Matthias Wannhoff: „As though words could alter things.“ Medienkonkurrenz in Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray.

heft2cover3Der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist ein Problem, in dem sich Poetologie und Erkenntnistheorie treffen: Es ist die Frage nach dem Bezugspunkt von Sprache. Nun gibt es literarische Texte, die durch Worte offenkundig auf Außersprachliches verweisen: das klassische Konzept der Mimesis. Es gibt aber auch Texte, die mittels Worten wiederum Worte zum Thema haben. Ein solcher ist The Picture of Dorian Gray, der einzige Roman des irischen Autors Oscar Wilde (1854-1900). In dem Werk, erstmals veröffentlicht 1890 im britischen Lippincott’s Monthly Magazine, wünscht sich der bildschöne Protagonist, dass sein auf Leinwand fixiertes Abbild anstelle seiner selbst altern möge – mit der Folge, dass das Porträt die moralischen Fehltritte der Titelfigur dokumentiert und kontinuierlich an Schönheit verliert.

Die Erzählung kann jedoch auch gelesen werden als die eines Konkurrenzkampfes zweier semiotischer Systeme, die beide durch die Mutation des Porträts irritiert werden und sich daraufhin immer stärker überschneiden; als die Geschichte eines Angriffs visueller Künste auf das Primat der Sprache. Eben dadurch, dass zwei Mediensysteme in einem medial schriftlichen Werk thematisiert werden, ist es möglich, den Roman aus Sicht des noch relativ jungen Intermedialitäts-Diskurses zu betrachten. Damit verfährt der hiesige Ansatz, der als medientheoretisch fokussierte Literaturanalyse umschrieben werden kann, entschieden anders als die bisherigen, vornehmlich immanenten oder intentionalistischen Deutungen von Wildes Text.1

Es gilt dabei einerseits, die Medialität von Sprache in der Interpretation mitzudenken; andererseits wird dem Text selbst eine genuin medientheoretische Argumentationsstruktur unterstellt. Das methodische Programm besteht deshalb darin, zunächst die Romanhandlung weitgehend linear vor dem Hintergrund des genannten Erkenntnisinteresses sowie unter prüfendem Rückgriff auf basale Zeichentheorien nachzuverfolgen. Daraufhin wird, ausgehend von einer Konzeption Marshall McLuhans, die Rolle des Porträts als fiktionales Scharnier zwischen Künsten und apparativer Medientechnik aufgezeigt. Denn in der nicht-sprachlichen Evidenz und semiotischen Struktur des Bildes kündigt sich jenes Medium an, das fünf Jahre nach dem Erscheinen von Wildes Roman seine Geburtsstunde feiern wird: der Film. Die verschiedenen Argumentationsstränge laufen in dem Nachweis darüber zusammen, dass sich die Spannung zwischen Bild und Text nicht erst diachron qua medienhistorische Weitsicht, sondern bereits auf synchroner Ebene im Roman aufgelöst findet: im poetologischen Programm des l’art pour l’art.

1 Medientheoretische und semiotische Grundlagen

1.1 Intermedialität und Medienkonkurrenz

Mediale Inhalte, die auf andere Medien Bezug nehmen, sind im Grunde ein semiotisches Paradox. Hinter dieser These steckt die Beobachtung, „dass symbolischen Darstellungen bestimmte mediale Eigenschaften zugeordnet werden können, die […] in der Regel aber hinter ihren Effekt zurücktreten oder gar unsichtbar bleiben“2. Mit anderen Worten: Die Funktionsbedingung medialer Darstellungen ist die Verschleierung der ihnen zugrunde liegenden Medialität, oder, wie Sybille Krämer betont: „[W]ir lesen nicht Buchstaben, sondern eine Geschichte; […] und der Kinofilm lässt gewöhnlich die Projektionsfläche vergessen.“3 Doch eben

diese Formen ihrer medialen Eigenschaften werden besonders dann ihrerseits Gegenstand von Beobachtung, wenn sie selbst zu Bestandteilen von symbolischen Darstellungen werden, die anderen medialen Voraussetzungen geschuldet sind.4

Diese gegenseitige Bezugnahme verschiedener Mediensysteme aufeinander ist eine Erscheinung, welche seit Mitte der 1990er Jahre insbesondere die sogenannten Textwissenschaften beschäftigt und wofür in diesem Zuge der Begriff der Intermedialität etabliert wurde.5 Intermedialität bezeichnet knapp „ein Phänomen der Vermischung zwischen unterschiedlichen Medien“6, setzt historisch aber lange vor den multimedialen Szenarien unserer digitalen Gegenwart ein. Hierauf weist Irina O. Rajewsky hin, wenn sie in einem Einführungsband zwischen drei intermedialen Spielarten unterscheidet: Die ‚Medienkombination‘ beruht auf dem Verbund „mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien, die in ihrer Materialität präsent sind“7. Beim ‚Medienwechsel‘ wird ein Inhalt in ein anderes Medium transformiert, wie es etwa die Literaturverfilmung vorführt.8 Schließlich nennt Rajewsky das Phänomen ‚intermedialer Bezüge‘, bei dem ein Medium „Elemente und/oder Strukturen des anderen […] Mediums mit den eigenen, medienspezifischen Mitteln thematisiert, simuliert oder, soweit wie möglich, reproduziert“9. Dies ist etwa bei der Ekphrasis der Fall.

Die von Rajewsky betonte Distinktheit der an intermedialen Erscheinungen beteiligten Einzelmedien verweist auf den Konnex von Intermedialität und Medienkonkurrenz. ‚Distinkt‘ bedeutet: Jedes Medium10 verfügt über eine spezifische Eigenlogik beziehungsweise ein spezielles semiotisches Potenzial. Als Indiz dafür, dass diese medialen Spezifika besonders dann evident werden, wenn zwei oder mehrere Medien nebeneinander treten, kann die Genese des Medienbegriffs angeführt werden: Denn dieser entstand erst, als das Jahrhunderte währende Monopol des Speichermediums Schrift durch die Emergenz technischer Medien gebrochen wurde – vorher „fungierte Schrift als Medium überhaupt“11. Es besteht mithin ein enger Zusammenhang zwischen Medienkonkurrenz und dem Bewusstsein für Medialität überhaupt; für die Tatsache, dass mit jedem Medium eine spezielle Form der Wirklichkeitskonstruktion einhergeht.

