Inhaltliche Zusammenfassung
Puškin schrieb seinen Versroman Evgenij Onegin in den Jahren 1823 bis 1830 (erschienen 1833), in denen auch die Handlung des Romans angesiedelt ist. Protagonist des Romans ist Onegin, ein junger Dandy aus Petersburg, der des höfischen Lebens müde ist und für alle Freuden nur Langeweile empfindet. Durch seinen Freund Lenskij lernt er die junge Landadelige Tat`âna kennen, welche ihm später ihre Liebe in einem Brief gesteht. Onegin lehnt ab. Nach einem Streit mit Lenskij kommt es zu einem Duell, das mit dem Tod Lenskijs endet.
Jahre später begegnen sich Onegin und Tat`âna, die inzwischen mit einem einflussreichen General verheiratet ist, wieder. Onegin verliebt sich in sie und schreibt nun seinerseits einen Liebesbrief. Doch Tat`âna weist ihn zurück, obwohl sie ihn immer noch liebt.
1 Einleitung
Der Brief Tat`ânas an Onegin gehört nicht nur zu der bekanntesten Stelle aus Puškins Evgenij Onegin, sondern auch zu den berühmtesten Versen Puškins überhaupt. Bereits kurz nach dem Erscheinen des dritten Kapitels wurde der Brief Tat`ânas in den Kritiken positiv aufgenommen: „Где умел он [Puškin. – T.H.] найти эти страстные выражения, которыми изобразил томление первой любви? Как постиг он простоту невинного девичьего сердца […] в письме к Онегину!“1 Seine Stellung innerhalb des Schulkanons ist gar nicht mehr wegzudenken. Gegenteiliges gilt für sein Pendant, den Brief Onegins an Tat`âna. Seine Bedeutung innerhalb der russischen Literatur fällt verschwindend gering aus, was sich vor allem auch an dem Missverhältnis der Sekundärliteratur zu beiden Briefen zeigt.
Die vorliegende Arbeit hat es sich zum Ziel gesetzt, beide Briefe sowohl in ihrem Verhältnis zueinander als auch in ihrer sujetbildenden Funktion innerhalb des Romans zu untersuchen, wobei auch die Besonderheiten in der Wahl des Mediums – des Briefes – als Transporteur/Ausdruck der Liebeserklärung berücksichtigt werden sollen. Zu diesem Zweck werden beide Briefe zunächst einer metrisch-formel len Analyse unterzogen und ihre Versspezifika untersucht. Der daran anschließende zweite Punkt widmet sich der in den Briefen verwandten Sprache. In ihm sollen vor allem die Besonderheiten der so genannten ,Puškinschen Übersetzung‘ zur Sprache kommen, bei welcher der Erzähler vorgibt, den Brief der Tat`âna aus dem Französischen in die russische Sprache übertragen zu müssen. Darüber hinaus soll aber auch der konkrete sprachliche Ausdruck des Briefes in die Betrachtungen Eingang finden. Anschließend wird im dritten Punkt das Medium Brief diskutiert und eine Antwort auf die Frage versucht, weshalb Puškin das Medium Brief einer mündlichen Liebeserklärung vorzog. Die gewonnenen Erkenntnisse zusammenfassend wird am Ende schließlich die Relevanz der Briefe für das Sujet des Romans analysiert.
Aus der Fülle der bereits zu verschiedenen Aspekten des Evgenij Onegin vorliegenden Sekundärliteratur stützt sich diese Hausarbeit insbesondere auf die zum Standardwerk gewordene Arbeit Jurij Lotmans, welche besonders für die in Punkt III vorgenommene stilistische und subtextuelle Analyse von großer Bedeutung ist. Des weiteren auf die Kommentare Vladimir Nabokovs und Nikolaj Brodskijs, die allerdings, durch das Genre des Kommentars bedingt, keine umfassende Untersuchung der Briefe und bereits vorgestellter Problematik im Evgenij Onegin bieten können. Diese Lücke in der Sekundärliteratur, wenn nicht zu schließen, so doch zu verkleinern, ist die Autorin angetreten.
