsebene erhält.[17] Ein vingerlîn wird meist an den Finger ›gestoßen‹, was diese Bedeutung unterstreicht.[18]
Betrachten wir die Bedeutung des vingerlîn gelöst von seinem Träger, steht in mittelalterlicher Literatur besonders sein Wert im Fokus. Oft wird er als guldîn und besonders wertvoll beschrieben. Als Schmuckring kann er dann nicht mehr nur noch am Finger, sondern auch an der Kleidung getragen werden.[19]
Vingerlîn können darüber hinaus ihren Trägern oft außergewöhnliche Kräfte übertragen, wie im Laurin die Kraft von zwölf Männern verleihen[20], unsichtbar machen wie Lunetes Ring[21] oder wie das vingerlein im Ortnit den unsichtbaren Alberich sichtbar und zum Diener machen (vgl. 97,4 und 189,4).
3. Gaben und Liebesgaben
Bevor wir uns der eigentlichen Übergabe des vingerlein im Ortnit widmen, lohnt es sich, einen genaueren Blick auf Gaben und insbesondere Liebesgaben zu werfen.
Der französische Soziologe Marcel Mauss untersucht in seinem »epochemachenden«[22] Essay »Die Gabe«[23] den Austausch von Gaben als eine wechselseitige Verpflichtung, die sowohl in Gemeinschaft als auch bei Einzelpersonen besteht. Beim Geben entsteht ein »andauernder und umfassender kreisförmiger Prozess, in dem sich vielschichtige soziale Handlungen vollziehen«.[24] Außerdem, so Mauss, »gibt man […] sich selbst, indem man gibt, und wenn man sich gibt, dann darum, weil man sich selbst ‒ sich und seine Besitztümer ‒ den anderen ›schuldet‹«.[25] Indem man sich gibt, entstehen ›beseelte Dinge‹:
Man mischt die Seelen unter die Dinge; man mischt die Dinge unter die Seelen. Man mischt die Leben ineinander und so verlassen die miteinander vermischten Personen und Sachen ihre jeweilige Sphäre: das eben ist die Bedeutung von Vertrag und Tausch.[26]
Dies wird besonders im Zusammenhang mit Liebesgaben bedeutsam. So untersucht auch Ulrich Hoffmann die Bedeutung von Gaben besonders im Kontext von Trennungsgeschichten zweier Liebender. Dinge sollen die Trennung erleichtern, Distanz überwinden und Nähe erzeugen[27]. Ringe, so stellt er fest, haben nicht den Tauschwert, den andere Gaben oft haben. Somit geht Hoffmann »von einer Hierarchie unter den Partnern« aus, in der sich die »narrative Motivation für weitere Handlungen begründet«[28]. Doch kann ein Ring »in der Kommunikation in Sachen Liebe als Medium fungieren oder gar als Fetisch begegnen«[29].
Ludger Lieb beschäftigt sich ebenfalls mit Liebesgaben und fragt: »Welche Funktionen haben Liebesgaben in Liebesbeziehungen?«[30] Kurz danach beantwortet er die Frage selbst: »Liebesgaben sind […] in erster Linie Zeichen« und zwar »›an-ökonomische‹«[31], d. h. sie zielen, wie auch Hoffmann es bei der Übergabe eines Rings festgestellt hat, nicht auf eine Gegengabe ab. Lieb unterscheidet im Folgenden zwei Kategorien der Liebesgabe am Beispiel des Rings: den ›materiellen Tauschwert‹ zum einen;[32] »[a]lle anderen symbolischen Zeichenfunktionen der Liebesgabe«, sogenannte »Liebessymbole«, zum anderen.[33] Zu diesen zählen die Erzählung der Erwerbsgeschichte,[34] die Geschichte der Herstellung[35] und der Akt des Gebens.[36] Auch kann der Gebende in der Liebesgabe metonymisch präsent sein.[37]
Wird der Ring als bloßes Memorialzeichen gehandhabt, kann von ihm als Abwesenheitszeichen gesprochen werden, während er jedoch, sobald sich der Gebende in der Gabe manifestiert, zu einem Anwesenheitszeichen, einer Art Fetisch, wird. Personalisiert wird der Ring in beiden Fällen, da die »Liebesgabe mit der Person des Gebenden in einem realen Zusammenhang steht«[38].
In der Liebesgabe kommen Ökonomie und Emotion zusammen. Lieb sieht in der strikten Gegenwehr gegen den ökonomischen Aspekt eine Idealisierung der Liebe. Für ihn ist deutlich, dass Liebe »natürlich stets auf ökonomischem Austausch und ökonomischen Forderungen« beruht und gerade dieses Paradox aus »anökonomischem ›Sich-ganz-Schenken‹ und ökonomischem Kalkül, von Abwesenheit und Anwesenheit, von Zeichen und Fetisch, von Dauerhaftigkeit und Flüchtigkeit, von Lockung und Hingabe«[39] die Liebesgabe überhaupt erst interessant und produktiv werden lässt.
In höfischer Literatur weisen Liebesgaben meist ein großes Konfliktpotential auf und können in höfischen Romanen auch »eine Störung der zwischengeschlechtlichen Beziehungen«[40] anzeigen.[41]
4. Das vingerlein der Mutter
Das vingerlein (78,4) taucht im Ortnit zuerst in der Episode Wie Ottnit seinen vater Alberichen vant, do er im den harnasch gab (70‒212) auf. In diesem Kapitel untersuche ich zunächst, welche Bedeutung ihm in der Konstellation von Ortnit und seinen Eltern zukommt. Dazu widme ich zunächst der Beziehung von Mutter und Sohn einen genaueren Blick, um zu verstehen, was es mit der Gabe des vingerlein tatsächlich auf sich hat. Denn, wie in den vorherigen Kapiteln erläutert, kann in mittelalterlicher Literatur eine Gabe und insbesondere die Übergabe eines Rings bei einer Trennung einiges konnotieren. Warum gibt an dieser Stelle die Mutter ihrem Sohn ihr vingerlein mit? Zeigt sich hier eine »Störung der zwischengeschlechtlichen Beziehungen«[42]?
Anschließend untersuche ich die Textstelle genauer, in der Ortnit zum ersten Mal auf seinen (bis dahin noch nicht bekannten) Vater Alberich trifft. In diesem Zusammentreffen spielt der Ring und das der Mutter gegebene Versprechen, ihn nicht aus der Hand zu geben, eine bedeutende Rolle. Der Ring wird zum Dreh- und Angelpunkt der gesamten Begegnung.