Verweist somit ein Medium durch intermediale Bezugnahme auf ein weiteres, begibt es sich mit diesem in ein Konkurrenzverhältnis. Insofern ist das Prinzip des intermedialen Bezugs zugleich selbstreferenziell, denn das materiell präsente Medium macht durch die Thematisierung eines anderen Mediums notwendigerweise auch eine Aussage über die eigenen ästhetischen und semiotischen Spezifika.12 Die Untersuchung intermedialer Bezüge kann daher von dem Interesse geleitet sein, Wesen und Funktion des „kontaktnehmenden“13 Mediums zu erhellen. Denn aus dem benannten Konkurrenzverhältnis bildet sich eine semiotische Differenzstruktur heraus, aus der qua Analyse eine Medientheorie formuliert werden kann.

1.2 Text versus Bild

Welches sind nun die grundlegenden Unterschiede zwischen Texten auf der einen, Bildern auf der anderen Seite? Heuristisch kann formuliert werden, dass „Sprache ein diskursives, Bilder hingegen ein präsentatives Symbolsystem sind“14. Sprache eignet sich demnach „eher zur Narration, Explikation und Beschreibung, Bilder hingegen eher zur Präsentation der physischen Erscheinung von merkmalsreichen Objekten“15. Diese pragmatische Differenzierung kann mithilfe der Zeichentypologie von Charles S. Peirce und seiner Unterscheidung zwischen Ikon, Index und Symbol16 semiotisch spezifiziert werden: Gemäß besagter Trichotomie wird das Wesen eines Zeichens durch sein Verhältnis zu dem Objekt bestimmt, auf das es verweist. Ein Zeichen ist nach Peirce ikonisch, wenn die Beziehung zum bezeichneten Objekt auf einem Verhältnis der Ähnlichkeit beruht. Bilder sind demgemäß in der Regel ikonische Zeichen.17 Die Beziehung eines indexikalischen Zeichens zu seinem Objekt kann knapp gefasst als ein Verhältnis kausaler Determiniertheit ausgedrückt werden. Voraussetzung ist ein natürlicher Zusammenhang zwischen Zeichen und Objekt; etwa zwischen der Stellung eines Wetterhahns und der Windrichtung. Daher kann dieses Zeichen auch als Anzeichen definiert werden. Unter symbolischen Zeichen schließlich versteht Peirce solche Zeichen, die keinerlei intrinsische Beziehung zum repräsentierten Objekt haben, sondern lediglich durch Konvention mit ihm verbunden sind. Maßgebliches Beispiel für Symbole sind die Zeichen der – gesprochenen wie geschriebenen – Sprache.18

Die ontologische Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Welt stellt sich spätestens dann, wenn ikonischen und symbolischen Zeichen nicht nur unterschiedliche Verweisstrukturen, sondern auch jeweils genuine Bezugssphären zugeordnet werden. Ferdinand de Saussure hat aus der Arbitrarität des Sprachzeichens die berühmte Konsequenz gezogen, dass sprachliche Kommunikation niemals auf eindeutig in der Welt verortbare Entitäten verweist, sondern nur auf deren mentale Repräsentation, die „Vorstellung“.19 Den erkenntnistheoretischen Gehalt dieser These zeigt das „semiotische Dreieck“20 von C. K. Ogden und I. A. Richards auf: Hier ist der vermeintliche blinde Fleck in Saussures Modell, das tatsächliche Objekt, als „Referent“ berücksichtigt. Entscheidend an dem Modell ist, dass in ihm das Moment der „Wahrheit“ vorkommt, das sprachliche Symbol dieses Kriterium aber nur über die Beziehung zu besagtem Referenten erfüllt, welche jedoch – die unterbrochene Linie deutet es an – nicht direkt, sondern über den Umweg der Vorstellung, hier „Gedanke oder Bezug“ genannt, hergestellt wird.21 Nun kann bei einem Begriff wie etwa „Haus“ noch eine Beziehung zu einem Referenten, nämlich einem tatsächlich in der Realität vorkommenden Haus, postuliert werden, doch wie verhält es sich mit Abstrakta wie „Ehre“ oder „Dionysos“?22 Es scheint, als sei die Möglichkeitsbedingung solcher Begriffe eben die „Ortlosigkeit der Sprache“23, welche von den Objekten der tatsächlichen Welt abgekoppelt ist. Die basale Differenz zwischen ikonischen und symbolischen Zeichen, in diesem Rahmen also zwischen Bildern und Texten, liegt damit in ihrer Nähe respektive Ferne zu einer sinnlich wahrnehmbaren Realität.

2 Analyse: Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray24

2.1 Zwei Theorien von Malerei und Wort

Your mysterious young friend, whose name you have never told me, but whose picture really fascinates me, never thinks. […] He is some brainless, beautiful creature, who should be always here in winter when we have no flowers to look at.25

Mit diesen wenig schmeichelhaften Worten drückt Lord Henry Wotton, der hocheloquente Counterpart des Malers Basil Hallward, seine Begeisterung für dessen jüngste Schöpfung aus. Der Kommentar bezieht sich auf das Porträt eines „young Adonis“26, welches ihn zu einer kunsttheoretischen Reflexion bewegt: „The moment one sits down to think, one becomes all nose, or forehead, or something horrid.“27 Werke darstellender Kunst dienen somit der ornamentalen Verzierung, an die kein intellektueller Anspruch gestellt werden darf.28 Gleichzeitig ordnet Wotton der Rede besagten Anspruch insofern zu, als er sich des Mediums der Sprache bedient und einen Geltungsanspruch für seine Ausführungen erhebt. Das Verhältnis von Bild und Sprache erscheint damit als eine Beziehung von ‚Oberfläche‘ zu ‚Tiefe‘; es ist die ‚präsentativ/diskursiv‘-Attribuierung mit ideologischer Erweiterung.

Hallward hingegen sieht in dem Porträt weit mehr als nur eine potenzielle Substitution der visuell ansprechenden Flora, die sein Atelier schmückt: „What the invention of oil-painting was to the Venetians, the face of the Antinoüs was to the late Greek sculpture, and the face of Dorian Gray will some day be to me.“29 Dorian Gray ist der Name des mysteriösen Adonis; und dieser hat durch seine visuelle Präsenz dem Künstler völlig neue Ausdrucksformen erschlossen.30 In einem Atemzug mit dem postulierten Kontinuum der Meilensteine visueller Kunst behauptet Hallward: „There is nothing that Art cannot express.“31 Der Maler wertet also seine Kunstform auf und präsentiert sie als Universalmedium, das Zugriff auf sämtliche Empfindungen hat und nicht nur – wie Wotton es behauptet – ornamentale Funktion.

