Rezension: Schöner Lesen

Zwischen Freiheit, fehlenden Freiräumen und Folgeerscheinungen: #frauenlesen in der Reihe Schöner Lesen des Verlags SUKULTUR im Jahr 2019

Kleine, gelbe Hefte im Taschenformat zu erschwinglichen Preisen: Eigentlich sind das doch die ständigen Begleiterinnen aus dem Deutschkurs der weiterführenden Schule. Doch es handelt sich in diesem Falle nicht um den Reclam-Verlag, der in seiner Universalbibliothek Klassiker der Literatur- und Geistesgeschichte in diesem einprägsamen Format herausbringt, sondern um die Hefte der Reihe Schöner Lesen des kleinen Verlags SUKULTUR aus dem Norden Berlins. Das Gelb ist ein wenig saftiger, das Papier fester als bei Reclam und, wenn man genau hinsieht, sind die Hefte ein wenig größer als das Vorbild. SUKULTUR versucht aber nicht programmatisch ein Reclam-Abklatsch zu sein. Nein, grob zusammengefasst, findet sich im Verlagsprogramm alles, was die Formverwandten aus Ditzingen in ihrer Universalbibliothek gerade nicht abdecken: unbekannte deutsche Gegenwartsliteratur, experimentelle Lyrik, politische und ästhetische Essays.

Die Reihe Schöner Lesen erscheint seit 24 Jahren und umfasst im April 2020 182 Nummern. Zunächst wurden die gelben Hefte hauptsächlich an Bahnsteigen in Süßigkeitenautomaten vertrieben: Eine gesunde Dosis Literatur neben dem Zuckerschock eines Snickers. Da bekommt geistige Nahrung eine ganz neue Bedeutung. Die Idee für den außergewöhnlichen Vertriebsweg entstand aus dem Wunsch, die Werke nicht etablierter Autor*innen unter Leute zu bringen, aber auch als Hommage an den Reclam-Verlag, der Anfang des 20. Jahrhunderts ebenfalls seine kleinen Taschenbücher in Buchverkaufsautomaten an den Bahnhöfen vertrieb. Das Konzept war trotz fortschreitender Digitalisierung erfolgreich. Zwischen 2004 und 2015 wurden über 100.000 Hefte auf diesem Wege verkauft. Inzwischen finden sich die kleinen Hefte auch in ausgewählten Buchhandlungen und natürlich online.

Bis zur Nummer 147 wurde die Reihe vom Programmleiter Marc Degens betreut, der jedoch die alleinige Programmverantwortung 2015 an Sofie Lichtenstein und Moritz Müller-Schwefe übertrug. Letzterer hatte 2018 auch in der anwesenheitsnotiz im Heft Nr. 09 eine Arbeit zu Bus- und Bahnfeuilletons veröffentlicht. Wie nah die jungen Herausgeber*innen noch an unserem studentischen Umfeld sind, merkt man an ihrem unaufhaltsamen Erneuerungsgeist. So liegt ihr Augenmerk auf Texten und Autor*innen, die in der Literaturwelt bis heute unterrepräsentiert sind. Vor allem jungen Autor*innen mit queeren, gesellschaftspolitischen oder digitalen Thematiken geben sie mit der Reihe Schöner Lesen eine Plattform. Unter #frauenlesen findet man so auch auf der Webseite des Verlags alle Veröffentlichungen von Frauen bei SUKULTUR.[1] Der Hashtag #frauenlesen entstand vor Jahren in den sozialen Medien und auf Buchblogs, um der stark männlich geprägten Literaturkritik in den Kulturressorts etwas entgegenzusetzen und mehr Werke von Schriftstellerinnen öffentlich zu besprechen. Mit ihrer Sektion #frauenlesen macht SUKULTUR nicht nur Autorinnen sichtbarer, sondern referiert positiv auf die unabhängige Rezensionskultur. Seit Beginn der Reihe Schöner Lesen sind nur 47 Hefte von Frauen erschienen, was gerade mal ein Viertel der Gesamtzahl ausmacht. Wenn man jedoch die Anteile seit der Programmverantwortung von Sofie Lichtenstein und Moritz Müller-Schwefe betrachtet, kommt man bei einem ausgeglichenen Verhältnis von 50% heraus.