4.1 Mutter-Sohn-Beziehung
4.1.1 Inzestuöse Gedanken?
Wie wir wissen, wird die Mutter Ortnit ein vingerlein mit auf den Weg geben. Um zu verstehen, welche Bedeutung dieser Gabe im Ortnit beigemessen werden kann, untersuche ich zunächst die Grundvoraussetzungen, also die Situation, in der die Königin ihrem Sohn den Ring übergibt: Der tatendurstige Ortnit möchte sich die Zeit bis zur Brautwerbung mit streit (71,2) verkürzen und beschließt kurzerhand, nach abentewr (75,1) zu reiten. Seiner Mutter, die als minicleiche[s] weib (70,1) beschrieben wird, ist das nicht recht (vgl. 72,1f.); sie sorgt sich um ihren Sohn (vgl. 73,4). Doch der König lässt sich nicht abhalten: [W]as du mir gebeutest, fraw, das geschicht,sagt er und meint damit wohl »das war zumindest bisher so«, denn er fährt fort: het aber ich tausent muoter, durch die belibe ich nicht (71,3f.). Die Königin weiß offensichtlich, dass sie ihm sein Vorhaben eigentlich nicht verbieten oder ausreden darf (vgl. 72,1) und muss einsehen, dass ihr Sohn abentewr (78,2) suchen wird oder, wie sie es ausdrückt, in sorgen leben (78,1) will. So gibt sie schließlich nach: [V]ater und herre, manne unde kindelein, / […] so will ich dirs nit weren (72,2f.).
Uta Störmer-Caysa untersucht kritisch diese Anreden von Mutter zu Sohn: Während der Gebrauch des Wortes kindelein selbsterklärend und richtig ist (denn schließlich ist Ortnit ihr Sohn) und herre als Anrede für einen Herrscher, der der Lampartenkönig ebenfalls ist (vgl. 3f.), zutrifft, stößt sich Störmer-Caysa zu Recht an den seltsamen Anreden vater und manne. Dass der Sohn der Königin nicht ihr vater ist, liegt auf der Hand und muss als falsch erkannt werden. Auch manne scheint nicht zu passen.[43] Sieht man in Beate Hennigs Kleinem Mittelhochdeutschen Wörterbuch nach, zeigt sich, dass die Bezeichnung manne sowohl Mann (im Sinne von Mensch) als auch Ehemann, Geliebter, Untertan oder Held bedeuten kann.[44] Störmer-Caysa vertritt die Auffassung, dass die Königin »unter keinen Umständen« meinen kann, dass Ortnit ihr »Dienstmann« ist. Das stimmt zwar, allerdings ist ihre Schlussfolgerung, dass die Königin Ortnit daher »als [ihren] Ehemann«[45] bezeichnen muss, zu schnell gezogen, da es natürlich auch möglich ist, dass sie ihren Sohn vor Abritt »Held« oder »Krieger« nennt.
Nichtsdestotrotz ist die Aneinanderreihung auffällig unangemessen und grotesk. Was kann die Königin damit meinen? ‒ »natürlich meint sie: Du bist meine ganze Familie«[46] ‒ so schließt Störmer-Caysa ihre Untersuchung, betont jedoch, dass zumindest in der Fantasie der Königin ihr Sohn auch ihr manne (im Sinne eines Ehemanns) sei. Die Königin, so die Interpretation, hegt eindeutig inzestuöse Gedanken.
Eine Liebesbekundung der Mutter[47] »als sehr aggressiven Sprechakt«[48] auszudeuten und am Wunsch der Königin, den Sohn für sich zu behalten, ein inzestuöses Verlangen festzumachen, scheint mir diskutabel zu sein. Andere Formulierungen sind jedoch so deutlich sexuell aufgeladen, dass auch mir inzestuöse Anspielungen offenkundig gewollt erscheinen und es tatsächlich verwundert, dass die intime Beziehung von Mutter und Sohn im Gegensatz zur Vater-Tochter-Beziehung von Nachorel und der Prinzessin so wenig Beachtung in der Forschung gefunden hat:[49] [I]ch bin doch meiner muoter so nahen bei gelegen (151,2), erklärt Ortnit an späterer Stelle Alberich und kann damit nicht ein unschuldiges »nah am Herzen liegen« meinen.[50] Eine ähnliche Formulierung findet sich im Text nur noch in einem eindeutigen Sinn gebraucht: In Kontexten, in denen Ortnit von oder zu seiner Braut spricht und zweifelsohne ein sexuelles »nah bei einander liegen« meint. [I]ch geruoe nimmer, unz si mir nahen gelit (22,4), ruft der schmachtende König, als er von den inzestuösen Plänen des Brautvaters erfährt und erklärt später der Schönen, während er in ihrem Schoß ruhend den Tod durch ihres Vaters Hand erwartet: [M]ir ist vil laide daz ich dir nicht naher noch bin bei gelegen (466,3). Kurz gefasst: Eine sexuelle Bedeutung oder zumindest eine Anspielung auf Sexuelles muss daher in der Formulierung, der muoter so nahen bei gelegen zu sein, mitgelesen werden, zudem weitere Textstellen ebenfalls für eine solche Interpretation sprechen: [I]ch wil in dein genade setzen meinen leib (213,4), verspricht die Königin ihrem Sohn bei dessen Rückkehr vom Âventiure-Ritt und kurz darauf heißt es, dass sie ihn hiels und kusste […], unz er ir freundt ward (214,1).[51] Auch Ortnits Erklärung zu seiner Âventiure-Fahrt, die sich wie eine Legitimation aus höfischen Romanen liest und in solchen klassischerweise der Geliebten vorgebracht wird (vgl. 74,1‒75,4), kann in diese Richtung ausgelegt werden.
4.1.2 Die Gabe des vingerlein
Die anschließende Überlegung der Königin, ihrem Sohn eine stewr mitzugeben, damit er ihr immermere […] dester holder (78,2f.) bleibt, schließt daran an: Wenn du nu von mir reitest so gib ich dir das vingerlein (78,4). Ortnit verspricht sofort: ich swer dir sein ainen aid, / daz ich es niemand gibe, ist es dir anders laid (79,1f.), woraufhin die Mutter ihm daz golt (79,3) übergibt. Allerdings, so weiter, darf er es tatsächlich nicht weitergeben, sonst wird sie ihm nimmer holt (79,4). Ohne zu wissen, was der Ring für Fähigkeiten hat, versichert Ortnit, noch bevor die Mutter es überhaupt verlangt, den Ring nicht aus der Hand zu geben. Der Ring ist wohl ‒ so deutet Ortnit ihn zumindest ‒ ein zu bewahrendes Liebespfand, also ein Memorialzeichen.[52]
Als er die Gabe erhält, beginnt der König jedoch zu lachen, denn obwohl er den Ring vleissiclichen betrachtet, versteht er nicht, warum der Mutter ditz clain vingerlein so lieb (80,4) ist; ihm erscheint es nichtes weert (81,1). Es hat offensichtlich keinen materiellen Tauschwert, wie ihn Lieb in seinen Kategorien der Liebesgaben festgehalten hat, und sollte daher als Liebessymbol gemeint sein; Ortnits Lachen zeigt dennoch, dass er die Gabe nicht als ein solches versteht: Für ihn zählen weder eine mögliche Hintergrundgeschichte des Erwerbs oder der Herstellung noch der Akt der Übergabe. Auch dass die Königin sich ihm selbst metonymisch mit dem Ring geben könnte, scheint außerhalb des für ihn Möglichen zu liegen ‒ denn warum sollte er sonst lachen? Der Ring ist für den König kein »beseeltes Ding« im Sinne von Mauss’, erleichtert nicht wie bei Hoffmann die Trennung noch sorgt er für Nähe. Vielmehr zählen für ihn ausschließlich ökonomische Faktoren, Emotionen rücken hingegen in den Hintergrund. So kann Ortnit die Gabe erst verstehen, als die Königin ihm erklärt, dass der Stein des Rings, obwohl das golt selbstnur nutzes klaine (82,3) hat, reiche[s] birgt, ihn zu abenteuer (81,1f.) führen und ihn reich machen kann (vgl. 82,3f.).