Der hiermit eingeläutete Konkurrenzkampf zwischen Text und Bild wird vorläufig zugunsten von Wotton entschieden. Denn als dieser in Hallwards Atelier erstmals auf Gray trifft, erschüttert er mit einer flammenden Rede das Weltbild des jungen Adonis: „The only way to get rid of a temptation is to yield it“32, so Wotton; es ist ein Appell an den bildschönen Gray, seine unerfüllten Tagträume und Wünsche in die Tat umzusetzen. Dorians innerer Monolog kulminiert in dem Ausruf: „Words! Mere words! How terrible they were! How clear, vivid, and cruel! […] They seemed to be able to give a plastic form to formless things. […] Mere words! Was there anything as real as words?“33 In dieser Sentenz findet sich eine postulierte Identität von Wort und Wahrheit. Es sind also ‚nur‘ Worte, die jedoch die Kraft haben, Menschen über das Telos der Existenz aufzuklären und ihnen die Unerfülltheit ihres bisherigen Lebens aufzuzeigen – somit findet der in Wottons Bildkommentar mitschwingende Logozentrismus in den Gedanken Dorian Grays seine Bestätigung. Die rhetorische Frage am Ende von Grays Ausruf verrät die Implikation, dass jedes andere Medium hinsichtlich seines Zugangs zur Wirklichkeit hinter der Sprache zurückbleiben müsse.

Diese kühne These erfährt solange keinen Widerspruch, bis Hallward die finalen Pinselstriche auf die Leinwand gesetzt hat: „A look of joy came into his eyes, as if he [Dorian Gray] had recognized himself for the first time.“34 Was zuvor Wottons Worte waren, ist nun das Porträt – es klärt Gray über das Wesen seiner Existenz, i. e. seine außergewöhnliche Schönheit auf. Die zahlreichen Komplimente, die Hallward dem jungen Mann zuvor gemacht hatte, waren ohne Wirkung geblieben: „He had listened to them, laughed at them, forgotten them.“35 Die Rede Wottons bewegte Gray zwar, doch erst sein auf Leinwand gebanntes Ebenbild liefert ihre Bestätigung. Erschlagen von der eigenen Schönheit, exklamiert er: „If it were I who was to be always young, and the picture was to grow old!“36

2.2 Das Porträt und sein Eigenleben

Grays Ausruf bleibt nicht ohne Folge. Kurz nachdem er seine Liaison mit der Schauspielerin Sybil Vane aus Enttäuschung über deren künstlerisches Unvermögen beendet hat, stellt er fest, dass sich das Porträt in seinem Zimmer verändert hat: „The expression looked different. One would have said that there was a touch of cruelty in the mouth.“37 Er begreift, dass es einen Zusammenhang zwischen seinem Verhalten gegenüber Vane und der Darstellung auf der Leinwand gibt, „as if he had been looking into a mirror after he had done some dreadful thing“38.

Damit erhalten die dialektischen Medientheorien Wottons respektive Hallwards im titelgebenden Porträt ihr Drittes: Durch seine Struktur nimmt das dynamische Bild alle drei Funktionen aus Peirce’ Zeichentheorie in sich auf. Zunächst erfüllt es das Kriterium, das an bildende Kunst generell zu stellen ist; es ist dies das Kriterium der Ähnlichkeit mit dem dargestellten Objekt. Diese Ähnlichkeitsbeziehung wird auch durch die von Gray verwendete „mirror“-Metapher bestätigt und ist die Voraussetzung dafür, dass er das Kunstwerk überhaupt auf sich selbst beziehen kann. In Bezug auf seinen Abbildcharakter ist das Bild somit ikonisch. Wie herausgestellt, sind indexikalische Zeichen jene, die kausal von dem durch sie repräsentierten Objekt hervorgerufen werden. Die veränderten Gesichtszüge auf dem Porträt stehen in unmittelbarer Verbindung zu der Missetat, die Gray begangen hat. Also ist das Bild durch seine Funktion als Anzeichen für die moralische Korrumpiertheit des Protagonisten indexikalisch. Schließlich ist das Porträt auch zu einem gewissen Grade symbolisch, insofern als erstens kein natürlicher Alterungsprozess abgebildet wird und es in der Welt zweitens keinen derlei gearteten dynamischen Zusammenhang zwischen den Handlungen einer Person und ihrem Aussehen gibt. In dem Sinne, dass der Zusammenhang zwischen Gesinnung und Gestalt in der Natur so nicht vorkommt, ist es daher symbolisch. Es bleibt allerdings fraglich, ob Grays Interpretation tatsächlich am Faktum einer Absprache hängt, mithin ontologisch arbiträr ist, oder ob die Zeichnung ihre Wirkung nicht eher ‚aus sich selbst heraus‘ produziert. Zwar wurzelt ihr Eigenleben in Grays exklamiertem Wunsch nach ewiger Jugend, was als außer Kontrolle geratene ‚Absprache‘ bezeichnet werden könnte. Aufgrund der Frage nach Willkür oder Evidenz der Mutation ist die symbolische Funktion des Bildes jedoch weniger stark ausgeprägt als seine ikonische und indexikalische.

Gray selbst reflektiert den indexikalischen Charakter des Bildes, als er fragt: „Was there some subtle affinity between the chemical atoms, that shaped themselves into form and colour on the canvas, and the soul that was within him?“39 Schockiert von dem „visible symbol of the degradation of sin“40 durchläuft er einen Gesinnungswandel, woraufhin er sich entschließt, Sibyl Vane zu heiraten,41 was erneut die Suprematie von Sprache in Zweifel zieht, da es eben nicht Worte waren, die Gray zum Umdenken bewogen haben, sondern die erschreckenden Konturen auf der Leinwand. Just in diesem Moment erfährt er von Wotton, dass Vane Selbstmord begangen hat. Gray erwägt zwei Möglichkeiten, um auf diskursivem Wege wieder Herr der Situation zu werden: Zunächst denkt er darüber nach, ein Gebet zu sprechen, was er jedoch nicht tut42 – als habe der non-verbale Zeigegestus des Bildes Grays Vertrauen in die Macht der Worte bereits aufgehoben. Daraufhin hält er einen „curious scientific reason“43 für möglich, dies bedeutet: Er dichtet in der indexikalischen Lesart des Bildes das auslösende Moment, seine Handlungen, in einen chemisch-physikalischen Stimulus um. Doch als letzte Konsequenz bleibt dem Protagonisten nur noch ein kurzer finaler Rückfall in den wottonschen Logozentrismus.