Mit dem Blick auf das vergangene Jahr als abgeschlossene Einheit soll genau dieser Anstieg in veröffentlichten Texten von Autorinnen mit der Besprechung aller Publikationen von Frauen aus dem Jahre 2019 in der Reihe Schöner Lesen genauer betrachtet werden. Fünf der acht Lesehefte aus 2019 zählen offiziell zur Sektion #frauenlesen. Genau genommen sind es aber nur viereinhalb, denn Heft Nr. 177 enthält einen Text von der Autorin Lisa Krusche und einen Text des Autors Joshua Groß. Dementsprechend wird dieses Heft auch nur halbseitig besprochen. Gesamt werden in den folgenden Kritiken zwei Essays, zwei Prosatexte und eine übersetzte Gedichtsammlung von den Autorinnen Monica Fambrough, Christiane Frohmann, Lisa Krusche, Sofie Lichtenstein und Jess Tartas rezensiert. Nicht nur sind es Geschichten und Sichtweisen von Frauen, sondern auch über Frauen. Die Autorinnen verhandeln ihre Freiheiten und vielmehr noch ihre gesellschaftliche Ungleichheit in unterschiedlichen Formen und aus anderen Winkeln, aber sie alle schreiben mit einem intelligenten Humor. Ihre Texte sind relevant, laut, wütend und gleichzeitig freudig, beruhigend: Geschichten, die gefehlt haben und gelesen werden müssen. Diese fünf Lesehefte machen deutlich, wie unbedingt SUKULTUR letztes Jahr auf die Shortlist des Berliner Verlagspreises gehörte.

Vernünftige Mädchen

Nr. 172. Christiane Frohmann: Being Christiane F.

»Ein Lächeln steigt innerlich und äußerlich auf, denn ich begreife, unsere Verwandlung hat begonnen. Wir werden Christiane F. sein«(S. 4). Christiane Frohmann schreibt in ihrem Essay Being Christiane F. nicht über sich, wie man bei dem Titel annehmen könnte, sondern über die mediengenerierte Idee der drogensüchtigen Christiane Felscherinow. Diese Christiane F. wurde Ende der siebziger Jahre als Heroinsüchtige mit dem Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo und später mit der Verfilmung international berühmt.

Zu Beginn beschreibt Frohmann aus der Ich-Perspektive die Verwandlung in die Persona der Christiane F. und wie in dieser Verwandlung alle vernünftigen Mädchen weltweit repräsentiert sind. Als Leser*in wirkt es erst, als wäre man Christiane Felscherinow, die wirkliche Drogensüchtige, dann die Schauspielerin Natja Brunckhorst in ihrer Rolle des Films Christiane F.- Wir Kinder vom Bahnhof Zoo von 1981 und letztlich merkt man, dass es sich um die nicht greifbare Vorstellung des Selbst geht, Christiane F. zu sein. Auf einmal breitet sich heute wie beim ersten Kontakt mit der Figur in der Jugend ein Gefühl von Freiheit und Unbestimmbarkeit aus. Für Christiane Frohmann ist dies ein Teil des Phänomens Being Christiane F.

Frohmann erläutert im theoretischen zweiten Teil des Essays, wie sich von einer Figur ein ästhetisches und gesellschaftliches Phänomen ablösen kann und welche Wirkmacht dieses wiederum hat. Berühmt ist dann nicht die eigentliche Protagonistin Christiane Felscherinow, sondern das Abbild von ihr als eine Art Doppelgängerin. Ausgerufen durch einen Sternartikel, gefolgt vom Bestseller und letztlich vor allem durch die Verfilmung von 1981 ist eine Vorstellung von der Person Christiane F. entstanden, die die tatsächliche Christiane F. determiniert. Die Schauspielerin Natja Brunckhorst fungiert dabei in ihrer Darstellung der Christiane F. im Film von Uli Edel als Repräsentations- und Befreiungszustand für mehrere Generationen von Jugendlichen. Doch sie verkörpert auch nicht den Zustand Being Christiane F. Denn das Image ›Christiane F.‹ entsteht erst durch die abstrakte Identifikation der Rezipient*in mit der Figur. Im Vordergrund des Films steht so nicht die Drogen-Aufklärung, sondern die Ermöglichung einer virtuellen Jugendkultur in den achtziger Jahren für queere und weibliche Teenager, die in den Medien unterrepräsentiert waren. Es geht nicht um die Idealisierung von Drogensucht, sondern um das liminale Selbst, das für die Jugendlichen in der Vorstellung eröffnet wird. Frohmann sieht in der geheimen Image-Kultur Being Christiane F. eine »Vorstellungssphäre für minderjährige Mädchen, in der sie aufregend und glamourös sein können, ohne von Typen begrapscht oder bewertet werden zu können« (S. 11), da es nicht um den Drogenkonsum geht, sondern um die Vorstellung, frei von Determinierung und männlicher Einwirkung zu sein. Dabei betont sie, dass die Sucht der Christiane F. nicht glamourös ist, sondern der distanzierte Anblick von Süchtigen als »potenziell schöne Leichen« (S. 13) den Glamour erst ermöglicht. Nur weil Christiane Felscherinow und Natja Brunckhorst aus einer von Medien gesicherten Distanz betrachtet schöne Süchtige sind, sind sie glamourös. Sie personifizieren den attraktiven Abgrund für den Unsüchtigen.