2 Der Brief als Medium
Um ein Verständnis für den Stellenwert der Briefe im besprochenen Werk zu entwickeln, ist es zunächst unerlässlich, einen kurzen Blick auf den Stellenwert des Briefes im Allgemeinen in Puškins Zeit (1820-1840) zu werfen. Bereits während der Periode des Sentimentalismus (1790-1820) entwickelten sich Briefe von der Epistel zu einem eigenen literarischen Genre.2 Karamzins Briefe eines russischen Reisenden, Radiščevs innerrussisches Pendant Reise von Petersburg nach Moskau und Die russischen Leiden des jungen Werthers sind die ersten Beispiele der Gattung des Briefromans.
Bis zu diesem Zeitpunkt finden sich weder bei Puškin noch bei einem anderen russischen Autor seiner Zeit in einen Roman integrierte Briefe. Puškin hat später in seinem Werk auf verschiedene Briefformen zurückgegriffen. In Dubrovskij (1833), Mar`â Šoning (1835) und der Hauptmannstochter (1836) werden ebenfalls Briefe in ihrer Gesamtheit im Text abgebildet, doch sind sie erst nach dem Brief Tat`ânas entstanden, der mit dem dritten Kapitel des Evgenij Onegin bereits im Oktober 1827 in Petersburg erschien. Man kann also mit Recht davon ausgehen, dass die im Evgenij Onegin enthaltenen Briefe die ersten ihrer Art waren. Im Unterschied zu den Briefen in Dubrovskij, Mar`â Šoning und der Hauptmannstochter berichten die Briefe Tat`ânas und Onegins nicht über eine Handlung oder tragen epistularen Charakter, sondern gewähren Einblick in das Gefühlsleben ihrer Absender. E. Dmitrieva spricht an dieser Stelle von sogenannten psychologischen Briefen, die ihre Vorbilder in der französischen Literatur, etwa bei B. Konstanes haben.3 Puškin, der nach eigenem Bekenntnis nicht gern Briefe schrieb, muss, wohl durch die Lektüre französischer Romane, auf die Wirkung solcher, in den Verlauf eines Romans integrierten Briefe aufmerksam geworden sein: Das Einfügen von vorgeblich ‚zitierten‘ Briefen erzielte vor allem die Illusion von Authentizität.4 Nicht umsonst berichtet der Erzähler des Evgenij Onegin vor beiden Briefen, dass ihm die Liebesbriefe direkt vorliegen:
Письмо Татьяны предо мною; Его я свято берегу […] (3, XXXI)5 | Tatjanas Brief liegt vor mir; ich bewahre ihn wie etwas Heiliges auf […] |
und
Вот вам письмо его точь-в-точь (8, XXXII) | Hier ist sein Brief, Wort für Wort |
Die Auseinandersetzung mit dem Medium Brief während seiner Arbeit am Evgenij Onegin muss Puškin solchermaßen beschäftigt haben, dass er wenig später einen unvollendet gebliebenen Roman mit dem Titel Roman v pis’mach (Roman in Briefen) begann.6 Die Nähe zu Evgenij Onegin, der den Untertitel Roman v stichach (Roman in Versen) trägt, ist an dieser Stelle evident.