Am Morgen nach der Todesnachricht erhält Gray Besuch von Basil Hallward, der ihm seine Trauer anlässlich des Todes von Sybil Vane mitteilt. Gray entgegnet: „Don’t talk about horrid subjects. If one doesn’t talk about a thing, it has never happened. It is simply expression, as Harry says, that gives reality to things.“44 Dies markiert den Höhepunkt der von Wotton postulierten Vormachtstellung von Sprache bezüglich ihres Zugangs zur Wirklichkeit; sie erscheint als Gültigkeitsbedingung für Geschehnisse in der Welt. Infolgedessen lenkt Hallward das Gespräch auf das Porträt in Vorahnung des Eigenlebens, das es entwickelt hat: „Have you noticed in the picture something curious?“45 Der Maler erzählt, dass er sich geweigert hätte, das Bild auszustellen, denn „I had put too much of myself into it. […] Harry […] laughed at me. But I did not mind that“46. Trotz dieser Erkenntnis räumt er ein: „Art is always more abstract than we fancy. Form and colour tell us form and colour – that is all.“47 Hallward versucht somit, das Porträt nicht als Abbild, sondern als plastisches Zeichen zu betrachten, dies heißt um seiner selbst willen „als reine abstrakte Form oder farbliche Gestalt“48. Eine solche Betrachtung bedeutet, die Ikonizität des Bildes zu leugnen. Auch der Maler setzt folglich seine letzte Hoffnung in das diskursive Medium der Sprache, um den Konnex zwischen Bild und Welt abzustreiten und damit seine eigene Medientheorie zu verwerfen. Im drohenden Angesicht des Indexikalischen zeigen sich Malerei und Wort versöhnlich.

Als letzten Versuch der Verdrängung lässt Dorian Gray das Porträt auf den Speicher seines Hauses tragen – und stellt eine weitere Veränderung fest:

That was horrible in its cruelty. Compared to what he saw in it of censure or rebuke, how shallow Basil’s reproaches about Sybil Vane had been! […] His own soul was looking at him from the canvas and calling him to judgement.49

Basils Hallwards Vorwürfe, also Worte, haben marginale Bedeutung gemessen an der durchschlagenden Evidenz des Bildes, welches unmittelbaren Zugang zu Dorian Grays Seele hat – oder eben dazu, was nach Ogden und Richards die nicht verbalsprachlich verschleierte ‚Wahrheit‘ ist.

2.3 Sprechende Bilder und schmückende Worte

Es ist deutlich geworden, dass der semiotische Schrecken des kontinuierlich hässlicher werdenden Porträts im Wesentlichen darin begründet liegt, dass es durch seinen diffusen Status zwischen Index, Ikon und Symbol eine eindeutige zeichentheoretische Etikettierung unmöglich macht. Auch überfordert das Bild die klassische Gattungstheorie Gotthold Ephraim Lessings, derzufolge die Malerei idealerweise Zustände, Dichtung hingegen Prozesse wiedergeben solle50 – denn beide Dimensionen, Raum und Zeit, fallen im dynamischen Porträt zusammen. Nicht zuletzt widerlegt es die These, dass Bilder an sich nichts behaupten können und prinzipiell semantisch offener, i. e. mehrdeutiger sind als Sprache.51 Denn der Schrecken der Zeichnung liegt gerade in ihrem autosemantischen Charakter, weswegen sämtliche diskursiven Leugnungsversuche durch die Figuren ohne Effekt bleiben.

Was schließlich im letzten Drittel der Romanhandlung geschieht, ist die völlige Umkehrung der Medientheorie Wottons und der dort formulierten Qualitäten von Sprache respektive Bild – beziehungsweise die Synthese der beiden. Zunächst nimmt Gray eine Lektüre zur Hand, deren erkenntnistheoretischer Gehalt nicht einmal mehr behauptet wird: Er liest „wonderful stories, also, about jewels“52, von „flame-red cinnamon-stones, orange and violet spinels“53. Damit erscheint auf einmal Sprache als Medium der Oberfläche und als Ort der ornamentalen Verzierung, eben der Funktion, die Wotton eingangs der Malerei zugeordnet hatte. Wenig später erhält der inzwischen 38-jährige Gray ein letztes Mal Besuch von Basil Hallward, den die Kunde der fortgeschrittenen moralischen Verwahrlosung seines Bekannten zweifeln lässt: „I wonder do I know you? Before I could answer that, I should have to see your soul“54, was Gray zum Anlass nimmt, den Index seiner Seele offenzulegen – „I keep a diary of my life from day to day, and it never leaves the room in which it is written. I shall show it to you if you come with me.“55 Die Grenzen zwischen Bild und Text scheinen völlig zu verwischen: Das Tagebuch, der Versuch einer schriftlichen Fixierung der Wirklichkeit, geht völlig im Medium Bild auf, jedoch sublimiert durch die Ersetzung symbolischer Zeichen durch ein ikonisch-indexikalisches. Die Kraft des Bildes ist dermaßen stark, dass der Anblick Gray dazu bewegt, den erschaudernden Hallward töten zu wollen – „an uncontrollable feeling of hatred for Basil Hallward came over him, as though it had been suggested to him by the image on the canvas“56. Es soll nicht bei einer simplen Vorstellung bleiben.