Dass Christiane Felscherinow ihrem mediengemachten Image unterliegt, erläutert Frohmann, geht auf die beiden stern-Autoren zurück. Diese wollten einen Beitrag zur Analyse des Problems der Heroinsucht beitragen, aber haben eine fiktionalisierte Christiane F. erschaffen, die durch den »Typen-auf-Mädchen-Blick und 19.-Jahrhundert-Vokabulars als aktuelle Form der tragischen, d.h. schicksalshaft-unvermeidlich den eigenen Ruin bewirkenden romantischen Heldin« (S. 16) erst entstehen konnte. Frohmann verneint den bekannten Anspruch des Buches, dass Christiane F. eine Symbolfigur der Drogen-Jugendkultur ist, sondern betont das Being Christiane F. für eine »lebendig gehaltene Haltung, sich nicht unnötig determinieren zu lassen und andere nicht unnötig zu determinieren« (S. 17) steht.

Christiane Frohmanns Essay beschreibt zunächst, dass sich das Image der Christiane F. immer wieder von Schlüsselszenen des Filmes von 1981 und der wirklichen Christiane abhebt. Mit Leichtigkeit kann man hier ihrer kurzen Erzählung folgen, verliert sich in der Vorstellung, die berühmte Drogensüchtige zu sein, und denkt nostalgisch an die Filmrezeption zurück. Auf dem Cover des Heftes ist in Umrissen ein Standbild des Filmes nachgezeichnet, was man nach einer kurzen Beschreibung des ikonischen Bildes sofort zuordnen kann. Während man nun ganz in der Welt der Christiane F. steckt, nähert sich Frohmann im zweiten Teil des Textes theoretisch Christiane F. und erklärt die Figur als kulturelles Phänomen. Ihren Argumentationen zu folgen, stellt sich manchmal als schwierig dar, da man eine Fragestellung vermisst, die einen durch die Auseinandersetzung leitet. So wirkt der Text an Stellen unnötig verworren und komplex. Während es für Lesende, die sich nie mit Christiane F. auseinandergesetzt haben, schwierig ist, der Argumentation zu folgen, eröffnet der Text den Personen einen neuen Zugang zum Stoff, die Buch und Film kennen. Was man zunächst nur als eine reine fan-ähnliche Begeisterung für eine Drogensüchtige abgetan hätte, wird von Frohmann intelligent und vielschichtig als gesellschaftliches und mediales Phänomen eingeordnet. Es zeigt, welche Kraft in einer mediengemachten Figur steckt und wie die dahinterstehende wirkliche Person davon profitiert bzw. darunter leidet. Wie relevant die Auseinandersetzung auch heute noch mit dem Image von Christiane F. ist, zeigt die aktuelle Produktion der 8-teiligen High-End Dramaserie Wir Kinder vom Bahnhof Zoo von Amazon. Denn »Ich-bin-dreizehn-Jahre-alt-und-repräsentiere-alle-vernünftigen-Mädchen-weltweit« ist eine unschlagbar große Zielgruppe. Wer war nicht mal dreizehn und wollte anders sein als alle anderen?

Christiane Frohmann: »Being Christiane F.«  In: Schöner Lesen. Bd. 172. Hrsg. von Sofie Lichtenstein und Moritz Müller-Schwefe. Berlin: SUKULTUR 2019. 18 S. 2,00 €.

