Hegel1
Also, I didn’t have a script.
David Lynch2
I
Der junge Nietzsche entdeckt das Pathos und schreibt: „Apollo steht vor mir, als der verklärende Genius des principii individuationis, […] während unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern des Sein’s, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt.“3 – Die allerhöchste Kunst der Tragödie, so der verwegene Gedanke, reiche uns kurzweilig die göttliche Hand, führe uns körperlos schwingend zur verbotenen Camera obscura des einigen Seins, gleichsam zum Lichtspiel der Götter, durch dessen Gucklöcher wir so lange und andächtig am schopenhauerischen nie satten Willen als dem unerfahrenen Urgrund der Individuation uns ergötzen dürfen, bis wir irre zu werden drohen. Im Glotzen und Staunen, im sinnlichen Berühren dieses ephemeren Alles, überwinden wir für teuflische Augenblicke uns selbst als Einzelne, die Bürde des Selbstseins als Menschsein; derart tragische Lebensmomente des ästhetisch Feinfühligen, des an seiner Individuiertheit Leidenden, schenken ihrem Wirt die ebenso edle wie vergängliche Erfahrung des Aus-dem-Leben-Fallens. Wahre Kunst, so scheint es, disponiert keine Personnage, repräsentiert nicht Tun und Sehen – und damit ebenso wenig das alltäglich-menschliche Klischee als unstreitbare Verfassung einer mediokren conditio humana. Jenseits der Forderung, das gemeine Leben zu doublieren, kehrt sie sich gegen dasselbe, gegen den Konsens, gegen den Menschen in seiner himmelschreienden Einfalt, seinem bis ins Mark klischierten Sein. Retrograd: Wer dem Klischee zusetzt, zerstört den Menschen. –
Wieder einmal ist es Deleuzes immer waches nietzscheanisches Gen4, das im Spätwerk Was ist Philosophie? die offensivsten Wortspenden präpariert – zumal wenn es darum geht, ein vitalideelles Jenseits zum Klischee auszuhandeln. Unweigerlich lenkt sich damit der Verdacht des Verbunds mit Nietzsches Artistenmetaphysik auf den Pariser Poststrukturalisten, der im genannten Text letztmals mit dem Psychoanalytiker Félix Guattari kooperiert. Wenn anders die Kunst mit und nach Schopenhauer den Menschen vom Menschen zu erlösen hat, so gilt es vorab und zum Behuf terminologischer Klarheit, zu konstatieren, dass wir Mensch und Klischee im Folgenden wenn schon nicht synonym, so doch als eng ineinander verwobene, tief umschlungene Momente denken werden. Allerdings, der Diskurs, in den einzusteigen wir im Begriff sind, ist kein anthropologischer, der Antihumanismus der Kunst, den wir erinnern und vorschlagen, kehrt sich nicht gegen den Menschen als solchen, als Universalie oder Sammelbegriff, als termine ombrello wie die Italiener sagen, sondern vielmehr und ausschließlich gegen eine gewisse kunstfeindliche Humanizität, gegen den Menschen als Klischeeding, als Meinungskadaver, als von den regelhaften Alltagsdünkel-Konventionen zerfressenes vollkommen Uninteressantes. – Die künstlerische Methode gleicht mithin stets einem zweistirnigen Aufbegehren, einer Zersetzung sowohl der Regel menschlichen Alltags, und also dem Konventionengesetz, als auch des exekutiven Regelgläubigen, und also dem konventionellen Menschen. Auf den Schultern der modernen Willensmetaphysik verkünden die Autoren in Konsequenz: „Unablässig stellen die Menschen einen Schirm her, […] auf dessen Unterseite sie […] ihre Konventionen und Meinungen schreiben; der Dichter, der Künstler aber macht einen Schlitz in diesen Schirm.“5 – Wo das Gewölk des Unbekannten die Gemein-schaft anschüttet, interveniert die Weisheit des Alltags (das Man?), die Empfindung des Weltfremden zu unterbinden. Kunst aber, als Verfahren der Anti-Plattitüde, opponiert gegen diesen common sense als konnexem Nimbus zwischen Mensch, Meinung und Klischee. Der Schlitz, den die Kunst in die Fahne dieser Trias reißt, ist dabei kein Selbstzweck, sondern Bedingung: Das Gesehene ist zu verletzen, ehe das Ungesehene einsehbar wird.6 Anders gesagt: Mensch und Meinung können nicht isoliert, sondern haben vielmehr so stark angegriffen und verwundet zu werden, dass im Delirieren ihrer Agonie das paradiesische Abseits vom Allgemeingültigen fühlbar wird. Die Pinsel, Federn und Meißel schlagen die Blessuren. Im Bluten geht der Mensch (dionysisch?) auf in der Welt, besudelt er die Gesetze seiner Individuation. Die Skrupellosigkeit des Künstlers entkleidet das Individuum seiner Konvention und rammt dem nackten Leib die läuternde Lanze ins Herz, lässt ihn bluten und bluten, bis aus seiner fruchtlosen Hülse ein neuer Unmensch sich schält, der eins sein wird mit der kosmischen Macht.