Es ist signifikant, dass Gray nach dem Mord die Leiche Basils mit einem „wax image“57 vergleicht – ein weiterer Beleg dafür, wie sehr die Bildsemiotik die Wahrnehmung der Titelfigur unterwandert hat. Diese Logik führt so weit, dass Gray schließlich anfängt, selbst zu zeichnen: „Suddenly he remarked that every face he drew seemed to have a fantastic likeness to Basil Hallward.“58 Als hätte sich das Porträt plötzlich in seine Hände hinein verlängert, entwirft der Protagonist selbst Bilder, die Indizes seines Gewissens sind. Davon irritiert, zerstreut er sich – mit einem Buch. „[T]he beauty of poetry“59 lässt ihn also die Realität vergessen und erscheint an dieser gemessen als narkotisierender Oberflächenreiz. Ein Nebensatz in der Erzählung fasst die neue Medientheorie zusammen, indem er nüchtern die Grenzen medienvergessener Sprachfixiertheit aufzeigt: „as though words could alter things.“60

Wer unter diesen Bedingungen behauptet, der Wahrheit das Wort reden zu können, lügt. Lord Henry Wottons Rede über „the way people go about nowadays saying things against one behind one’s back that are absolutely and entirely true“61 scheint deshalb geradezu obsolet. An die Stelle ewiger Wahrheiten tritt „an ornament of oratory“62. Doch auch Wotton scheint sich auf einmal der Grenzen seines bevorzugten Mediums bewusst zu werden: „Death and vulgarity are the only facts in the nineteenth century that one cannot explain away.“63 Solch Einsicht kommt freilich zu spät, gemessen an jemandem, der unmittelbaren Zugang zur Wahrheit hatte, weshalb Gray die Debatte für sich entscheiden muss: „Don’t, Harry. The soul is a terrible reality. It can be bought, and sold, and bartered away. It can be poisoned, or made perfect. There is a soul in each one of us. I know it.“64 Gäbe es so etwas wie eine medientechnische Moral, sie könnte besagen, dass es im Endeffekt nicht Worte waren, die Dorian Gray zum Mann gemacht haben, sondern ein Bild.

2.4 Wilde lesen mit McLuhan: Von Künsten zu technischen Medien

Bislang ist das dynamische Porträt im hiesigen Text seiner semiotischen Eigenlogik zum Trotz noch heuristisch als ‚Bild‘ bezeichnet worden. Im Folgenden soll plausibel gemacht werden, dass es tatsächlich auf eine völlig andere technologische Realität verweist. Den Weg dorthin ebnet eine Deutung des antiken Narziss-Mythos, wie sie Marshall McLuhan in seiner Studie Understanding Media entwickelt:

Der Jüngling Narziß faßte sein eigenes Spiegelbild im Wasser als eine andere Person auf. Diese Ausweitung seiner selbst im Spiegel betäubte seine Sinne, bis er zum Servomechanismus seines eigenen erweiterten und wiederholten Abbilds wurde. Die Nymphe Echo warb um seine Liebe mit Bruchstücken seiner eigenen Worte, doch vergebens. Er war betäubt.65

Entgegen der gängigen Lesart verliebt sich Narziss somit nicht in seine eigene Person, sondern in die „Ausweitung seiner selbst“66, und aufgrund dieser Verblendung erhört er die lockenden Rufe der Nymphe nicht. Grundlage dieser Interpretation ist die gemeinsame etymologische Wurzel von „Narzissmus“ und „Narkose“.67 McLuhans These lautet nun, dass der Narziss-Mythos die conditio humana in einer „stark technischen und daher narkotischen Kultur“68 widerspiegelt: Medien fungieren auf der einen Seite als Selbstausweitung, führen auf der anderen Seite aber auch zur „Selbstamputation“69, da das Nervensystem besagte Ausweitung nur durch Betäubung oder Blockierung der Wahrnehmung ertragen kann – durch besagte Betäubung wird Selbsterkenntnis ausgeschlossen. Wenn Narziss also betäubt ist von seinem ‚Apparat‘, dem Spiegelbild, verschmelzen beide zu einem kybernetischen System. Diese Logik stößt laut McLuhan im Zeitalter technischer Medien an ihren Kulminationspunkt; ganz so, als sei mit der Entdeckung der Elektrizität eine anthropologische Konstante an die Oberfläche getreten.70

Es lassen sich mehrere Parallelen entdecken zwischen Narziss und der Figur des Dorian Gray: Auch Gray wird von seinem – auf Leinwand fixierten – Abbild, der „Ausweitung seiner selbst“71, dahin gehend betäubt, dass es ihn zu seiner folgenschweren Exklamation und damit einem Leben fernab jeder Moral verleitet. Damit inauguriert er die finale ‚Selbstamputation‘: Grays Seele wird in das Bild ausgelagert, wodurch auch er sich mit seiner Selbstausweitung zu einem geschlossenen System verschränkt. Auch er kann infolgedessen die Liebe einer Frau – der Schauspielerin Sybil Vane – nicht erwidern. Und schließlich bedeutet die Körperexteriorisierung in beiden Fällen den Tod der Figur: Narziss verhungert je nach Überlieferung entweder bei der Bewunderung seines Spiegelbildes oder ertrinkt bei dem Versuch, es zu umarmen; Gray stirbt, als er die ‚Ausweitung seiner selbst‘ mit einem Messer zerstören möchte.72 Der vermeintliche, durch seinen Wunsch nach ewiger Jugend unterzeichnete Teufelspakt erscheint so als bloßer medialer Effekt.

Nun ist Wildes Erzählung, abgesehen von der einmaligen Erwähnung eines Telegrafen,73 keine Geschichte von technischen Medien. Doch die Logik des verhängnisvollen Porträts, die darin besteht, die von Lessing noch säuberlich getrennten Dimensionen Raum und Zeit zusammenführen, entspricht derer jenes Mediums, dessen Erfindung den „Horror der Gattungstheorie“74 markieren sollte: der Logik des Mediums Film. Der stille Wunsch nach einer Überschreitung der visuellen Statik der Malerei wird schon ganz zu Anfang deutlich, als von „those pallid jadefaced painters of Tokio, who, through the medium of an art that is necessarily immobile, seek to convey the sense of swiftness and motion“75 die Rede ist. Wildes Text hypostasiert im Motiv des Porträts somit einen Übergang von den miteinander in Bezug gesetzten Medien Bild und Text hin zum Zeitalter des Bewegtbildes, welches jeglicher lessingschen Gattungsdogmatik ihren medientechnischen Boden entzieht.

Diese These mag auf den ersten Blick erstaunen. Es könnte eingewendet werden, dass das Motiv des veränderlichen Porträts bereits 1826 in Benjamin Disraelis Erzählung Vivien Grey zu finden ist. Doch zum einen nimmt dort die Thematisierung des Bildes nur einen marginalen Teil des Textes ein; zum anderen bekommt der Porträtierte sein Abbild überhaupt nicht zu Gesicht.76 Vor allem aber mag als Gegenargument angeführt werden, dass die erste öffentliche Filmvorführung erst 1895 nach der Erfindung des Cinématographen durch die Brüder Lumière stattfand, The Picture of Dorian Gray jedoch fünf beziehungsweise vier Jahre vorher veröffentlicht wurde. Allerdings gelang den Serienfotografien von Eadweard Muybridge bereits im Jahr 1878 die Erfassung von Bewegungen, welche für das menschliche Auge schlicht zu schnell sind.77 Zeitlichkeit, seit dem 17. Jahrhundert im Medium der Laterna magica vortäuschbar, traf damit auf apparative Speichertechnik. Auch wenn das Massenmedium Film noch nicht eingeführt worden war, hatte sich zur Zeit Wildes eine Überwindung der Bildstatik also längst im Realen angekündigt.