3 Zur Versspezifik der Briefe
Die Absicht Puškins, den Liebesbrief eines jungen Mädchens in seinem Versroman wiederzugeben, stellte den Autor vor eine nicht geringe Anzahl von sowohl sprachlichen als auch form- bzw. gattungstechnischen Problemen. Zunächst galt es, bei der Wahl der Gestaltungsform die Glaubwürdigkeit eines solchen Briefes zu beachten. Ein Mädchen von liebenswürdiger Einfachheit („милой простоте“; 8, XXIV), das ohne Künstlichkeit liebt, („любит без искусства“; 8, XXIV) würde ihren Brief vermutlich nicht in der strengen Form der Oneginstrophe niederschreiben. Von den Möglichkeiten der Realisierung, mit denen Puškin sich trug, legt eine Äußerung P. Vâzemskijs Zeugnis ab:
Автор сказывал, что он долго не мог решиться, как заставить Татьяну без нарушения женской личности и правдоподобия в слоге: от страха сбиться на академическую оду думал он написать письмо прозой […].7
Der Autor erzählte, dass er sich lange nicht entscheiden konnte, wie er Tatjana schreiben lassen sollte, ohne in ihren weiblichen Charakter und die Glaubwürdigkeit des Stils einzugreifen: aus Angst in eine akademische Ode zu verfallen, dachte er daran den Brief in Prosa zu schreiben […]. (T.H.)
Der hier erwähnte Verweis auf die Ode lässt auf die Wahl des Metrums schließen, auf das sich Puškin noch vor der Wahl der endgültigen Form des Briefes demnach bereits festgelegt haben musste. Der vierhebige Jambus war nicht nur das geläufigste Metrum der Oden des 18. Jahrhunderts, sondern auch das Versmaß, das sich in den 20-er Jahren des 19. Jahrhunderts besonderer Beliebtheit erfreute und dem die Vorliebe des Dichters gehörte (55% seines Werkes sind in vierfüßigen Jamben verfasst).8 Die Entscheidung gegen eine prosaische Form des Briefes mag wohl durch den herben Bruch, den diese in der Gesamtkonzeption des Romans hineingetragen hätte, begründet sein.
Die von Puškin schließlich realisierte Lösung, die Wiedergabe des Briefes durch den Erzähler des Versromans selbst, bot auf der einen Seite die Möglichkeit, die Versform des Romans beizubehalten, ließ dem Autor auf der anderen Seite aber auch genügend Raum, um den Brief Tat`ânas von dem grundlegenden Strophen-und Reimschema des Romans abzuheben. Dazu wird nicht nur die Strophenzählung des Romans ausgesetzt, der Brief ist also nicht in den Strophenverlauf integriert, sondern auch die Form der Oneginstrophe als solche aufgebrochen: Dem vierhebigen Jambus folgend, besitzt der Brief Tat`ânas kein festes Reimoder Strophenschema. Festzuhalten bleibt allerdings die auffällige Vierteilung in der Kompositionsordnung, die der Brief augenscheinlich von der vorherrschenden Oneginstrophe übernommen hat. Auch bleibt die Zuordnung von Strophenthema zu Strophenabschnitt bestehen9: Legten jeweils die ersten vier Verse der Oneginstrophe das Thema der Strophe fest, so wird auch in Tat`ânas Brief das Thema oder der Grund des Schreibens genannt: „Когда б надежду я имела […]“ („hätte ich die Hoffnung gehabt“). Der zweite Teil der Strophe bzw. des Briefes ist der Entwicklung des Themas gewidmet, indem das Szenario eines Lebens ohne Onegin entworfen wird. Den dritten, mit 45 Versen längsten Abschnitt des Briefes, kann man zu Recht als Kulmination bezeichnen. In ihm öffnet sich die Briefschreiberin ihrem Adressaten und legt ihr Schicksal in seine Hände. Die letzten vier Verse des Briefes tragen allerdings nicht wie die letzten Verse der Oneginstrophe aphoristischen Charakter, sondern dienen der Exposition.