Da kann man nur noch kotzen

Nr. 174. Sofie Lichtenstein: Ösis, Piefke, Ovarien, Kuchen

Deutschland und Österreich schließen sich zusammen. Hans Klaus evaluiert sein Verhältnis zu den GMX News und es gibt wieder Aufstände, weil die Deutschen ihren Weltmeistertitel verlieren, wenn sich die »Ösis« der Nation anschließen. Frau Kehnscherper ist das alles reichlich egal, sie kämpft gegen die Körperlichkeit ihres Körpers. Ihr ist bewusst geworden, dass ihr Geist nicht autonom existiert, sondern von körperlicher Materie bedingt ist. Das will sie unter keinen Umständen. Sie will mehr sein. Ihr Hirn solle aufhören, ungefragt ihren Ovarialzyklus zu steuern. Kurz nach diesen Überlegungen kotzt sie zwischen die protestierenden Vereinigungsgegner aus Deutschland und Österreich, die sich gegenseitig die Schuld am Holocaust zuschieben. An anderem Ort, aber auch ohne Spielraum sitzt Frau Steinbach als Quotenfrau am Konferenztisch der entscheidungsbevollmächtigten Politiker. Warum, ist ihr nicht klar, nur dass sie zum Thema nichts sagen kann, bis ihr bewusst wird, dass sie genau deswegen eingeladen wurde. Herr Hosenfeld erklärt ihr großväterlich, dass der Anschluss des Nachbarlandes dazu führen würde, dass man endlich Schluss machen könnte mit der Vergangenheit. Denn der Holocaust hätte durch den Zusammenschluss in einem Land stattgefunden, dass es gar nicht mehr gibt. Genau das ist doch das, worauf Deutschland immer hingearbeitet hat.

Sofie Lichtenstein, die auch Herausgeberin der Reihe Schöner Lesen ist, diskutiert in ihrem Text pointiert und mit Witz deutsche Identität, die Gleichberechtigung der Frau und natürlich das deutsche Heiligtum Fußball. In fünf Abschnitten, die willkürlich nummeriert zu sein scheinen (10., 2., 6., 8., und am Ende der Prolog) wird das Szenario beschrieben in dem Österreich und Deutschland sich wiedervereinigen. Es gibt Montagsdemonstrationen, Wünsche, die »Auschwitz-Sache« endlich loszuwerden, starke Frauen, die hypochrondrisch googeln und sich nicht ihrem Körper unterwerfen wollen, sowie elende inoffizielle Tagungen mit fachfremden Quotenfrauen. Die Analogien zu PEGIDA, der AfD mit ihren Vogelschiss-Zitaten und Machtverhältnissen in der Politik liegen offensichtlich auf dem Tisch, aber ohne, dass der Text an Unterhaltsamkeit einbüßt.

Die Welt von Lichtensteins Erzählung erinnert sehr an die gegenwärtige Bundesrepublik und ist aber doch ein wenig – im wortwörtlichen Sinne – verrückt. Durch diesen schmalen Grad an Verfremdung gelingt Lichtenstein ein eindringlicher Kommentar zur Lage der Nation, getragen von feiner Komik, die sich neben der Überspitzung des Situativen und plakativer Namensgebung (Musilgasse, Familienministerin Frauke Kintlos), vor allem durch die Schnelligkeit der Syntax entwickelt. Kurze Feststellungen folgen langen Talfahrten von Gedankenfolgen bis diese wieder zu einem Ausruf führen. Die Sprache wechselt hierbei zwischen einem einfachen, umgangssprachlichen Ton von Hans Klaus (»Oh, verdammt, ham die bei GMX ausnahmsweise doch keine Räuberpistole erzählt;« S. 4) zu einer komplexeren Sprache gespickt mit Fachwörtern, wenn wir Frau Kehnscherpers Gedanken zur Verknüpfung von Körper und Geist folgen (»Expandiert ein Tumor schamlos Richtung Wernicke-Zentrum und Broca-Areal, verschlägt es einem hoffnungslos die Sprache« S. 6).

Frauen sind wortgewandter, reflektierter und humorvoller in Lichtensteins Abhandlung als ihre männlichen Gegenstücke und gleichen in ihrem Sarkasmus an Stellen den Figuren der Schriftstellerin Sibylle Berg. Im Mittelbau verliert der Text aber leider an Schlagkraft, da er sich in der Satire verliert und mehr an Twitterposts erinnert, als weh zu tun. Der Fokus auf dem Witz herrscht vor und die Begegnung mit den Protagonist*innen wirkt teils überheblich. Im letzten Abschnitt, dem Prolog, fängt er sich jedoch wieder durch intelligenten, szenischen Witz im Schlagabtausch, der »Quotenfrau« mit ihren »mansplaining-Kollegen«, denen ein fettes Stück Petersilie zwischen den Zähnen hängt. Lichtensteins Satire von alten, weißen Politikern, führt nochmals demonstrativ das behäbige und nach rechts wankende politische Klima in Deutschland und Österreich vor, in dem Gleichstellung und Feminismus mehr bürokratische Papierleichen als umgesetzte Prinzipien sind.