Die Indexikalität, das Skandalon des Porträts in Wildes Text, stellt zudem eine indirekte Parallele zur semiotischen Logik der Filmaufzeichnung dar. Denn Film ist insofern indexikalisch, als das filmische Bild eine direkte Verbindung zu den Lichtreflexen seines Referenzobjektes hat.78 Entspricht die gesprochene wie geschriebene Sprache somit dem peirceschen Begriff des Symbols und das Bild dem des Ikons, erhält die Kategorie des Index ihr medientechnisches Korrelat in der physikalisch präzisen Datenspeicherung. Die Antizipation besagter Indexikalität des Filmbildes macht auch Basil Hallward fassungslos: Als er sein mittlerweile bis zur Unkenntlichkeit deformiertes Werk zu Gesicht bekommt, entfährt ihm ein Aufschrei des Schocks – „I don’t believe it is my picture.“79 Selbst seine noch lesbaren Initialen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Bild der Kontrolle des Urhebers entglitten ist.80 Denn Filmbilder werden vor allem durch die Realität hervorgerufen, durch das, was bei Ogden und Richards ‚Referent‘ heißt, und markieren damit einen Angriff auf das Hoheitsgebiet der Autorschaft – mit schweren Folgen für die Literatur: „Der Film entwertet die Wörter, indem er ihre Referenten, diesen notwendigen, jenseitigen und wohl absurden Bezugspunkt von Diskursen, einfach vor Augen stellt.“81

Worin besteht nun der Eigenwert von Literatur? Die Antwort kann in der spezifischen Medialität von Sprache gefunden werden; und hiermit soll von expliziten Verweisen auf das System Text in Wildes Roman übergegangen werden zu seiner medialen Verfasstheit. Dichterische Freiheit nämlich macht es Wilde möglich, der filmischen Struktur des Porträts eine transzendente Komponente hinzuzufügen. Rekurriert man auf die etymologische Wurzel des Wortes ‚Monster‘ im lateinischen ‚monstrare‘ – ‚zeigen‘, ‚hinweisen‘, ‚lehren‘ – und identifiziert mit dem Begriff auch ein „göttliches Mahnzeichen“82, kann die Zeichnung daher als ‚monströs‘ bezeichnet werden. Nun ist es hinlänglich bekannt, dass sich nicht nur Horrorfilme, sondern konsequenterweise alle visuellen Künste dem Paradox ausgeliefert sehen, dass das Monströse nur „solange furchteinflößend ist, wie es nicht gezeigt wird“83 – ein Problem, mit dem sich Literatur nicht beschäftigen muss. Denn der Leser eines literarischen Textes hat überhaupt keine andere Wahl, als die im Text angedeuteten Objekte zu imaginieren – eine Sichtbarkeit des Referenten und die Medialität von Schrift schließen sich gegenseitig aus. Bei aller Kritik am Logozentrismus in Wildes Roman ist der Triumph des Wortes über die visuellen Medien folglich deren kategorische Unsagbarkeit.

2.5 Am Ende: Rückkehr zur Literaturtheorie

The Picture of Dorian Gray erzählt, dies ist im Analyseteil des vorliegenden Textes deutlich geworden, nicht nur die Geschichte eines jungen Mannes, der an seinem vermeintlichen Narzissmus zugrunde geht, sondern auch die von einem Konkurrenzkampf der Medien Sprache und Bild. Das Resultat ist eine Struktur, welche sich wie eine Skizzierung des Übergangsprozesses von Künsten zu technischen Medien liest und die durchaus mit den Kategorien hegelscher Dialektik ausgedrückt werden kann: Der Logozentrismus des eloquenten Lord Henry Wotton (These) steht zunächst diametral zum Ikonozentrismus des Malers Basil Hallward (Antithese). Beide Medientheorien geraten durch das semiotische Skandalon des veränderlichen Porträts ins Wanken – die von Wotton, da das Bild einen Zugriff auf sogenannte Wahrheit hat, hinter dem die Sprache zwingend zurückbleiben muss; die von Hallward, da das Bild ein auf die visuellen Künste übertragenes Konzept von Autorschaft angreift. Nicht der vom Maler behauptete Umstand, dass er zu viel von sich selbst im Porträt preisgegeben habe, ist für das Eigenleben des Porträts verantwortlich – es ist die Realität, welche die grausigen Verzerrungen des Bildes hervorruft. Durch besagte Indexikalität sowie durch die Verschränkung der Dimensionen Raum und Zeit mündet der Konkurrenzkampf der beiden Systeme schließlich in einer Vorwegnahme des Mediums Film (Synthese). Bild und Text werden dabei – streng nach Hegel – in dreifacher Weise aufgehoben, da sie im System des Films zunächst beseitigt, andererseits in der Raum/Zeit-Synthese aber auch aufbewahrt und dadurch schließlich auf eine höhere Qualitätsstufe transzendiert werden.