Kunst wird damit gefasst als radikale Dekonventionalisierung-Dehumanisierung, als Entmenschlichung von Mensch und Welt. Bei aller Affinität zur Tragödie Nietzsches darf jedoch keineswegs verschwiegen werden, dass Deleuze bereits einer Phalanx von Denkern zugehört, die nicht anders als mit dem Rücken zur Metaphysik steht: Die Bleichung des Menschen durch den ästhetischen Lanzenstich dient also keineswegs der Transzendenz. Kunstwerke die hier verhandelt werden erobern darum nicht das Innerste der Welt, sondern die bare Entweltung – dem Finden des Willens als heimlichem Weltkern weicht das Er-Finden konventionsferner Kristalle. Nichts anderes nämlich ist das Kunstwerk als eine Anordnung „chaoider“ Edelsteine, „ein Empfindungsblock, das heißt eine Verbindung, eine Zusammensetzung aus Perzepten und Affekten“7. – Der Kunstkristall ist das Nichtempfundene und Nichtgesehene, jener Manipulator, der unaufhörlich die Organisation der Meinungen verwirrt, unter deren Protektion sich die Gewohnheit aufbläht. Nunmehr wird deutlich, dass der ästhetische Anschlag auf den Menschen einen Akt monströser Produktivität beschreibt: Er gebiert revolutionäre Elemente einer alltagsfeindlichen Lebendigkeit, einer Entfremdung vom Zwang des Klischees. Blutleer liegt die dehumanisierte Hülse uns zu Füßen, doch bei genauerem Hinsehen offenbart sie Kostbares: Die Affektionen und Perzeptionen dieses Menschen, der keiner mehr ist, haben ihr serviles Verhältnis zur privaten Subjektivität aufgekündigt: Meinungsfrei fühlen wir sie schwingen als unergründliche Noblesse, als unverfälscht Unempfundenes, Nicht-Wahrgenommenes. – „Die Affekte sind genau jenes Nicht-menschlich-Werden des Menschen, wie die Perzepte […] die nicht-menschlichen Landschaften der Natur sind.“8 Damit wird Kunst vorstellig als raffinierte Subtraktionshandlung: Sie generiert den blutleeren Menschen als Avantgarde eines expandierenden Humanvakuums, eines Lebens jenseits des Lebens, worin menschlich und zwischenmenschlich Erfahrenes, aus dem Menschsein herausgestürzt, in ein noch Unvernommenes, Unisichtbares metamorphosieren: reine Affekte, reine Perzepte. – Daraus ersteht das Kunstwerk, es zeigt sich als Ensemble aus satten Entmenschungskristallen, aus Konzentraten des Fühlens und zitternden, saturierten Atomen der Welt. Zum Preis des Alltäglichen erobert die Kunst im riskanten Verzicht auf die Menschlichkeit des Menschen die absolute Selbstheit der Dinge und Gefühle – „das Leben im Lebenden oder das Lebende im Erleben“9.