Das Erscheinungsdatum hätte mit Mai 2019 nicht besser getroffen werden können. Fast parallel zur Erscheinung kommt die österreichische Ibiza-Affäre von Strache und Gudenus ans Licht und nur wenige Monate später wird die AfD in Thüringen zweitstärkste Kraft. Am Ende möchte man da gerne wie die betrunkene Frau Kehnscherper den Nationalisten beider Länder vor die Füße kotzen, denn »[d]ie Welt jehört allen, ihr Ficker. Also fickt euch und tut nicht so erhaben, ihr primitive Materie« (S. 9).

Sofie Lichtenstein: »Ösis, Piefke, Ovarien, Kuchen.«  In: Schöner Lesen. Bd. 174. Hrsg. von Sofie Lichtenstein und Moritz Müller-Schwefe. Berlin: SUKULTUR 2019. 14 S. 2,00 €.

Poesie eines zu Hause

Nr. 176. Monica Fambrough: Monica Fambrough – Gedichte

Monica Fambroughs Gedichte kreisen um das Zusammenleben, um das Aufwachsen und um die Auseinandersetzung des Selbst mit der Welt, die es umgibt. Der Versuch der Einordnung in der eigenen Beziehung, im eigenen Haushalt, in der Welt.

Du kommst nach Hause
und ich bin nicht zurechtgemacht,  
nicht die Frau, die mir
vorschwebte zu sein.

Hemden vs. Haut (S. 17)

Mit einer Ehrlichkeit und Direktheit beschreibt Fambrough Routine und Zwischenzustände. Nicht die besonderen Tage und Eindrücke werden Gegenstand ihrer Lyrik, sondern Alltag und Langeweile. Diese fühlt sich bei Fambrough wiederum so wahrhaftig an, dass sie alles andere als monoton ist. Der Zustand des Zusammenlebens ohne Drama wird in seiner Ausgeglichenheit zur Schönheit. Gerade jetzt im April 2020 inmitten einer weltweiten Pandemie, die alle zwingt, sich zu Hause einzuschließen, zeigt Fambroughs Poetik des Stillstands eine Freiheit und Leichtigkeit in diesem beschränkten Leben auf. Das Banale wird durch ihren Blick relevant.

Kaffeetassen fassen etwas.
Sie können so viel tun,
auch ohne sich zu rühren
und so viele Dinge sind dazu imstande.
Ist das genug? Das ist genug.

Les Femmes, Les Fleurs (S. 16)

Mit Feingefühl ordnet sie sich in der Beziehung zu ihrem Mann ein und scheut sich nicht die einfachen Aspekte der Gemeinsamkeit, das Aufteilen des Haushalts, zum poetischen Gegenstand zu machen. Aber es bleibt nicht immer heiter, in manchen Werken tun sich Abgründe auf. So schreibt sie in Bitte (S. 13) vom Ungleichgewicht im Miteinander, von der Anpassung an die Ansprüche des Gegenübers, dessen Umwelt sich an sein Verlangen anpasst, ohne seine Unfähigkeit für Genügsamkeit zu hinterfragen. Im Gedicht gegen Fakten (S. 10) nähert sie sich der Komplexität von Verlusterfahrungen und beginnt das Gedicht mit einem Eingeständnis, beim Fernsehen abtauchen zu können. Die Einsamkeit von Trauer wird durch die scheinbare Banalität aber nicht kleiner, sondern menschlicher. Fambrough diskutiert den Fakt des Sterbens in all seiner Tiefe und macht ihn gleichsam verständlicher.

Diese Form der poetischen Diskussion trägt sie fort in größere Kontexte. Mit Humor und Mitteln der Repetition zeigt sie in Mittelpunkt die sozialen Zwänge der gesellschaftlichen Erwartungen auf. In einem ständigen Widerstreit zwischen Entscheidungsfreiheit und gesellschaftlich zugeordneter Rolle listet sie erst auf, was »Leute [ihres] Alters« (S. 18) machen und nicht machen, bevor sie in einem zweiten Teil das Selbst als statisch, also unfrei, beschreibt.

Ein ganz anderer Austausch findet sich auch im Gedicht I&II. Hier baut sie zwei Versionen aus den gleichen Versatzstücken, d.h. sie ordnet in Version I und Version II die Verse unterschiedlich an. Der erste Vers wird zum letzten und andersherum. Die Trauer und Leere in einer Atmosphäre der familiären Bedrängnis wird durch die Neuanordnung nur noch tiefer und elementarer. Gleichzeitig treten zwei Sichtweisen zu Tage.