Auf der anderen Seite findet sich in Wildes Text der klassisch-hermeneutische Dreischritt aus Theorie, Revision und – vorläufiger – Konklusion. Denn dominiert wird der im Roman implizit vollzogene Theoriediskurs von Wottons und dem schließlich von Gray adaptierten Postulat einer Vormachtstellung des Mediums Sprache. Diese wird anlässlich der non-verbalen Aussagekraft des Porträts einer Prüfung unterzogen – was schließlich in der Konsequenz gipfelt, dass der Wert von Worten auf das Kriterium der bloßen Schönheit reduziert wird. Es drängt sich die Frage auf, ob sich ein Werk, das mit derartiger Vehemenz Sprachkritik übt, diese jedoch selbst im Medium der Sprache transportiert, nicht selbst seine Gültigkeit anspricht. Es ist ausgerechnet Lord Henry Wotton, aus medientheoretischer Sicht die wahrhaft tragische Figur in Wildes Roman, der diesen Widerspruch auflöst, wenn er gegen Ende der Erzählung bemerkt: „Art has no influence upon action. It annihilates the desire to act.“84 – Schopenhauers Definition von Kunst.85 Die damit verbundene Leugnung eines Telos der Kunst ist Voraussetzung für die Idee des l’art pour l’art86 – ein Gedanke, der bereits in Wildes Vorwort formuliert ist.87 Die Apotheose von Sprache als Medium der Metaierung und Selbstreflexion88 ist deshalb allenfalls semiotisch, nicht aber poetologisch die Lösung. Wottons anfängliche Eloge auf die „art of literature, which dealt immediately with the passions and the intellect“89 zeugt nämlich allzu sehr von ihrer teleologischen Vereinnahmung. An eine Kunst jedoch, deren Finalität im ästhetischen Wohlgefallen besteht, kann konsequenterweise nicht der Anspruch gestellt werden, unmittelbaren Zugang zur Wahrheit zu haben. Wenn Wotton und später auch Dorian Gray für die Sprache mehrfach eben diesen Zugang einfordern, verstricken sie sich in einen performativen Widerspruch.

Es sind nämlich gerade die zahlreichen, eher ornamentalen denn ontologischen Ansprüchen genügenden Aphorismen Wottons und darüber hinaus die immer wieder im Text auftauchenden bildhaft-ausladenden Beschreibungen durch den Erzähler,90 welche den Gedanken einer zweckfrei schönen Kunst transportieren. Die logozentrischen Reden der Figuren bleiben somit hinter der ästhetischen Praxis zurück, die dem Werk zugrunde liegt. Indem das Medium Sprache innerhalb der Diegese die qualitativen Extreme von Tiefe und Oberfläche durchläuft, diese Spannung jedoch im Modus des Erzählens bereits aufgelöst ist,91 wird daher ein weiterer dialektischer Prozess offenbar. Denn dadurch, dass der Charakter des Ornamentalen in der sprachlichen Performanz aufgeht, erscheinen die Systeme von Text und Bild von Anfang an miteinander verwoben. Dies bedeutet in der ästhetischen Praxis auf der einen Seite die Absage an eine allzu sture Sprachfixiertheit; auf der anderen Seite kann Sprache in diesem Zuge umso heft2cover4stärker ihr mediales ‚Defizit‘ gegenüber den visuellen Künsten, die Distribution von Vorstellungen anstelle einer Kopplung ihrer Zeichen an Referenzobjekte, ausspielen. Durch die Synthese der ästhetischen Qualitäten von Text und Bild in der Idee des l’art pour l’art artikuliert Wildes Text folglich die eigene Literaturtheorie. Damit ist er sowohl Allegorie einer prophetisch wirkenden Mediengeschichtsschreibung als auch ein Dokument poetologischer Reflexion.

Universität Bonn, Wintersemester 2008/09

1 Diese Tendenz ist etwa einem Forschungsüberblick zu entnehmen, wo hinsichtlich des Porträtmotivs medientheoretische Fragen keinerlei Erwähnung finden und stattdessen vor allem die möglichen Inspirationsquellen Wildes verhandelt werden. Vgl. Wolfgang Maier: Oscar Wilde – The Picture of Dorian Gray. Eine kritische Analyse der anglistischen Forschung von 1962 bis 1982. Frankfurt am Main: Peter Lang 1984. S. 235-318.

2 Joachim Paech/Jens Schröter: „Intermedialität analog/digital – Ein Vorwort.“ In: Intermedialität analog/digital. Theorien, Methoden, Analysen. Hrsg. von dies. München: Fink 2008. S. 9-14. Hier S. 9.

3 Sybille Krämer: „Das Medium als Spur und als Apparat.“ In: Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Hrsg. von dies. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. S. 73-94. Hier S. 74.

4 Joachim Paech/Jens Schröter: „Intermedialität analog/digital – Ein Vorwort.“ S. 9.

5 Vgl. Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen: Francke 2002. S. 1-3.

6 Yvonne Spielmann: Intermedialität. Das System Peter Greenaway. München: Fink 1998. S. 31.

7 Irina O. Rajewsky: Intermedialität. S. 15.

8 Vgl. ebd. S. 16-19.

9 Ebd. S. 17.

10 Auf eine ausführliche Diskussion des Medienbegriffs muss an dieser Stelle verzichtet werden. Im Rahmen der hiesigen Überlegungen wird von einem weiten Medienbegriff ausgegangen, wie er im Kontext intermedialer Forschung generell vorherrscht – „not in the restricted sense of a technical or institutional channel of communication but as as a conventionally distinct means of communication or expression characterized not only by particular channels (or one channel) for the sending and receiving of messages but also by the use of one or more semiotic systems“. (Werner Wolf: „Musicalized Fiction and Intermediality. Theoretical Aspects of Word and Music Studies.“ In: Word and Music Studies. Defining the field. Hrsg. von Walter Bernhart/Steven Scher/Werner Wolf. Amsterdam: Rodopi 1999. S. 37-58. Hier S. 40).

11 Friedrich A. Kittler: Grammophon Film Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose 1986. S. 13.

12 Dies geschieht, da die Medialität des kontaktnehmenden Mediums durch seine materielle Präsenz offen da liegt. Dass jedoch auch eine explizite Selbstthematisierung geschehen kann, soll imanalytischen Teil des vorliegenden Textes deutlich werden.

13 Irina O. Rajewsky: Intermedialität. S. 19.

14 Hartmut Stöckl: Die Sprache im Bild – Das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text: Konzepte, Theorien, Analysemethoden. Berlin/New York: de Gruyter 2004. S. 95.

15 Ebd.

16 Vgl. Charles S. Peirce: Semiotische Schriften. Band 1. Hrsg. von Christian Kloesel/Helmut Pape. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. S. 205-212 u. S. 428-430.

17 Vgl. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. 2., vollst. neubearb. und erw. Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000. S. 471.

18 Ab hier sind sämtliche anderen möglichen Verständnisse von ‚Symbol‘ oder ‚symbolisch‘ für die weiteren Ausführungen irrelevant. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass es bezogen auf Bild und Text auch Ausnahmen von der Ikon/Symbol-Zuordnung gibt. Das Kriterium der Ähnlichkeit greift etwa nicht zwingend bei abstrakter Malerei, sondern vor allem bei darstellender Kunst. Schließlich können auch schriftlich fixierte Sprachzeichen funktional ikonisch sein, so etwa bei Werken der konkreten Poesie, bei der das Lexem abund das Graphem aufgewertet wird.