Ein monströses Argument zugunsten einer dergestalt antihumanistischen Ästhetik lieferte David Lynch in Inland Empire (F, PL, USA 2006), seinem jüngsten internationalen feature. In nahezu didaktischer Manier zeigt die Inland-Bestie sich an einer Verifikation dieser nachmodernen Vakuierungstheoreme interessiert, der komplett in DV geschossene Film10 manifestiert den Archetypus einer postmelodramatischen Desubjektivierungsmaschine. Mit einer bemerkenswerten Anschaulichkeit expliziert Lynch die nietzscheanische Agonie des Menschen gegen sein Selbstzerfällen im Angesicht der Kunst, um einstmals den sterblichen Residuen dieses schuldigen Klischeetoten ihr letztes Kapital, den edlen Affekt, zu rauben. Er schmiedet den Schmuck der Antimeinung, des Antimenschen: Die edelrostige Krone des depotenzierten Subjekts erfährt ihre finale Adelung durch den Smaragd des reinen Fühlens. – Setzen wir mit Deleuze den Fall, dass der Kunst nie Zustände, allerdings stets Prozesse der Genese und des Werdens, schlechtweg Ereignisse, inhärieren, so liegt die Annahme nahe, es müsse anfänglich ein wie auch immer gearteter Alltagsmensch, ein Klischeeding postuliert werden, dessen qualvolles Ins-Gras-Beißen durch die Kunst das Werk zum Kristall emporhievt. – Lynch nennt diesen Menschen Nikki Grace, eine abgehalfterte Schauspielerin unmittelbar vor dem Comeback. Gleichsam übermenschlich in Szene gesetzt durch die Lynchianerin Laura Dern, bildet sie jenes pulsierende, humane Herzstück aus Meinungspigmenten, das drei Stunden lang Blut zu lassen hat, um die Affektjuvelen schillern zu machen. Formal zwar flieht Lynch bereits von Beginn an die Schatten des Trivialen, figural jedoch bedarf es einer schlüssigen Exposition, den notwendigen Aderlass einzuleiten: Während der Dreharbeiten zum Film On High in Blue Tomorrows erfährt die konventionsgepanzerte Identität Graces eine brutale Infektion. Es wird kolportiert, On High sei das Remake einer unfertigen deutsch-polnischen Produktion namens 47, die nach der orphischen Ermordung ihrer beiden Protagonisten eingestellt zu werden hatte. Die chiromantische Empfehlung, das Fatum des Films könnte sich nun wiederholen, bricht sich viral Bahn, frisst sich rasch und tief in die vermeintliche Abgeschlossenheit der Person Nikki Grace, der Charakter beginnt sprudelnd auszulaufen. Die jähe Konfrontation mit der vertrauten Fremdheit dieses deterministischen Aggressors erweist sich als Attentat auf den gewohnten Glauben an Selbstbestimmung: Im Kampf um die zerstäubenden Konventionen des Selbst verirrt sich Grace zunehmend in den Irrgärten dieses ihr übergestülpten Schicksals, dieser sich ausbreitenden Schicksalskrankheit – im Zwang erfährt sie den wilden Absturz aus den schützenden Gesten des ikonisierten Klischees, mit Heidegger: des plebejischen Man. Kraft des tradierten Fluchs als Menetekel des eigenen Todes positioniert Lynch die ästhetische Guillotine der Entmenschung – Nikki Grace steckt ihr Haupt durch die hölzerne Rundung, das Hackbeil 47 tobt in die Tiefe, Mensch und Meinung zerbersten – und aus der offenen Arteria carotis spritzen die ungeschliffenen Perlen der Empfindung.