Eine doppelte Betrachtung gibt es auch noch in anderer Hinsicht. Monica Fambroughs Leseheft ist das Einzige der hier besprochenen Hefte, das in einer Übersetzung vorliegt. Die Autorin der Lyriksammlung ist in Georgia, US geboren und lebt auch heute wieder dort. Übersetzt wurden die Gedichte von Ron Winkler, einem Autor, Übersetzer und Lyriker aus Berlin. Ihm ist es gelungen, Monica Fambroughs Werke ins Deutsche zu übertragen, als wären sie nie in einer anderen Sprache entstanden. Dabei wusste er genau, an welchen Stellen es wichtig ist, die englischen Wörter zu behalten und so bleibt die Mutter, hier und dort Mom und die Schule die Highschool.

Monica Fambroughs erstes Gedicht im Heft trägt den Titel Ich bin kein Mysterium (S. 3) und genau dieses Gefühl bringt sie herüber. Ihre Lyrik ist zugänglich, ehrlich und offen und dabei nicht weniger ergreifend. Immer wieder thematisiert die Autorin den Standpunkt der Frau in ihrem Haushalt und in der Gesellschaft. Ihre Kritik an der Rolle ist dabei subversiv, voller Humor und dennoch klar. Sie versucht sich nicht zu produzieren und mystifizieren. In dieser Wahrhaftigkeit liegt eine poetische Schönheit.

Monica Fambrough: »Monica Fambrough. Gedichte.«  In: Schöner Lesen. Bd. 176. Hrsg. von Sofie Lichtenstein und Moritz Müller-Schwefe. Berlin: SUKULTUR 2019. 27 S. 3,00 €.

Tanz als Mittel der Selbstüberwindung

Nr. 177. Joshua Groß & Lisa Krusche: Die Sinnatome zerstäuben

Lisa Krusche schreibt in Das Nichts verschönern, dem ersten Essay aus dem Leseheft Nr. 177, über Tanz. Nicht Tanz als Kunstform, sondern als Versöhnung mit sich, als Befreiung vom zweifelnden Selbst. Wenn sich der Körper bewegt, kann das Innere etwas hervorbringen, postuliert sie zu Beginn des Textes. Durch Tanz schreibt sie so auch über ihre Schreibpraxis.

Anfangs gesteht Krusche nach einer kurzen Beschreibung ihrer Tänze, dass sie nichts weiß über Tanz, aber es sie »auf Layern [berührt], für die [ihr] die Sprache fehlt.« (S. 4) Sie stellt sich und ihr Vorhaben, über Tanz zu schreiben, dennoch in Frage und zweifelt in Großbuchstaben und ohne Leerzeichen am generellen Ansatz, über sich selbst zu schreiben. Im Laufe des Textes kommt sie zu diesen Selbstzweifeln immer wieder galant rhetorisch in »Wimper-Wegpust-Wünschen« verpackt zurück, was zugleich den eigenen Anspruch humoristisch als zu hoch reflektiert.

Während sie aber – entschlossen weiter zu schreiben – das Schreiben als Kampf mit den eigenen Selbstzweifeln und als Offenbarung der Selbstzumutung beschreibt, ist für sie Tanz die »freieste Form« (S. 5). Er wird keiner Bewertung unterzogen, bleibt ohne Selbsterwartungen und ermöglicht die Rückkehr zur Selbstliebe. Durch die eigene Körpererfahrung eröffnen sich unbegrenzte (Frei-)Räume. Ihre Art des Tanzes erinnert dabei an die Bewegungssprache Gaga des israelischen Tänzers und Choreographen Ohad Naharin. Im Gaga leitet das Innere die Bewegung. Nicht das Spiegelbild zählt, sondern in sich hineinzuhören und mit dem Körper zu arbeiten, nicht gegen ihn. Der Fokus liegt auf dem Vergnügen, dem Hintenanstellen von ästhetischen Ambitionen, Groove und Geschmeidigkeit. Durch absolute kognitive Präsenz ist das Tanzen bei Gaga in all seiner Komplexität trotz der freiheitlichen Prinzipien ernst zu nehmen.

Mit genau dieser Ernsthaftigkeit beschreibt Lisa Krusche ihre Herangehensweise an den Tanz und den Schreibprozess: »Was ich mit Ernsthaftigkeit meine: sich in etwas hineinbegeben, in Resonanzräume eintreten und dort empathisch agieren, es real keepen, sich freilegen, sich zeigen, offen in Beziehung treten mit der Welt.« (S. 10) Ernst ist nicht das Gegenteil von Spaß, sondern auch wieder, wie beim Gaga, die aufrichtige Haltung gegenüber sich, anderen und der Praxis. Gerade das Lachen über sich und die eigenen Probleme ist elementarer Bestandteil.