Mit Absicht wurde bis jetzt nur auf den Brief Tat`ânas eingegangen, da er den Autor vor weit mehr technisch-sprachliche Probleme stellte als der Brief Onegins. Zum einen wurde von Puškin mit der Wiedergabe des ersten Briefes ein Präzedenzfall geschaffen, nach dessen Muster beliebig viele weitere Briefe wiedergegeben werden könnten, zum anderen muss es dem Leser nicht als abwegig erscheinen, wenn Onegin einen Brief an Tat`âna in Versform verfasste. Um die Glaubwürdigkeit von Tat`ânas Brief zu garantieren, musste sich der Dichter noch einer komplexen Einleitung zum Brief bedienen. Den Brief Onegins aber kann er „точь-в-точь“ („Wort für Wort“) (8, XXXII) und ohne Verlust an Glaubhaftigkeit wiedergeben, da der Leser auf Aussagen zu Onegins poetischen Versuchen zurückgreifen kann:
[…] за перо взялся, Хотел писать – но труд упорный Ему был тошен […] (1,XLIII) | […] griff gähnend zur Feder, wollte schreiben – doch ausdauernde Arbeit war ihm ein Greuel […] |
Nichtsdestotrotz hat Puškin den Brief Onegins ebenfalls als Pendant zu ersterem Brief in vierhebigen Jamben verfasst, deren Reimstruktur ebenfalls keiner festen Vorgabe folgt. Anders als der um 19 Verse längere Brief Tat`ânas besteht der Brief Onegins aus sechs Strophen mit unterschiedlicher Länge, denen sich folgende Funktionen zuordnen lassen: erste Strophe – Thema des Briefes ( „[…] с какою целью открою душу вам свою?“ („Mit welcher Absicht öffne ich Ihnen meine Seele?“)), zweite Strophe – Entwicklung, dritte, vierte und fünfte Strophe – Kulmination, sechste Strophe – Exposition.
Die Briefe gleichen sich demnach im Aufbau. Betrachtet man jedoch das Verhältnis der verschiedenen Teile untereinander, so fällt auf, dass Onegin in seinem Brief, der 19 Verse kürzer ist, andere Akzente setzt: Seine Benennung des Briefthemas fällt kürzer aus (8:21). Andererseits verwendet er etwas mehr Verse auf die rhetorische Entwicklung des Briefes, in der sein konkretes Begehr vorgetragen wird (14:9). Die Kulmination des Briefes ist hingegen lediglich halb so lang wie bei Tat`ânas Brief (23:44). In der Exposition schließlich bleiben sie sich gleich. (4:4). Dieser Einteilung nach lassen sich auch die beiden Briefe deuten: Während Tat`âna der Erklärung ihrer Gefühle in der Kulmination deutlicher Ausdruck verleiht, sitzt der Akzent bei Onegin an anderer Stelle. Seine Illustration dient der Beschreibung seiner Wünsche, die, zu Ungunsten der Gefühlserklärung, in der Kulmination erneut aufgenommen werden.
4 Die Sprache der Briefe
Die Sprache der Briefe, besonders aber des Briefes der Tat`âna, stellt innerhalb des Romans eine Besonderheit dar, die sich aus der geforderten Authentizität der Briefe ergibt. Es sei an dieser Stelle zunächst wieder ein Blick auf die oben bereits zitierte Äußerung P. Vâzemskijs geworfen, die auch hinsichtlich der Sprachwahl in Tat`ânas Brief Auskunft gibt:
[Пушкин] думал даже написать его [письмо] по-французски, но наконец, счастливое вдохновение пришло кстати, и сердце женское запросто и свободно заговорило русским языком.10
Puschkin dachte sogar daran ihn [den Brief ] auf Französisch zu schreiben, aber letztendlich hatte er eine glückliche Eingebung, und das Frauenherz begann ungezwungen und frei in der russischen Sprache zu sprechen. (T.H.)