Der Kontrast zwischen der sofortigen Versicherung Ortnits, den Ring nicht weiterzugeben, bevor er ihn überhaupt erhalten hat, und seinem Lachen, das erst von den Erklärungen der Königin gestoppt werden kann, ist sehr auffällig. Beide Situationen folgen zeitlich kurz aufeinander (79,1f. und 81,1f.) und werfen Fragen auf: Wieso deutet Ortnit in der einen Sekunde die Gabe offensichtlich als Liebespfand – und lacht in der nächsten darüber, kann keinen symbolischen Wert darin erkennen?
Zur Beantwortung dieser Fragen möchte ich noch einmal genauer die Reaktionen der Mutter betrachten. Denn ihr anfänglicher Widerwille gegen den von Ortnit aus eigenem Antrieb geplanten Aufbruch muss auffallen, besonders, da sie und Ortnit beide betonen, dass sie ihn eigentlich nicht davon abhalten darf.[53] Der Ausritt des Königs kann als ein Abkoppelungs- und Loslösungsversuch gelesen werden, den die Mutter offenbar nicht billigt. Auch die Tatsache, dass sie ihrem Sohn zusätzlich zum vingerlein eine Wegbeschreibung für seinen abenteur-Ritt in die wilde mitgibt (81,3; vgl. 83,1‒84,4), kann in ähnlicher Weise verstanden werden. Die Beschreibung der Mutter verwandelt den Plan des Sohns wieder in ihren eigenen Auftrag,[54] sodass Ortnit nicht mehr der höfische Held auf âventiure-Suche ist, sondern zum »Märchenritter«[55] wird.
Allerdings hält sich der König schon nach kurzer Zeit nicht mehr an die Bitte der Mutter, auf weitem Gefilde zu reiten und keerte in die wilde on strass und on phat (87,2); bewusst missachtet er ihren Rat. Während sie ihren Sohn gerne möglichst nah bei sich behalten will, will er sich offenbar von der Mutter lösen.
Vielleicht kann hierin eine mögliche Antwort auf die eben gestellten Fragen gefunden werden: Für Ortnit bedeutet die Gabe des vingerlein nicht dasselbe wie für die Königin. Zwar versteht er sie zuerst als Liebesgabe, doch geht seine Liebe nicht über eine materielle Ebene hinaus, einen symbolischen Charakter kann er nicht verstehen, weswegen er zunächst zu lachen beginnt. Es scheint, als gäbe es eine Divergenz in den Intentionen und Interpretationen von Königin und Ortnit, die sich am Marker des Rings zeigt.
4.2 Alberich, Ortnit und der Ring
[D]as golt und seinen stain (89,2) betrachtend gelangt Ortnit, obwohl er die Bitte der Mutter missachtet, zu der von ihr beschriebenen stainewant (90,1) und einer linden (90,2), unter der er den schlafenden Zwergenkönig Alberich findet.[56] Nur der staine (97,4) des Rings macht diesen sichtbar; das vingerlein erfüllt also tatsächlich seine Aufgabe. Ortnit möchte den Schlafenden zu seinem Pferd tragen, da erhält er plötzlich einen grosse[n] slag (101,2) ‒ es kommt zum Kampf.[57] Obwohl Alberich nur kindsgroß ist (vgl. 96,1), ist er zunächst stärker als Ortnit, der so stark wie zwelf man (6,3) ist.[58] Mit Mühe und Not siegt Ortnit schließlich doch, da Alberich zu sehr lachet und damit beschäftigt ist, Ortnit mit grossen spote (105,1f.) zu schmähen. Der unterlegene Alberich beginnt, allerlei Versprechungen zu machen, unter anderem eine wunderbare Rüstung und Hilfe bei der Werbung der Prinzessin (vgl. 111ff.).[59] Als der Lampartenkönig ihn schließlich auf [s]ein trewe (128,1) hin loslässt, hat Alberich eine bete (132,3), die nicht der schade (132,4) Ortnits sein soll ‒ so verspricht es Alberich zumindest, dem man allerdings, wie Ortnit gleich am eigenen Leib erfahren wird, nicht trauen sollte. Er möchte das vingerlein des Königs haben; als Gegenleistung verspricht er, dienst und aigen des Anderen zu sein (133,3). Ortnit, der dem Zwerg die Bitte anscheinend wirklich gern erfüllen würde, ist durch das der Mutter gegebene Versprechen gebunden: [I]ch gäb dirs vil gerne (134,2 und 134,4), beteuert er gleich zwei Mal, doch wagt er es nicht (vgl. 134,1), da es ihm verboten (134,2) ist. Jeden anderen Wunsch kann er gewähren, doch des Rings kann Ortnit nicht embern (134,4).
[W]arzuo ist es dir guot? (135,1), will Alberich nun wissen und Ortnit gibt zu: [E]s gab mirs mein muoter, der han ichs versworen (137,1). Der listige Alberich macht sich über dieses enge Verhältnis lustig: Das du so sere fürchtest eines weibes gerten schlag! / ich wän dein leib von wunden da nimmer genesen mag (138,1f.). Der Verweis an die Mutter und ihre Strafe lässt Ortnit, der eigentlich gestandener Ritter und darüber hinaus sogar König ist, zum kleinen Jungen werden, der die Schläge der Mutter fürchten muss, wenn er nicht tut, was sie gebietet.[60] Doch Ortnit lässt sich noch immer nicht überzeugen, da er fürchtet, sonst ir hulde (137,2) zu verlieren (und das zu Recht, hat sie doch gesagt: gibst du es aber iemand, ich wird dir nimmer holt [79,4]). Alberich muss die nächste List ersinnen und gibt vor, den Ring nur schawen (140,2) zu wollen. [N]u gib mirs dein trewe, daz du mirs wider gebest (140,4), verlangt Ortnit noch und Alberich schwört ihm aide (141,1). Doch sobald der Ring von einer Hand in die andere gewandert ist, verschwant der claine (141,4); Ortnit hat das Nachsehen. Unsichtbar ‒ und somit für den König außer Reichweite ‒ erklärt der Zwerg, dass nur der Stein des Rings ihn sichtbar gemacht hat und Ortnit es nicht überwinde[n] wird, dass er ihn von [s]einer hende (142,3ff.) gegeben hat. Er schmäht: [W]ie mich die slege erbarment, die dir dein muoter tuot (150,4), doch Ortnit macht das nichts aus, wenn er erklärt: [I]ch bin doch meiner muoter so nahen bei gelegen, / daz ich billichen leide was mir von ir geschicht (151,2f.).