Das Andere der Humanität/Humanizität beginnt Leben zu schöpfen. Die fingierte personale Einheit Graces erlebt, dem Obdach der allgültigen Meinung entledigt, die enragierte Dekomposition durch die eisernen Griffe der Kunst und mündet darauf notwendig in die changierende Raserei vordergründig zweier ins Jenseits herübergeretteter, menschenleerer, rein geborener Affekte: Angst und Verzweiflung – wobei ersterer die hierarchische Hegemonie gebührt. Nicht-menschlich–Werden des Menschen: Nikki Grace hat in ihrem „Leben etwas allzu Großes, auch allzu Untragbares gesehen und die Zwänge des Lebens samt dem, wovon es bedroht ist“11 – und wird unter der außerirdischen Pression dieser Bürde unabwendbar verrieben, zermahlen, in pures Angstkonzentrat zerquetscht. Lynch nun initiiert dieses Ersticken des Klischeemenschen an der Angst als Zurücktreten des Humanus zugunsten des Affekts, innerhalb einer Sequenz, da Grace im Zuge der Dreharbeiten an On High erstmals die runde Ganzheit der eigenen Person entgleitet, indem sie ihre eigene mit der Identität der zu spielenden Rolle durcheinanderwirft. Dezentriert und verloren blickt sie umher. Nicht länger können die offenen Wundlöcher nun mehr gestopft werden: Endlich fließt Kunst-Blut. Infiziert mit dem Fieber der Verwünschung überantwortet Grace das potente Menschsein verängstigt einer unsichtbaren Heteronomie. Doch in der Angst, wieder mit Heidegger, liegt eine Reaktion, die keinen Aufstand, keine Hysterie mehr dokumentiere, „sondern eine gebannte Ruhe“12. Demnach entspricht es der Natur der Sache, wenn sich Laura Dern in inszenierter Angstrevolution alle Tätigkeit aus dem Gesicht wischt. Desubjektivierung. Und urplötzlich wandelt Nikki Grace über die steinige Erde einer norwegischen Zerfallslandschaft, inmitten einer Armee grüngesichtiger Antimenschen.13
II
Erst also war das Klischee, dann war der Fluch, dann der Krieg, schließlich der Tod – und endlich der Affekt. – Eine Schleife, die sich wiederholt und wiederholt, ehe das Werk als mit Geschmeiden und Bijouterien der Menschenleere besetztes Monument in imperfekter Vollendung vor uns steht: in Lynchs Fall ein zitterndes Hasenmahnmal, übersät mit den Smaragden der Angst, den Rubinen der Verzweiflung. – Über das hemmungslose Opfer des Meinungstiers gelangen wir gleichsam in eine Schatzkammer. Ihr entnommen sind die Bausteine des Kunstwerks, des bleibenden Artefakts. Diesem jedoch eine verklärte Perfektion zu unterstellen, markierte wiederum den reaktionären Regress ins Klischee – denn „[e]ine Leinwand kann völlig bemalt sein, so daß nicht einmal mehr Luft durchdringt – ein Kunstwerk ist sie doch nur, wenn sie […] genug Lücken lässt“14. Dem Ganzen sei der Krieg erklärt – das Werk verfestigt nicht, es bleibt dynamisch; insofern artikuliert eine fertige Formation chaoiden Prunks in der Tat weit mehr als die unterstellte Ganzheit eines Kunstwerks. Der Affekt nämlich lebt.
Die Bedeutung dieses Postulats für die werkimmanente Vormachtstellung der Angst ist zunächst kaum abzuschätzen. Als Agentin des unkonzentriert Mediokren findet Nikki Grace in der Kunst vorerst keinen Platz; erst als man ihr den Wurmfortsatz der Menschlichkeit brachial aus dem Rumpf sägt, avanciert sie zur ästhetischen Figur, zum Avatar eines durchaus faschistoiden Affektregimes. Wie aber charakterisiert sich dieses im konkreten Fall eines Angst-Werks? – Um eine Antwort darauf zu finden, muss dem Klischeebegriff von einer anderen Flanke her begegnet werden. Außerhalb der philosophischen Ästhetik nämlich schlägt Martin Heidegger in seinem Hauptwerk Sein und Zeit schon 1926 die radikale Überwindung eines in schalen Alltagsmeinungen prädeterminierten Menschseins vor. Dabei entwirft dieser wohl streitbarste der Philosophen des vergangenen Jahrhunderts eine exorbitante Metapher: eine Hypostase der banalen Vertraulichkeit, einen Käfig des tradierten Wissens, des wissenden Stillstands, eine Subjektivierung des deleuzianischen Meinungsschirms: das Man. Peter Sloterdijk nennt es das „Neutrum unseres Ich“, die personifizierte Gefangenschaft im Dünkel des allgemeinen Geredes und Zerredens, „gewissermaßen meine öffentliche Seite […], meine Mediokrität. Das Man habe ich mit allen anderen gemeinsam, es ist mein öffentliches Ich, und in bezug auf es hat die Durchschnittlichkeit immer recht“15. Im Man gerät das Klischee zur Ikone, alle Menschen sind das Man.