19 Vgl. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hrsg. von Charles Bally/ Albert Sechehaye. Berlin/New York: de Gruyter 1967. S. 14-18 u. 76-82.

20 Charles K. Ogden/Ivor A. Richards: Die Bedeutung der Bedeutung (The Meaning of Meaning). Eine Untersuchung über den Einfluß der Sprache auf das Denken und über die Wissenschaft des Symbolismus. Hrsg. von Jürgen Habermas/Dieter Henrich/Jacob Taubes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. S. 18. Die hiesige Abbildung ist entnommen aus Pieter A. M. Seuren: „The Cognitive Dimension in Language Study.“ In: Folia Linguistica. Nr. 35 (3-4). Berlin/New York: 2001. S. 209–242. Hier S. 211.

21 Vgl. Peter Ernst: Pragmalinguistik. Grundlagen, Anwendungen, Probleme. Berlin/New York: de Gruyter 2002. S. 66f.

22 Vgl. ebd. S. 67.

23 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971. S. 19.

24 Grundlage der Analyse ist die 1891 erstveröffentlichte Buchfassung des Textes.

25 Oscar Wilde: „The Picture of Dorian Gray (1891).“ In: The Complete Works of Oscar Wilde. Bd. 3: The Picture of Dorian Gray. The 1890 and 1891 Texts. Hrsg. von Joseph Bristow. New York/Oxford: 2005. S. 165-357. Hier S. 170.

26 Ebd.

27 Ebd.

28 Diese Gegenüberstellung findet sich auch in Lord Henry Wottons Kommentar zum Wesen von Dichtern: „The worse their rhymes are, the more picturesque they look.“ (Ebd. S. 218).

29 Ebd. S. 176.

30 Vgl. ebd. S. 177.

31 Ebd. S. 176.

32 Ebd. S. 183.

33 Ebd. S. 184.

34 Ebd. S. 188f.

35 Ebd. S. 189.

36 Ebd.

37 Ebd. S. 245.

38 Ebd.

39 Ebd. S. 249.

40 Ebd. S. 250.

41 Vgl. ebd. S. 251.

42 Vgl. ebd. S. 258.

43 Ebd.

44 Ebd. S. 259.

45 Ebd. S. 264.

46 Ebd. S. 265.

47 Ebd.

48 Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. S. 473. Weitere mögliche Bezeichnungen sind „figuratives“ sowie „abstraktes“ Zeichen (ebd.).

49 Oscar Wilde: „The Picture of Dorian Gray (1891).“ S. 270.

50 In der 1766 verfassten Laokoon-Studie weist Lessing den Künsten Malerei und Dichtung spezifische mediale Kompetenzen zu. Als Grundlage dient ihm die Beobachtung, dass ein Maler seine Zeichen im Raum, ein Dichter hingegen in zeitlicher Abfolge anordne (vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon/ Briefe antiquarischen Inhalts. Hrsg. von Wilfried Barner. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 2007. S. 114-116). Der Dichtung spricht Lessing das Potenzial, „ein körperliches Ganzes nach seinen Teilen zu schildern“ aufgrund des willkürlichen und folglich mimetisch potenziell ungebundenen Charakters der Schriftzeichen zwar zu (vgl. ebd. S. 127). Jedoch durchbreche eine solche Schilderung in der Poesie das „Täuschende“ (ebd.) – Lessings Begriff für die Verschleierung der Medialität von Schrift. Seine Dichotomie ist somit eine streng normative.

51 Vgl. dazu etwa Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. S. 482.

52 Oscar Wilde: „The Picture of Dorian Gray (1891).“ S. 282.

53 Ebd.

54 Ebd. S. 295.

55 Ebd. S. 296.

56 Ebd. S. 299.

57 Ebd. S. 301.

58 Ebd. S. 304.

59 Ebd. S. 306.

60 Ebd. S. 310.

61 Ebd. S. 318.

62 Ebd. S. 320.

63 Ebd. S. 348.

64 Ebd. S. 350.

65 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle – „Understanding Media“. Düsseldorf/Moskau/New York/ Wien: Econ 1992. S. 57.

66 Ebd.

67 Vgl. ebd.

68 Ebd.

69 Ebd. S. 61.

70 Vgl. ebd. S. 57-61.

71 Ebd. S. 57.

72 Vgl. Oscar Wilde: „The Picture of Dorian Gray (1891).“ S. 357.

73 Vgl. ebd. S. 259.

74 Arno Meteling: Monster. Zu Medialität und Körperlichkeit im modernen Horrorfilm. Bielefeld: transcript 2006. S. 25.

75 Oscar Wilde: „The Picture of Dorian Gray (1891).“ S. 169.

76 Vgl. Wolfgang Maier: Oscar Wilde – The Picture of Dorian Gray. S. 250-254.

77 Vgl. Friedrich A. Kittler: Grammophon Film Typewriter. S. 178.

78 Vgl. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. S. 504.

79 Oscar Wilde: „The Picture of Dorian Gray (1891).“ S. 198.

80 Vgl. ebd.

81 Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800-1900. 4., vollst. überarb. Auflage. München: Fink 2003. S. 297.

82 Arno Meteling: Monster. S. 324f.

83 Hans D. Baumann: Horror. Die Lust am Grauen. Basel /Weinheim: Beltz 1989. S. 92.

84 Oscar Wilde: „The Picture of Dorian Gray (1891).“ S. 352.

85 Vgl. Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne. Bd. 1: Von Kant bis Hegel. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. S. 227f.

86 Vgl. Roman Lückscheiter: „Einleitung. Die Geschichte des l’art pour l’art-Gedankens und die französische Kunstdebatte der Jahre 1818-1847.“ In: L’art pour l’art. Der Beginn der modernen Kunstdebatte in französischen Quellen der Jahre 1818 bis 1847. Hrsg. von ders. Bielefeld: Aisthesis 2003. S. 9-36. Hier S. 9.

87 „All art is quite useless.“ (Oscar Wilde: „The Picture of Dorian Gray (1891).“ S. 168).

88 Vgl. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. S. 482.

89 Oscar Wilde: „The Picture of Dorian Gray (1891).“ S. 219.

90 Vgl. u.a. ebd. S. 244.

91 Vgl. auch die Diktion Wildes im Vorwort: „All art is at once surface and symbol.“ (ebd. S. 168.)

Werbung

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s