Der Plan Puškins, den Brief zunächst auf Französisch zu verfassen, macht einmal mehr auf das komplexe Verhältnis zwischen russischer und französischer Sprache in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts aufmerksam, in dem die französische Sprache dem Adel, die russische aber der restlichen Bevölkerung zugeteilt war. Ein Beispiel für die Spracherziehung innerhalb der Adelsgesellschaft gibt hier, auf die Spracherziehung Puškins Bezug nehmend, G. Vinokur, wenn er schreibt:
Подобно большинству дворянских детей конца начала века, Пушкин дома получил то полуфранцузское, полурусское воспитание, которое так едко было высмеяно вскоре Грибоедовым в «Горе от ума» и которое отличалось тем, что всему французскому ребенка учили с помощью гувернеров и гувернанток, а русскому ребенок в лучшем случае учился сам, как мог, чаще всего от мамушек и нянюшек, из общения с дворней и природой.11
Ähnlich wie die meisten der adeligen Kinder Ende des Jahrhunderts erhielt Puschkin eine halb französische, halb russische Erziehung, die bald darauf so beißend von Griboedov in ,Verstand schafft Leiden‘ verspottet wurde, und deren Eigenart vor allem darin bestand, dass alles Französische dem Kind durch Hauslehrer und Gouvernanten beibrachte wurde, während sich das Kind das Russische im besten Falle selbst beibrachte, wie es eben konnte, es aber häufiger von Ammen und Mägden, aus den Gesprächen mit dem Gesinde und der Natur aufnahm. (T.H.)
Französisch bildete die vorherrschende Sprache im Umgang der Adeligen in der höheren Gesellschaft. In der mit vier Strophen recht langen Hinführung zu dem Brief Tat`ânas im Evgenij Onegin greift der Erzähler selbst diese Problematik auf. Dass ihr Brief auf Französisch verfasst ist und offenbar vom Erzähler ins Russische übertragen wurde, wird deutlich:
Она по-русски плохо знала, Журналов наших не читала, И выражалася трудом На языке своем родном […] (3, XXVI) | Sie konnte nämlich schlecht Russisch, las unsere Zeitschriften nicht und drückte sich nur mit Mühe in unserer Muttersprache aus. |
oder:
[…] Доныне гордый наш язык К почтовой прозе не привык. (3, XXVI) | […]bis heute hat sich unsere stolze Sprache An den Briefstil noch nicht gewöhnt. |
An gleicher Stelle berichtet er aber auch von den Bemühungen kultureller Kreise Russlands die russische Sprache von der französischen zu emanzipieren, die allerdings weitestgehend erfolglos blieben und von Puškin an dieser Stelle auch nicht positiv bewertet werden:
Я знаю: дам хотят заставить Читать по-русски. Право, страх! (3,XXVII) | Ich weiß, man will die Dame dazu zwingen, Russisch zu lesen. Was für ein schrecklicher Gedanke! |
Puškin selbst verfasste seine Briefe in französischer und in russischer Sprache, wobei der Korrespondenz mit Damen stets die französische Sprache vorbehalten war – auch wenn es sich um Liebesbriefe handelte.12 Im Bereich der Gefühle war es üblich, sich in französischer Sprache auszudrücken und dieser einen literarischen Stil zu verleihen.13 Tat`âna handelt somit im sprachlichen Rahmen ihrer Zeit, und es nimmt dagegen Wunder, dass Puškin diesen Fakt besonders herausstellt. Eine Antwort darauf ist vielleicht in den gestalterischen Möglichkeiten jener Übertragung zu suchen: Die Vorgabe des Erzählers, der Brief sei in französischer Sprache verfasst, bot dem Autor die Möglichkeit oder die Notwenigkeit, den Brief in seiner Sprache und obendrein noch in Versform wiederzugeben.