Genauso frei wie Lisa Krusche mit Formen des Tanzes umgeht, verwendet sie Sprache und Form in ihrem Essay. Immer wieder fallen Anglizismen, weil sie besser in den Flow passen. Umgangssprache folgt einem Zitat aus einem akademischen Werk und die Fußnoten sind mal die trockenen Literaturangaben und dann ein »Fun Fact« zur Entstehung des Textes. Krusche nimmt die Sprache und passt sie an den Inhalt an und so tanze und gleite ich frei durch den Text ohne mich zu verlieren oder zu stolpern. Krusche verweist immer wieder auf andere Autor*innen, theoretische Texte zum Tanz, Arthouse-Filme, aber auch Instagram-Videos und Beyoncé. Was auffällt: Es sind meist Frauen: Frauen, die tanzen, Frauen, die singen, Frauen, die spielen, Frauen, die schreiben. Der Tanz bekommt eine gesellschaftliche Dimension als Befreiungsschlag gegen eine ausweglose Welt. Die tanzenden Frauen aus Filmen wie Fish Tank, die sie zitiert, tanzen sich frei.

Am Ende gelingt es Lisa Krusche, die Verbindung zum gemeinsamen Tanzen zu schlagen. Tanzen wird zur »anmutigen Lebensführung« (S. 11), denn gemeinsames Tanzen ist der Moment des Miteinanders und Füreinanders. Tanz basiert auf einer sprachlosen Kommunikation des Vertrauens, in der allein die Gemeinsamkeit des Körperlichen ausreicht, um sich abzustimmen und einzulassen. Krusche schließt, indem sie sich auf Donna Harraway bezieht: Nicht der Gleichheit gebührt die Aufmerksamkeit beim gemeinsamen Tanzen, sondern der »signifikante[n] Andersartigkeit von Angesicht zu Angesicht« (S. 16).  

Lisa Krusches Essay ist schlüssig, rund und kurzweilig. Ihr Einsatz von Sprache und Form ermöglicht es, in ihren Denk- und Bewegungsprozess einzutauchen und Tanz in der Schönheit einer inneren Bewegung zu erkennen. Die Rezeption erfordert Ernsthaftigkeit, aber mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Und so stehe ich nach der letzten Seite auf und tanze.

Joshua Groß, Lisa Krusche: »Die Sinnatome zerstäuben.«  In: Schöner Lesen. Bd. 177. Hrsg. von Sofie Lichtenstein und Moritz Müller-Schwefe. Berlin: SUKULTUR 2019. 18 S. 2,00 €.

Ohne dich rauchen.

Nr. 178. Jess Tartas: Lange laut lachen

Die Erzählung von Jess Tartas überrascht. Titel und Klappentext gaben auf den ersten Blick zu verstehen, dass die Lektüre ein lustiges Unterfangen werden würde. Auch wenn ich oft lächelte beim Lesen, waren es eigentlich die Gefühle von Trauer, Melancholie und auch Wut, die überwogen. Denn die Autorin schreibt aus der Ich-Perspektive über den viel zu frühen Tod der besten Freundin Anne. »Lange laut lachen« (S. 7) ist seitdem nicht mehr möglich. Das war nur mit Anne möglich. Ausgehend von der Beerdigung folgen in mehreren Unterkapiteln die Erinnerungen an eine unschlagbare Freundschaft, den Tod und wie schwierig ein Leben ohne Anne ist.

Die tiefe Verbundenheit zwischen den zwei Frauen ist durchweg mit einem feinen Humor und einer Direktheit beschrieben, sodass die Liebe zwischen den beiden spürbar wird. Annes Zimmer wird über die kleinen Details erlebbar und die rauchige, stickige Luft fast Teil der Leseerfahrung. Unausweichlich ist zu erkennen, dass diese Freundschaft besonders ist. Doch gerade als ich mich in der Erzählung auch in Anne verliebt habe und wünschte sie wäre meine beste Freundin, stirbt sie. Der Moment, in dem die Nachricht des Todes eintrifft, sagt die Erzählstimme nur »Nein« und trinkt ein Glas Wasser. Mit Einfachheit und Klarheit in den Beschreibungen gelingt es Jess Tartas hier, die Unbegreiflichkeit dieser Botschaft in Worte zu fassen. Die Luft bleibt spürbar stehen und das Leben wird von nun an ein anderes sein.

Mit der gleichen Eindringlichkeit erzählt die Autorin daraufhin vom Prozess des Vermissens und Vergessens. Nicht nur im Selbst, sondern auch in der Umgebung. Alles Andenken, was in die Landschaft und Häuser eingeschrieben ist, wandelt sich langsam und unaufhörlich. Die Freundin fehlt umso schmerzlicher und verschwindet gleichzeitig aus Kopf und Stadtbild.