Rückgebunden auf Deleuze und Guattari formuliert sich damit eine Art öffentliches Gesetz, ein Statut, ein kommunaler Codex, der dem Menschen konsequent das Momentum der Authentizität untersagt, weil er die Blutlache der Entmenschung verpönt – „Klischees! Klischees! Man kann nicht sagen, daß sich die Lage seit Cézanne gebessert hat.“16 Bei Heidegger allerdings werden Operationen vorbereitet, im Zuge derer es dem ,Dasein‘ gelingen müsste, ins Außen dieser grotesk verschmierten Oberfläche der ,Uneigentlichkeit‘ zu desertieren. Dafür hat zunächst der Angstaffekt als ausgezeichnete ,erschließende Befindlichkeit‘ begriffen zu werden: Heidegger kennt die Angst als strömendes Movens im Abdomen des Gewohnheitstiers; aufgrund seiner baren ,Geworfenheit‘ in die Welt zeigt sich das Dasein verängstigt und flieht vor dieser seiner kategorischen Unbestimmtheit ins fingiert-intime Vertrauensverhältnis des Man. Allein, das Klischee als Notaufnahmelager der ans Gewohnte und Heim-liche Verfallenen, bleibt weiterhin, wenn auch subliminal, umschlungen von den Tentakeln des unbezwungenen Nacht- und Schattenaffekts als dem manhaft nicht in Erfahrung zu Bringenden: Allzeit also läuft der Meinungsharnisch des Allzumenschlichen gleichsam gefahr, vom Urschmerz des Daseins durchbohrt zu werden. Darin nun liegt die große Chance der Entmenschung: Diese Pendelbewegung der Angst nämlich mag uns zwar zunächst hinter die fragilen Mauern des gemeinen Weltlaufs treiben (All in all you’re just another…); – gelingt es ihr hingegen, ebendiese Mauern einmal zu durchbrechen, so vereinzelt sie uns wieder, entfacht sie mitten im Man ein Humanvakuum und offenbart damit das exklusive Nirwana des Klischees: die Eigentlichkeit. Heidegger: „Das [angstvolle] Aufgehen im Man und bei der besorgten ‚Welt‘ offenbart so etwas wie eine Flucht des Daseins vor ihm selbst als eigentlichem Selbst-sein-können.“17 Erst wenn der Flüchtige sich stellt, sich spiegelt, sich selbst als Ordnungs-, Lebens- und Daseinsmacht erkennt, erlebt und erlangt er „das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens“18. – Das Klischee ist der vom Man geschädigte Mensch: Seine Zerschlagung generiert bei Deleuze die Kunst, bei Heidegger die Eigentlichkeit des Daseins. – Der fundamentalontologisch informierte – sofern sich hinsichtlich unseres Mäanderns zwischen den Termini Heideggers überhaupt von Informiertheit sprechen lässt –, dabei aber mild ironische Blick auf David Lynchs Entmenschungsepos legt folglich die Behauptung nahe, die Angst, als erste und oberste Erfahrung des In-der-Welt-seins, findet unter dem Vorwand des verfluchten Engagements für On High respektive 47 einen Kanal, die ästhetisch unwertvolle Uneigentlichkeit von Nikki Grace inner- und unterhalb der Konventionsherrschaft komplett zu infizieren und infolge abzutöten. Eine Angst, die für gewöhnlich den Styx der Man-Unterwelt mimt, schießt plötzlich in wilden Schüben hervor, ihren Träger voll einzunehmen und in erbarmungsloser Geste vom Man zu dividuieren. Mit Heidegger: Damit bekommt Nikki Grace Gelegenheit, die Eigentlichkeit ihres Seins als Möglichkeit zu erfahren. Mit Deleuze: So entsteht große Kunst.