Auf den ersten Blick mag es verwundern, dass Alberich, der nun der Überlegene ist, als nächstes verspricht, den Ring zurückzugeben, wenn Ortnit sich anhört, was er über seine Mutter zu sagen hat (vgl. 152ff.). Störmer-Caysa führt Alberichs Einlenken auf die deutlich formulierten inzestuösen Gedanken Ortnits zurück, die sich im nahen bei gelegen widerspiegeln: »So viel Deutlichkeit verdirbt Alberich den Spaß am Spott und läßt ihn einlenken, um das Schlimmste zu verhindern«.[61] Harms jedoch deutet die Episode als eine Prüfung Alberichs aus, der herausfinden möchte, ob Ortnit die Ehre der Mutter höher als den Ringbesitz stellt.[62] Mir scheint diese Interpretation plausibler, denn tatsächlich freut sich Alberich sehr (wol dich, selig kindt! 154,1), als Ortnit seine Mutter als tugendreiche[s] weib (153,3) verteidigt, droht, den Unsichtbaren zu töten, wenn er ihn findet, und sein gesamtes Vermögen für die Rückgabe des Rings verspricht (vgl. 144,4).
Schließlich stimmt Ortnit dem Handel »Ring gegen Zuhören« zu und der Zwerg berichtet, dass Ortnits Mutter zwen man (161,4) gehabt hat, ihr verstorbener Ehemann somit nicht Ortnits Vater ist, sondern er selbst (vgl. 164,4). Ortnit ist rasend vor Zorn, fordert, seine Mutter müsse dafür auf einer hürde brinnen (166,2). Ohne zu bedenken, was für Folgen für ihn aus diesen Umständen erwachsen könnten (denn immerhin ist er selbst Kuckuckskind und somit nicht legitimier Erbe!), glaubt er Alberich ohne jeden Beweis und will die Königin, zu der er kurz zuvor noch eine enge Bindung betonte, vorbehaltlos auf einem Scheiterhaufen brennen sehen. »Wut, Eifersucht, grausames Rachegelüst«[63] ‒ Ortnit handelt wie der gehörnte Ehemann, nicht wie der Sohn, sozusagen als Stellvertreter des verstorbenen Königs von Lamparten. Alberich betont, dass Ortnit durch seine Vaterschaft gehöhet (167,2) und die Königin außerdem unschuldig sei, da er sie unsichtbar und an iren dank (168,4) vergewaltigt habe.[64] Schließlich sieht Ortnit ein, dass seine Wut nichts nützt, denn was auch immer er tut, er kann nicht ungeschehen machen, was passiert ist (vgl. 174,4).
Doch wieder bleiben Fragen zurück: Wie kommt es zu diesem (erneuten) plötzlichen Sinneswandel? Wieso beruhigt sich der König so schnell, nachdem er kurz zuvor noch den grausamen Tod der eigenen Mutter auf dem Scheiterhaufen gefordert hat? Sind es Alberichs Argumente, die ihn überzeugen?
Ich glaube, dass die Antwort auf diese Fragen nur zum Teil in den Erklärungen des Zwergs gefunden werden kann und Ortnits Einlenken vor allem an den Gaben Alberichs liegt. Denn zum Abschied schenkt dieser seinem Sohn die versprochene Rüstung (vgl. 176,1‒177,4). Ortnit bezeichnet sie als wunder (178,3), hat noch nie etwas als ebene (182,1) gesehen und springt sogar fröhlich darin herum (vgl. 180,2). Als Alberich jetzt gleich zweimal betont, dass Ortnit die Mutter nicht erzürnen darf, wenn er möchte, dass er ihm dient (182,4 und 183,1f.),[65] verspricht Ortnit sofort: [E]e daz ich si [die Mutter] erzürnte, ich erzurnet lieber got (183,4). Wieder gibt es einen schnellen Sinneswandel des Königs; sein Zorn ist so schnell verpufft, wie er aufgetaucht ist. Die eingenommene Rolle des väterlichen Stellvertreters, passt scheinbar nicht zu Ortnit, so schnell schüttelt er sie bei der ersten Gelegenheit ab. Vom tobenden Hintergangenen wird er innerhalb weniger Abschnitte zum kleinen Jungen, der fröhlich in der neuen glänzenden Rüstung herumspringt.
In dieser Episode zeigt sich zum ersten Mal die Zauberkraft des Rings; er macht die Begegnung zwischen König und Zwerg überhaupt erst möglich. Zusätzlich verursacht er das Gespräch, in dessen Verlauf sich Alberich als Vater offenbart. Er markiert eine Prüfung, der Alberich seinen Sohn unterzieht. Seine Weitergabe und die damit verbundene Verärgerung der Mutter werden problematisiert und zur Bedingung für Alberichs Dienste.
5. Die Ehefrau und das vingerlein
Im folgenden Kapitel untersuche ich die Szene, in der Ortnit sich zum Aufbruch gegen die vom Brautvater aus Rache gesendeten würm, die nieman kainen friden geben (522,4), mit seiner Frau über ihr weiteres Schicksal berät. Beim Abschied fordert er ihr vingerlein ‒ allerdings nicht nur einmal, denn nach dem Aufbruch bemerkt er, dass er den Ring, der Alberich sichtbar macht, bei ihr vergessen hat. So muss er umkehren und den Ring der Mutter holen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es neben dem Zauberring noch einen zweiten Ring gibt: den Ring der Ehefrau, ihre minne-Gabe. Anschließend werde ich untersuchen, ob die anfangs so stark problematisierte Weitergabe des Rings Konsequenzen hat.
5.1 Doppelte (Rück-)Forderung
Ortnit klagt vor dem Aufbruch in seiner Kammer (vgl. 525,2) und als er seine Frau in sein Vorhaben einweiht, wainten baide sere (543,4). Beide glauben offensichtlich nicht an seinen Sieg und seine Heimkehr, denn er gibt seiner Liebsten genaue Anweisungen, die sie nach seinem Aufbruch befolgen soll (vgl. 546‒549). Dazu fordert er: [G]ib mir dein vingerlein (546,1). Wer ihr das zurückbringt, dem soll sie seinen Tod glauben (vgl. 546,2ff.). Der König verabschiedet sich und reitet los, doch schon nach ein weile (552,1) fällt ihm auf: [I]ch muoss widere zu der künigin: / ich vinde nicht Alberiches, ich hab dann das vingerlin (552,3f.). Anscheinend hat Ortnit das vingerlin doch vergessen. Im Text heißt es an dieser Stelle: Dannoch stuond si auf der maure und sach im alles nach (553,1).[66] [S]i freute sich (553,2) als sie ihn erblickt, denn sie denkt, er hätte sich umentschieden. Doch Ortnit erklärt sofort: Ich het es gar vergessen: gib mir mein vingerlein! (554,1). Die Königin klagt zwar, welches Memorialzeichen sie anstelle des Rings nehmen soll (554,2), gibt ihm aber schließlich sein golt (554,4). An dieser Stelle lohnt sich ein genauerer Blick. Denn kurz zuvor, beim ersten Abschied, fordert Ortnit: [G]ib mir dein vingerlein (546,1 [Sperrung LLW]). Nun spricht er von seinem vingerlein. Bedeutet das, dass es zwei Ringe gibt?