Immer wieder wird Annes Körperlichkeit in der Erzählung beschrieben. Anne war sehr dick, brauchte eine Matratze für extradicke Menschen und es war ihr aufgrund ihres Körpers nicht möglich Rad zu fahren. Doch obwohl Annes Körper ein essentieller Gegenstand der Geschichte ist, wird er nie wertend beschrieben. Es ist eine positive Auseinandersetzung mit einem Körper, der nicht in die Schönheitsnorm unserer Gesellschaft passt. Anstatt sich über den Körper und dessen Aussehen Gedanken zu machen, ist es nur unerträglich zu wissen, dass er nicht mehr da ist.

Erst im vorletzten Kapitel verrät die Autorin die Todesursache und der Ton schlägt um von Trauer zu Wut. Dramaturgisch clever ans Ende der Erzählung gestellt, bin ich als Leser*in erleichtert endlich zu erfahren, was der Grund ist. Anne hatte kurz vor ihrem Tod begonnen die Pille zu nehmen und starb an einer Lungenembolie. Anstatt die Gefahr des Medikamentes richtig einzuschätzen und Anne die Pille aufgrund der Gefahr solcher Nebenwirkungen nicht zu verschreiben, sagen die Ärzte, der Grund ihres Todes sei ihr Übergewicht gewesen. Somit sei es ihre Schuld. Diese Beschuldigung führt im Text zu einem Aufruf gegen das Verhütungsmittel und einen direkten Appell an die Leser*innen, dieses nicht zu nehmen und andere davon abzuhalten. Der Umschwung im Text im Kapitel namens »Weitersagen« kommt abrupt und man spürt, wie die Autorin sich berechtigt in verzweifelte Rage geschrieben hat. Mit dieser Stelle zerfließen die Grenzen zwischen Fiktion und autobiografischer Erzählung immer weiter und es bleibt dennoch unklar, ob es sich um die beste Freundin der Autorin handelt.

In den letzten Sätzen schließt sich die literarische Klammer und die Erinnerungen führen zurück zur Beerdigung Annes. Auf einmal in der 1. Person Plural befindlich, hören wir gemeinsam mit der Erzählstimme auf mit dem Rauchen, »weil Anne es auch geschafft hat« (S. 19).  Tartas betont hier am Ende besonders auch den literarischen Wert von Erinnerungen. Sie sind meist nicht vollumfänglich, sondern bestehen aus Details, einzelnen Sinneswahrnehmungen und kurzen Momenten, denen man nur noch ein Gefühl zugeordnet hat. Tartas schafft es aber, trotz bzw. auch durch die Begrenzungen einer Erinnerung die Geschichte eines Verlustes berührend zu erzählen und mit einem gesellschaftspolitischen Aufruf zu verbinden. Als direkt angesprochene Person fühle ich mich in der Lektüre davon zunächst überrumpelt und dann überwältigt. Die Autorin hat aber bei mir ihr Ziel erreicht. In den vergangenen Wochen habe ich mit vielen Freundinnen und Freunden über das Thema gesprochen. Dennoch hinterlässt die Aufforderung, der direkte Appell, auch ein Gefühl von Aufklärungsliteratur. Denn die Einsicht wäre für manche Leser*innen vielleicht wirksamer ohne Imperativ.

Die Erzählung von Jess Tartas ist über eine Ausschreibung zu SUKULTUR gekommen. Die Herausgeberin hatte einen Super-Duper-Queer-Special-Sofie-Lichtenstein-Einsendeausruf für ausschließlich nicht cis männliche Autor*innen gestartet und die Erzählung Lange Laut Lachen von Jess Tartas hat gewonnen. Zu Recht, denn es ist die Geschichte der Erinnerungen an eine geliebte Frau. Anne war übergewichtig und queer. Sie entsprach nicht der gesellschaftlichen Norm. Aber das ist im Text genauso egal, wie es in unserer Gesellschaft schon lange sein sollte.

Jess Tartas: »Lange laut lachen.«  In: Schöner Lesen. Bd. 177. Hrsg. von Sofie Lichtenstein und Moritz Müller-Schwefe. Berlin: SUKULTUR 2019. 19 S. 2,00 €.

Rezensionen von Lina Mareike Zopfs.


[1] Aufgrund der Zuordnung zum Hashtag #frauenlesen schließe ich, dass die dort genannten Autor*innen sich als weiblich identifizieren und werden folglich von mir als Autorinnen gefasst.

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