Es scheint sich hier, so flüchtig wie geheimnisvoll, eine Möglichkeit aufzutun, Sein und Zeit einer ästhetischen Lektüre zu unterwerfen. Heideggers Angstbegriff doppelt gewissermaßen und auf eine sehr eigentümliche Weise die basale Struktur der deleuzianischen Affektpolitik: War es dieser darum zu tun, den Klischeemenschen im Lichte eines ereignishaften Kunst-Werdens zu martern, umzubringen, seinem Leichnam den affektiven Juwel, im gegenständlichen Fall den Angstaffekt, zu entnehmen, vollzieht sich bei Heidegger eine jähe Überwindung des klischierenden Konformisten eben durch ein schwellendes Übermächtig-werden der Angst. Eine Konstellation, die allerdings nicht darüber hinwegtäuscht, dass dieses Privileg innerhalb der Fundamentalontologie allein der Angst eignet, Deleuze jedoch die Kunst nicht von spezifischen Einzelaffekten abhängen lässt – das Ängstlich-sein ist eben das Geschäft David Lynchs. Die entscheidende Frage also lautet: Welche Konsequenzen zeitigt ein ästhetisches Regiment der Angst?
Die Pointe der Ausführungen Heideggers wird jedenfalls darin liegen, dass das Wovor dieser Angst kein innerweltlich Seiendes, bereits Bekanntes vorstellt, sondern „wovor und worum wir uns ängsteten, war ‚eigentlich‘ – nichts“19. Zwei Jahre nach derlei kühnen Explikationen in Sein und Zeit hält Heidegger die später berühmte Vorlesung Was ist Metaphysik?, in der er sich des Angstproblems noch einmal nachdrücklich und unter leichten Rekonfigurationen annimmt. Letztere manifestieren sich vor allem im Umstand, dass Heidegger nun nicht mehr einer Okkasion zuargumentiert, anlässlich derer das Klischeetier aus seiner geworfen-privitiven Trivialität ins Unwirtlich-unheimliche hinauszusprengen wäre, das heißt, er verzichtet vollends darauf, einmal mehr unser schicksalhaftes Sesshaftwerden in den konjunkturschwachen Tälern des totalitären Man zu deklinieren, sondern diagnostiziert stattdessen und numehr im Sich-Ängstigen einen radikalen Relevanzverlust des ,Seienden im Ganzen‘: Die Angstrevolution liquidiert nicht mehr nur das Man als Gesamt des innerweltlich Gewohnten und deshalb Wahrscheinlichen20, sondern den lebensnotwendigen Nexus zwischen verängstigtem Dasein und der Koalition der es umgebenden Dinge als solcher: „[D]as Seiende spricht nicht mehr an.“21 Das Human- arriviert zum Weltvakuum: Nicht mehr wir fliehen in das unseren Alltag Bestimmende, sondern ganz im Gegenteil – das Seiende an sich entzieht sich uns. Anstatt das alltäglich Ubiquitäre, entgleitet dem Angstwirt gewissermaßen alles Innerweltliche – es schleudert ihn gleichsam ins ,Andere des Seienden‘, ins Nichts. Obschon sich dieser Gedanke in Sein und Zeit bereits vorformuliert findet – zumal es schon dort heißt „[i]m Wovor der Angst wird das ‚Nichts ist es und nirgends‘ offenbar“22 –, kommt er in der Metaphysik-Vorlesung am unzweifelhaft provokativsten zur Geltung: Über die bizarre Hinfälligkeit des Seienden im Ganzen wird ein Modus isoliert, im Zuge dessen das Dasein in direkte Tuchfühlung mit dem Nichts gestellt wird: Der Mensch tritt auf als ins Negativ der Dinge ,Hineingehaltenes‘. Das, was nicht Seiendes ist, ist naturgemäß Nichts – und doch die Bedingung alles Seienden: „Das Nichts ist das Nicht des Seienden und so das vom Seienden her erfahrene Sein.