Tatsächlich taucht schon vorher in der Handlung ein anderer Ring auf: Bei der Brautwerbung gibt die Prinzessin Alberich ihr golt (413,1) mit, das dieser Ortnit als Zeichen ihrer treuen (413,2) überbringen soll. Dieses vingerlin ist Symbol ihrer holden minne (415,4) und als solches versteht Ortnit es auch ‒ im Gegensatz zur Gabe der Mutter. Der Ring der Prinzessin fungiert als Besiegelung eines Paktes: Ihre minne-Gabe ist an die Bedingung geknüpft, dass ihr Vater im Kampf verschont wird (vgl. 409,4).
Der Ring, den Ortnit beim ersten Abschied von seiner Frau fordert und der als Erkennungszeichen für seinen Tod gelten soll, ist, so interpretiere ich diese Stelle, eben der Ring, den sie ihm damals zum Zeichen ihrer minne geschickt hat; es ist ihr vingerlein, und ihr vingerlein fordert er auch. Der zweite Ring, den der König vergessen hat und wegen dem er zurückreiten muss, ist ganz offensichtlich der Ring der Mutter, der Alberich sichtbar macht; er bezeichnet ihn als sein vingerlein. Ortnit hat ihn offenbar seiner Frau gegeben, und mehr noch: »Sie betrachtete den Zauberring, den sie zurückgibt, als Anlaß zum Gedenken an Ortnit, so war er ihr offenbar gegeben worden.«[67] Die Rückgabe des Rings ist für die Königin Anlass zur Klage, denn nun hat sie kein Liebessymbol mehr, das sie an ihren Mann erinnern kann; Ortnit hingegen hat nun zwei Ringe.
5.2 Die Weitergabe des vingerlein – ein Problem?
Sehr kurz wird das anschließende letzte Aufeinandertreffen Ortnits und Alberichs abgehandelt, in welchem der Ring zurück zu seinem ursprünglichen Besitzer wechselt. Alberich unterstützt Ortnits Vorhaben nicht, den wurm [zu] bestan (556,2) und verweigert ihm Unterstützung (vgl. 557,1). Gib mit mein vingerlin! (560,3), fordert der Zwergenkönig mit zorne (556,3). Nur, wenn Ortnit vom Kampf zurückkehrt, bekommt er auch den Ring wieder (vgl. 560,4). Ortnit wirft ihm den Ring auf das gras (561,1) und verabschiedet sich.
Schlussendlich hat das vingerlein seinen Weg also zurück zu Alberich gefunden. Doch hat es im Verlauf der Handlung nicht nur einmal den Besitzer gewechselt: Die Mutter gibt Ortnit den Ring, dieser lässt ihn sich vom listigen Alberich abluchsen, erhält ihn zurück, gibt ihn an anderer Stelle seinem Onkel Ylias[68] und schließlich seiner Frau als Memorialzeichen, bis er ihn kurz vor seinem Tod zurückfordert und Alberich aushändigt.
Doch verspricht Ortnit der Mutter anfangs, den Ring nicht weiterzugeben (vgl. 79,1f.). Gleich zwei Mal betont sie, wie wichtig ihr dieses Versprechen ist: [U]nd gibst du es aber iemand, ich wird dir nimmer holt (79,4) und ditz selbe vingerlein, / daz du das nicht gäbest (82,1f.). Offensichtlich bricht Ortnit dieses Versprechen, doch wird die Weitergabe des Rings nur in der Situation mit Alberich problematisiert (s. Kapitel 4.2). Als Ortnit Ylias den Ring übergibt, wird nicht einmal deutlich, ob er ihn anschließend zurückbekommt oder nicht.Wir können wohl davon ausgehen, dass er den Ring wieder an sich nimmt und später seiner Frau gibt, da er ihn vor seinem endgültigen Aufbruch von ihr fordert. Doch wird die Weiter- und Rückgabe nicht thematisiert, was vor allem verwundert, wenn man an die Worte Alberichs denkt, als er seinem Sohn den Ring entwendet: Ortnit werde es nicht überwinde[n], so Alberich, dass er den Ring von [s]einer hende (142,3ff.) gegeben hat.
Doch zumindest auf den ersten Blick scheint es, als würde es keine Konsequenzen aus dem Brechen des der Mutter gegebenen Versprechens für Ortnit geben. Allerdings wird, wie wir wissen, König Ortnit schließlich in slafende (572,2) von dem Drachen verschleppt und von dessen kinden, die seine Rüstung nicht knacken können, aus derselben herausgesaugt (vgl. 574,3f.). Vielleicht kann in diesem »unrühmliche[n] Ende«[69] des Königs, das in der Forschung für sehr unterschiedliche Interpretationsansätze gesorgt hat, eine Erklärung für diese Leerstelle gefunden werden.[70] Die Weitergabe des vingerlins kann als Kränkung und Missachtung der Eltern und ihrer Gebote gedeutet werden. Sowohl im höfischen als auch im christlichen Kontext bedeutet das einen starken Fehltritt und könnte somit Ortnits ruhmlosen Tod rechtfertigen.[71]
6. Fazit
Wie ich gezeigt habe, variiert die Bedeutung des vingerlein im Ortnit von Situation zu Situation stark. Im Kontext mit der Mutter markiert der Ring eine Störung der Mutter-Sohn-Beziehung: Die Mutter will ihren Sohn möglichst nah bei sich behalten und seinen Aufbruch zum Âventiure-Ritt verhindern. Da ihr das nicht gelingt, möchte sie mit der Gabe des Rings und der Wegbeschreibung wenigstens den Loslösungsversuch des Sohnes wieder nach ihrem eigenen Plan ablaufen sehen. Libidinöse Gedanken und Anspielungen sind überdeutlich – vielleicht sogar Taten; in jedem Fall wird deutlich, dass die Beziehung zwischen der Mutter und Ortnit sich am Rand des Inzestuösen bewegt. Ortnits Âventiure-Fahrt kann als Schlüsselszene für seinen Loslösungsprozess gesehen werden. Die Gabe der Mutter versteht er zunächst nicht, da sich ihm kein materieller Wert offenbart und so lacht er darüber. Erst, als sie ihm erklärt, welche Zauberkraft der Ring besitzt, kann er die Gabe verstehen. Die Bitte der Mutter, ihrer Wegbeschreibung zu folgen, missachtet er bewusst, was ebenfalls als Akt der Rebellion und Loslösung verstanden werden kann.
In der Szene mit Alberich zeigt sich am Ring erneut die eben angeführte Problematik der zu engen Bindung von Ortnit und seiner Mutter. Dass der König das Versprechen, den Ring nicht wegzugeben, nicht brechen will, ist löblich – und doch lässt er ihn sich von Alberich abluchsen, der nur durch den Besitz des Rings Ortnit zum Zuhören bringen kann. Den Ring benutzt er dabei, um seinen Sohn zu testen und wirklich gelobt Ortnit, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um nur den Ring zurückzubekommen und die Mutter somit nicht zu enttäuschen. Auf die Erklärung Alberichs, dass seine Mutter zwei Männer gehabt hat, reagiert Ortnit in rasendem Zorn wie ein gehörnter Ehemann, doch verpufft diese Wut so schnell, wie sie gekommen ist. Durch die Gabe der Rüstung lässt er sich schnell wieder beruhigen und verspricht, die Mutter nicht zu erzürnen, damit ihm Alberich dient. Die Rolle des Ehemanns, so scheint es, passt Ortnit nicht gut, so schnell schüttelt er sie wieder ab.