“23 – Was hier zum Ausdruck gelangt, ist die Sprachakrobatik des Hegelkundigen.24 In Korrespondenz mit Sein und Zeit definiert also auch der späte Heidegger den Affektsmaragd der Angst als rätselhaften Ausgang aus dem Innerweltlichen, als Einlass in den ,eigentlichen‘ Grund des Daseins. – Ein Rätsel, an dem auch David Lynch sich versucht: Er entwirft das alltagische Man im Antlitz Nikki Graces, zertrümmert diese Oberfläche mit der Wucht eines tödlichen Fatums (47) und entwendet dem Klischeekadaver schließlich die Angst als ästhetischen Kristall einer heroischen Antimenschheit. Hier ereignet sich das Kunstwerk. Allein, wer die Angst filmt, filmt das Nichts; im angstvollen Sturz aus der solide gewähnten Ordnung des ans Uneigentliche verfallenden Ich, zerfällt mit dem Man die ganze Welt, um am Ende das nackte Dasein mit sich selbst zu konfrontieren. Im Vakuum des Seienden ersteht dabei das reine Nichts, es gelingt der Protagonistin nicht mehr, auszuweichen „vor der lautlosen Stimme […], die uns in den Schrecken des Abgrundes stimmt“25. Hier erst beginnt – sowohl bei Heidegger als auch bei Lynch – der Kampf mit dem Nichts als Kampf um das eigentliche Sein des eigenen Daseins. – „When we began, there wasn’t any INLAND EMPIRE, there wasn’t anything“26 – und auch fürderhin ändert sich daran wenig.
Wien, Wintersemester 2009/10
1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Bd. 5: Wissenschaft der Logik I. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. S. 73.
2 David Lynch: Catching the Big Fish. Meditation, Consciousness, and Creativity. London: Penguin 2006. S. 145.
3 Friedrich Nietzsche: „Die Geburt der Tragödie.“ In: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 1. Hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München: dtv 1999. S. 9-156. Hier S. 103.
4 Vgl. exemplarisch: Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie. Hamburg: EVA 2008.
5 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie? Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. S. 241.
6 Oder: ehe das Unsagbare sagbar wird. Vgl. Michel Foucault: Das Leben der infamen Menschen. Hrsg. von Walter Seitter. Berlin: Merve 2001. S. 47.
7 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie? S. 191.
8 Ebd. S. 199.
9 Ebd. S. 203.
10 Vgl. David Lynch: Catching the Big Fish. S. 146.
11 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie? S. 201.
12 Martin Heidegger: „Was ist Metaphysik?“ In: Ders.: Wegmarken. Frankfurt am Main: Klostermann 2004. S. 103-122. Hier S. 114.
13 Vgl. Edvard Munch: Angst. Öl auf Leinwand, 94 x 74. Oslo: Munch-museet 1894.
14 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie? S. 194.
15 Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983. S. 373.
16 Gilles Deleuze: Francis Bacon. Logik der Sensation. München: Fink 1995. S. 56.
17 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 2006. S. 184.
18 Ebd. S. 188.
19 Ders: „Was ist Metaphysik?“ S. 112.
20 Vgl. Gilles Deleuze: Francis Bacon. S. 60.
21 Martin Heidegger: „Was ist Metaphysik?“ S. 111.
22 Ders: Sein und Zeit. S. 188. Heidegger vollzieht hier den direkten Anschluss an den dänischen Existenzphilosophen Sören Kierkegaard, der schon ein Jahrhundert zuvor statuiert: „Welche Wirkung aber hat Nichts? Es erzeugt Angst. Dies ist das tiefe Geheimnis der Unschuld, daß sie zugleich Angst ist.“ Siehe: Sören Kierkegaard: „Der Begriff der Angst.“ In: Ders.: Die Krankheit zum Tode/Furcht und Zittern/ Die Wiederholung/Der Begriff der Angst. München: dtv 2007. S. 441-640. Hier: S. 487.
23 Martin Heidegger: „Vom Wesen des Grundes.“ In: Ders.: Wegmarken. Frankfurt am Main: Klostermann 2004. S. 123-175. Hier S. 123.
24 „Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe.“ Siehe: G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik I. S. 83.
25 Martin Heidegger: „Nachwort zu ‚Was ist Metaphysik?‘“ In: Ders.: Wegmarken. S. 303-312. Hier S. 306f.
26 David Lynch: Catching the Big Fish. S. 139.