Wie ich im letzten Kapitel herausgestellt habe, gibt es neben dem Zauberring, der Alberich sichtbar macht, einen weiteren Ring. Dieser ist die minne-Gabe der Frau, die Ortnit den Ring bei der Brautwerbung zum Zeichen ihrer minne und zur Besiegelung des Paktes, dass ihr Vater verschont bleibt, geschickt hat. Mit seiner Frau funktioniert die Liebesgabe im Gegensatz zur Gabe der Mutter. Ortnit kann den Ring als Liebesgabe verstehen. Dieser Ring ist es, den er beim ersten Aufbruch von ihr fordert und der ihr als Zeichen seines Todes gelten soll. Der Ring, den er verlangt, als er zurück zu ihr muss, ist der Zauberring. Offensichtlich hat er ihn ihr als Memorialzeichen gegeben, denn sie klagt, als er ihn mitnimmt, was sie nun zu seinem Andenken nehmen soll.
Die Weitergabe des Rings wird, so mutet der erste Blick an, nur anfangs im Gespräch mit der Mutter und mit Alberich thematisiert. Ortnit hat der Mutter versprochen, den Ring nicht weiterzugeben, tut das jedoch mehrmals. Alberich hat er versprochen, die Mutter nicht zu verärgern ‒ ein Versprechen, das er mit der Weitergabe des Rings ebenfalls gebrochen hat. Vielleicht kann der ruhmlose Tod des Königs als Erklärung dienen: Durch die Missachtung der elterlichen Gebote muss Ortnit sterben.
Das vingerlein im Ortnit, so lässt sich schließlich festhalten, markiert an den Stellen, an denen es auftaucht, stets Missverständnisse, verschiedene Interpretationen der Handelnden und Leerstellen.
[1] »Ash nazg durbatulûk, ash nazg gimbatul, / Ash nazg thrakatulûk agh burzum-ishi krimpatul.« Oder übersetzt: »One ring to rule them all, one ring to find them, / One ring to bring them all and in the darkness bind them.« (aus: J. R. R.Tolkien: The Lord of the Rings. Bd. I: The Fellowship of the Ring. 2. Aufl., 5. Impr. London: George Allen and Unwin Ltd. 1970, S. 59f.).
[2] Barbara Cartlidge: »Der Ring im 20. Jahrhundert.« In: Der Ring im Wandel der Zeit. Hrsg. von Anne Ward u. a. Erlangen: Karl Müller 1987, S. 135‒200. Hier S. 137.
[3] Vgl. Anne Ward: »Der Ring in der Antike.« In: Der Ring im Wandel der Zeit. Hrsg. von ders. u. a. Erlangen: Karl Müller 1987, S. 7‒50. Hier S. 9.
[4] Vgl. John Cherry: »Der Ring im Mittelalter.« In: Der Ring im Wandel der Zeit. Hrsg. von Anne Ward u. a. Erlangen: Karl Müller 1987, S. 51–85. Hier S. 53.
[5] Z. B. als Zierinitiale stellvertretend für ein O: vgl. Zeichnung eines Rings von Matthew Paris. Englisch. Größe des gezeichneten Ringkopfes: 2,3 x 1,9 cm. St. Albans Abbey. 1257. British Library, MS Nero D.I., fol. 146v. Abgebildet in: Ebd., S. 60, Abb. 115; vgl. Zeichnung eines Rings von Matthew Paris. Englisch. D des gezeichneten Rings: 2,5 cm. St. Albans Abbey. 1257. British Library, London, MS Nero D.I., fol. 146v. Abgebildet in: Ebd., S. 62, Abb. 120 u. 121.
[6] Otnit/Wolf Dietrich. Frühneuhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg. und übers. von Stephan Fuchs-Jolie, Victor Millet, Dietmar Peschel. Stuttgart: Reclam 2013.
[7] An dieser Stelle möchte ich hinzufügen, dass in dieser Arbeit natürlich kein Anspruch auf Vollständigkeit zu diesen und anderen Gabentheorien erhoben werden kann. Ich skizziere lediglich grob einige Grundgedanken, die besonders in Bezug auf die Übergabe von Ringen interessant erscheinen.
[8] Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Bd. 3: fadum‒fûstslag. Hrsg. von Albert L. Lloyd, Rosemarie Lühr. Göttingen: Vandenboeck & Ruprecht 2007, Sp. 258f.
[9] Frank Fürbeth: »rinc und vingerlîn in der deutschen Literatur des Mittelalters. Unter besonderer Berücksichtigung des Guldein vingerlein des Mönchs von Salzburg und Heinrich Wittenwilers Ring.« In: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne. Hrsg. von Anna Mühlherr u. a. Berlin, Boston: De Gruyter 2016, S. 406‒442. Hier S. 429. Als Abgrenzung dazu: Ebd., bes. S. 412‒423.
[10] Vgl. ebd., S. 429; 431.
[11] Ebd., S. 423.
[12] Ebd., S. 425.
[13] Ebd., S. 423.
[14] Vgl. ebd., S. 423f.
[15] Vgl. ebd., S. 425. So heißt es im Iwein: und lât diz vingerlîn / einen geziuc der rede sîn. (Hartmann von Aue: Iwein. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg. und übers. von Rüdiger Krohn. Kommentiert von Mireille Schnyder. Stuttgart: Reclam 2012,S.2945f.). Im Tristan erkennt Marke Tristan am vingerlîn, das er einst selbst seiner Schwester gab (vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan. Bd. 1. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. 13. Aufl. Stuttgart: Reclam 2010, S. 4286‒4299).
Zu dem Motiv des Rings als Erkennungszeichen in mittelhochdeutscher und orientalischer Literatur: vgl. Alev Tekinay: Materialien zum vergleichenden Studium von Erzählmotiven in der deutschen Dichtung des Mittelalters und den Literaturen des Orients. Frankfurt am Main: Lang 1980.
[16] Vgl. Frank Führbeth: »rinc und vingerlîn.« S. 425. Später wird dieses Ritual mit Verlobungs- oder Eheringen institutionalisiert.
[17] Vgl. ebd., S. 424. Der junge Parzival nimmt der schlafenden Herzogin Jeschute gegen ihren Willen einen Ring vom Finger und einen Kuss von den Lippen. Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Bd. 1. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Lachmann. Übers. und Nachwort von Wolfgang Spiewok. Stuttgart: Reclam 2016, V. 129,27‒133,28, bes. 130,26‒131,16; 132,10‒14; 133,19f.
[18] Im Parzival heißt es, dass Orilus seiner Liebsten daz vingerlîn wider an ir hant [stiez](ebd., V. 270,10). Im Ortnit hingegen begegnet uns die Formulierung in nicht sexuell aufgeladenem Kontext, wenn Ortnit zu seinem Onkel Ylias sagt: wilt dus nu gerne schawen, so nim das vinderlein / und stoss es an den vinger, so wirt es dir bekant (V. 240,2f.). Allerdings stößt Ylias es hier auch an den eigenen Finger.
[19] Vgl. Frank Führbeth: »rinc und vingerlîn.« S. 426.
[20] [M]it gesteine ein guldîn vingerlîn / stiez ez an sîne zesewen hant: / dô wart im grôziu kraft bekant / zwelf manne sterke ez gewan (Laurin. Ein tirolisches Heldenmärchen. Aus dem Anfange des XIII. Jahrhunderts. Hrsg. von Karl Müllenhoff. 5. Aufl. Berlin: Wedmann 1948, V. 1174‒1177).
[21] [H]erre Îwein, nemt hin diz vingerlîn. / ez ist umbe den stein alsô gewant: / swer in hât in blôzzer hant, / den mac niemen al die frist / unz er in blôzzer hant ist, / gesehn noch vinden (Hartmann von Aue: Iwein. V. 1202–1207). Allerdings ist der stein hier der magische Gegenstand. Mehr zu magischen Edelsteinringen bei: Richard Kieckhefer: Magie im Mittelalter. München: Beck 1992, S. 118‒134, bes. S. 120–124; Christel Meier: Gemma Spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink 1977, S. 413–460.
[22] Margreth Egidi, Moritz Wedell: »Perspektiven einer Poetik der Liebesgabe. Einleitung.« In: Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Margreth Egidi u. a. Berlin: Schmidt 2012, S. 9‒31. Hier S. 11.
[23] Marcel Mauss: »Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften.« In: Soziologie und Anthropologie. Bd. 2: Gabentausch, Soziologie und Psychologie, Todesvorstellung, Körpertechniken, Begriff der Person. Hrsg. von dems. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Henning Ritter, Axel Schmalfuß. München: Hanser 1975, S. 9–144.
[24] Margreth Egidi, Moritz Wedell: » Poetik der Liebesgabe.« S. 11f. Im Unterschied dazu verpflichtet der Kauf den Käufer des Gegenstands nicht gegenüber dem Verkäufer. Hier entsteht keine wechselseitige Verpflichtung; mit dem Kauf selbst endet die Transaktion.
[25] Marcel Mauss: »Die Gabe.« S. 93. Kursivierungen im Original.
[26] Ebd., S. 39. Mehr dazu in: Ebd., bes. S. 29; S. 80‒87.
[27] Ulrich Hoffmann: »Griffel, Ring und andere ding. Fetischisierung und Medialisierung der Liebe in Floris-Romanen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.« In: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne. Hrsg. von Anna Mühlherr u. a. Berlin, Boston: De Gruyter 2016, S. 358‒388. Hier S. 375. Zu weiteren Liebesgaben wie etwa Kleidergaben, Briefgaben oder Blumengeschenken: Margreth Egidi u. a. (Hrsg.): Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Berlin: Schmidt 2012.
[28] Ulrich Hoffmann: »Griffel, Ring und andere ding.« S. 378.
[29] Ebd., S. 361.
[30] Ludger Lieb: »Kann denn Schenken Sünde sein? Liebesgaben in Literatur und Kunst von Ovid bis zum Gothaer Liebespaar (um 1480).« In: Geist und Geld. Hrsg. von Annette Kehnel. Frankfurt am Main: Frankfurter Allg. Buch 2009, S. 185‒218. Hier S. 186.
[31] Ebd., S. 187. Anführungszeichen im Text.
[32] »Am Beispiel des Rings bedeutet das: Der Ring kann aus wertvollem Gold sein, und dieser Wert bezeichnet den Wert der Liebe.« (Ebd., S. 188).
[33] »Am Beispiel des Rings: Die Kreisform bezeichnet Unendlichkeit der Liebe, die Beständigkeit des Materials bezeichnet Treue usw.« (Ebd., S. 188).
[34] »Am Beispiel des Rings: Wenn die Frau ihrem Geliebten einen Ring aus einem seltenen Material schenkt, vom dem die Frau weiß, dass der Mann es liebt, und wenn sie extra wegen des Rings in ein fernes Land gereist war, weil es nur dort einen solchen Ring gibt, verweist der Ring stets auf diese Erwerbsgeschichte, und sie verleiht dem Ring eine besondere Bedeutung. Analog gilt das natürlich auch schon für die an der Schießbude geschossene Papierblume.« (Ebd., S. 189).
[35] »Am Beispiel des Rings: Der selbstgemachte Ring verweist auf den liebenden Hersteller.« (Ebd., S. 189).
[36] »Am Beispiel des Rings: Der Ring erinnert an die Verlobung, Eheschließung oder Ähnliches.« (Ebd., S. 189).
[37] »Am Beispiel des Rings: Der Ring ist Objekt magischer Anwesenheit des abwesenden Schenkers. Um solche Anwesenheit wiederum zu deklarieren, kann in den Ring der Name des Partners eingraviert werden; der Gebende schreibt sich so in die Gabe ein.« (Ebd., S. 189).
[38] Ebd., S. 188.
[39] Ebd., S. 215.
[40] Ludger Lieb: »Kann denn Schenken Sünde sein.« S. 198.
[41] Im Parzival etwa findet mehrfach eine »Überwindung der Liebesgaben-Minne« statt, bis schließlich eine minne-Ehe etabliert wird, die »ohne Liebesgaben von hohem materiellen Tauschwert auskommt« (vgl. ebd., S. 198‒201; Zitate S. 200).
[42] Ebd., S. 198.
[43] Vgl. Uta Störmer-Caysa: »Ortnits Mutter, die Drachen und der Zwerg.« In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 128 (1999) H. 3, S. 282‒308. Hier S. 288f.
[44] Vgl. Beate Hennig: »[Art.] man1.« In: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch. 6., durchgesehene Aufl. Berlin, Boston: De Gruyter 2014, S. 206.
[45] Uta Störmer-Caysa: »Mutter, Drachen und Zwerg.« S. 289.
[46] Ebd., S. 289.
[47] Da sprach die fraw in züchten ›du bist mein liebes kint, / seit alle meine mage an dich gedigen sint / und auch an meinen bruoder, deinen oheim Ylias, / den künig von wilden Reussen, der dir ie getrewe was.‹ (76,1‒4).
[48] Uta Störmer-Caysa: »Mutter, Drachen und Zwerg.« S. 291.
[49] So heißt es über Nachorel und seine Pläne, die eigene Tochter zu heiraten: [E]r hat im fürgesetzet des er sich solte schämen: / wenn im die muoter stirbet, so wil er die tochter nemen (21,3f.). Die Mutter-Sohn-Beziehung im Ortnit taucht in thematisch passender Forschung nicht auf bei: Danielle Buschinger: »Das Inzest-Motiv in der mittelalterlichen Literatur.« In: Psychologie in der Mediävistik. Hrsg. von Jürgen Kühnel u. a. Göppingen: Kümmerle 1985, S. 107‒140; Claudia Brinker-von der Heyde: Geliebte Mütter ‒ Mütterliche Geliebte. Rolleninszenierungen in höfischen Romanen. Bonn: Bouvier 1996; Ingrid Bennewitz: »Mädchen ohne Hände. Der Vater-Tochter-Inzest in der mittelhochdeutschen und frühneuhochdeutschen Erzählliteratur.« In: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Kurt Gärtner, Ingrid Kasten, Frank Shaw. Tübingen: Niemeyer 1996, S. 157‒172.
[50] Vgl. dazu: »[Art.] bî-ligen, -geligen.« Hier wird bîligen übersetzt mit »schlafen mit; die Ehe schließen/vollziehen mit; liegen bei« (Beate Hennig: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch. S. 38).
[51] Vgl. dazu: »[Art.] vriunt, vrûnt, vrîwent, vûrnt, vrônt, wrûnt.« Friunt kann mit »Freund; Geliebter; Gemahl; Verwandter« (ebd.HeHHennebdebd, S. 424) übersetzt werden, doch scheint ‒ gerade in dem verwendeten Kontext hiels und kusste ‒ eine sexuelle Deutungsebene naheliegend.
[52] Vgl. Uta Störmer-Caysa: »Mutter, Drachen und Zwerg.« S. 292.
[53] Ortnit zu ihr: [D]u solt mir nicht irren den willen noch den streit (71,2) und sie gibt zu: Ich solts nicht widerraten (72,1).
[54] Vgl. Uta Störmer-Caysa: »Mutter, Drachen und Zwerg.« S. 292.
[55] Christian Schmid-Cadalbert: Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur. Bern: Francke 1985, S. 136. Mehr zu Ortnits Ritt nach âventiure, zur anschließenden sprachlichen Beschreibungen des locus amoenus und dem Aufbau der Episode, die dem klassischen Schema eines höfischen Romans gleichen: Vgl. ebd., bes. S. 130; 134; 142.
[56] Zu weiteren Ausführungen zur stainwant im Ortnit: Stephan Fuchs-Jolie: »stainwant. König Otnits Tod und die heterotope Ordnung der Dinge.« In: Projektion ‒ Reflexion ‒ Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. Hrsg. von Sonja Glauch, Susanne Köbele, Uta Störmer-Caysa. Berlin, Boston: De Gruyter 2011, S. 39‒59. Mehr zum locus amoenus: Julia Zimmermann: »Anderwelt ‒ mythischer Raum ‒ Heterotopie. Zum Raum des Zwerges in der mittelhochdeutschen Heldenepik.« In: 9. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Heldenzeiten ‒ Heldenräume. Wann und wo spielen Heldendichtung und Heldensage? Hrsg. von Johannes Keller, Florian Kragl. Wien: Fassbaender 2007, S. 195‒219, bes. S. 206f; Schmid-Cadalbert: Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. S. 139.
[57] Ich bin nach abentewr geriten diese nacht. / nu hat mich got der guote under diese linden bracht (99,1f.). [S]eit ich nach abentewr heer geriten bin / und ich nicht anders vinde, so muost du mit mir hin (99,3f.). Mehr zum Kampf bei Wolfgang Harms: Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen Literatur bis um 1300. München: Eidos 1963, S. 48‒52, bes. S. 49f.
[58] [Z]welf man sterke het der wunder küene man (6,3) und später erneut: Zwelf manne sterke het der ungefüege man (106,1).
[59] Ob Alberich tatsächlich körperlich unterlegen ist oder, wie Harms Alberichs Unterlegenheit deutet, er diese nur vorspielt und noch immer der »souveräne Lenker dieser Szene« ist, der nur »das Wesen seines Sohnes […] erproben« (Wolfgang Harms: Kampf mit dem Freund. S. 49) will, scheint mir eine interessante Überlegung zu sein, die ich an dieser Stelle jedoch nur erwähnen möchte.
[60] Ob Alberich tatsächlich an dieser Stelle eine inzestuöse Gefahr von Seiten der Mutter sieht und Ortnit nur deshalb so reizt, damit dieser aus dem »skandalösen Einverständnis« mit der Mutter herausfindet, das »anstößig zu finden es ihm offenbar schlicht an Verstand fehlt« (Uta Störmer-Caysa: »Mutter, Drachen und Zwerg.« S. 294) finde ich eine interessante Überlegung. Da jedoch schon wenig später Alberich selbst seinem Sohn androht, er müsse auf seine Dienste verzichten, sollte er die Mutter verärgern (vgl. 183,1f.), scheint sie mir nicht haltbar.
[61] Uta Störmer-Caysa: »Mutter, Drachen und Zwerg.« S. 295.
[62] Vgl. Wolfgang Harms: Kampf mit dem Freund. S. 49.
[63] Uta Störmer-Caysa: »Mutter, Drachen und Zwerg.« S. 296.
[64] [S]i wainte hart haisse da ichs allererst bezwang. / du solt mit ir nicht zürnen (168,3f.), erklärt er.
[65] Gleichzeitig sorgt jedoch auch das vingerlein dafür, dass Ortnit Alberich nimmer verliesen (189,4) kann. Alberich muss ihm dienen, solange er den Ring besitzt.
[66] Störmer-Caysa untersucht diese Textstelle kritisch und fragt: Ist hier tatsächlich die Frau gemeint? Oder ist es die Mutter? (vgl. Uta Störmer-Caysa: »Mutter, Drachen und Zwerg.« S. 285). Denn, wie wir wissen, gehörte der Ring, der Alberich sichtbar macht, ursprünglich der Mutter und Ortnit hat ihr versprochen, ihn nicht weiterzugeben (vgl. 79,4). Allerdings macht die Formulierung [d]annoch stuond si deutlich, dass die auf der Mauer stehende künigin die Ehefrau sein muss, von der er sich zuvor verabschiedet hat.
[67] Ebd., S. 287.
[68] Auf der Schiffsreise über mer (18,4) rät Alberich Ortnit zur Weitergabe des Rings an seinen Onkel Ylias: [W]enn ir mich bede wisset, so ist euch dester bas (232,4). Nach diesem Rat übergibt Ortnit Ylias das vingerlein (240,2), welcher es es an den vinger [stosst](240,3) und Alberich nun offenbar sehen kann (vgl. 240,4).
[69] Carola L. Gottzmann: Heldendichtung des 13. Jahrhunderts. Siegfried ‒ Dietrich ‒ Ortnit. Frankfurt am Main u. a.: Lang 1987, S. 171.
[70] Björn Klaus Buschbeck spricht sogar von einem »in der mediävistischen Forschung […] nicht geringe[m] Maß an interpretatorischer Verunsicherung« (Björn Klaus Buschbeck: »Ein Held, der keiner mehr sein wollte. König Ortnits Tod und das Problem, eine Heldenerzählung zu beenden.« In: Zeitschrift für deutsche Philologie 136 (2017) H. 3, S. 363‒386. Hier S. 375).
[71] Vgl. Störmer-Caysa: »Mutter, Drachen und Zwerg.« S. 303f.; vgl. Christian Schmid-Cadalbert: Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung, S. 153.