Ähnlich wie in seinen eigenen Liebesbriefen an S. F. Puškina, N. I. Gončarova und seine spätere Ehefrau N.N. Gončarova ist der Brief Tat`ânas mit Motiven aus französischen Romanen des 18. Jahrhunderts besetzt. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine reine Übersetzung aus einem französischen Original, sondern diese bewussten Ähnlichkeiten von Tat`ânas Brief zu französischen Texten sind vom Autor bereits in der zehnten Strophe des dritten Kapitels angelegt:
Воображаясь героиней Своих возлюбленных творцов, Кларисой, Юлией, Дельфиной, Татьяна в тишине лесов Одна с опасной книгой бродит, Она в ней ищет и находит Свой тайный жар, свои мечты, Плоды сердечной полноты, Вздыхает и, себе присвоя Чужой восторг, чужую грусть, В забвенье шепчет наизустьПисьмо для милого героя (3, X) | In der Einbildung die Heldin aller ihrer Lieblingsautoren – Clarissa, Julie, Delphine – schweift Tatjana allein mit einem gefährlichen Buch durch die Stille der Wälder. In ihm sucht und findet sie ihre verborgene Glut, ihre Träume, die Früchte ihres übervollen Herzens; sie seufzt und, sich fremde Extase fremdes Leid aneignend, flüstert sie in Selbstvergessenheit einen Brief an den geliebten Helden auswendig vor sich hin… |
Tat`âna, die sich fremde Begeisterung und fremde Traurigkeit aneignete, kann gar nicht anders als sich in der Sprache einer Clarissa, Julia oder Delphina auszudrücken – sowohl in der Wahl der Sprache als auch der sprachlichen Ausdrücke.
Die sprachlichen Ausdrücke, die der Autor Tat`âna finden lässt, sind zum großen Teil den Elegien der französischen Dichterin Marcelina Desbordes-Valmore entnommen, deren Sammelband mit Gedichten 1819 in Russland erschien und rasch Popularität erlangte.14 Puškin erwählte bewusst die Elegien Desbordes-Valmores, da es sich bei ihnen um Gedichte geschrieben aus weiblicher Perspektive, handelt. Ein anderer Grund mag, wie Lotman ebenfalls vermerkt, in der Allgemeingültigkeit ihrer Gedichte liegen, die jeglicher individueller Aussage entbehren. Bei Lotman sind auch weitere Reminiszenzen an die französische Literatur, unter anderem an Die neue Heloise Jean-Jacques Rousseaus und Jean-François Marmontels Schulen der Freundschaft aufgezeigt. Von ihnen kommt den Schulen der Freundschaft noch einmal besondere Bedeutung zu, da nach ihrem Vorbild sich im Brief der Romanheldin der Wechsel in der Anredeform des Geliebten von „вы“ („Sie“) nach „ты“ („Du“) vollzieht.15 Der Ursprung aller in Tat`ânas Brief verwandten Ausdrücke ist bereits hinreichend erörtert worden16 und soll an dieser Stelle nicht ein weiteres Mal aufgeführt werden.
Hinsichtlich des sprachlichen Ausdrucks in Tat`ânas Brief lassen sich also nicht nur drei (wie Brodskij vorschlägt),17 sondern sogar vier Kategorien ausmachen, denen sich fast jeder einzelne Ausdruck innerhalb des Briefes zuordnen lässt. Der Kategorie der Redefiguren mit französischem Subtext sind folgende Stellen zugehörig: „но вы […]/ Хоть каплю жалости храня,/ Вы не оставите меня“ („Aber wenn Sie […]/ auch nur einen Tropfen des Mitleids bewahrt haben/ so werden Sie mich nicht verlassen“); „Души неопытной волненья“ (Den Aufruhr eines unerfahrenen Herzens“); „Обман неопытной души“ (Wahn eines unerfahrenen Herzens“; „Другой!“ („Ein anderer!“) bis „Вся жизнь моя была залогом“ („mein ganzes Leben war ein Pfand“); „[…] вот он! („Er ist’s!“) und „Но мне порукой ваша честь“ („Aber Ihre Ehre ist meine Sicherheit“).18
Eine zweite Gruppe bilden jene Ausdrücke, die zwar aus semantischen Komplexen der französischen Dichtung hervorgegangen sind, aber bereits Eingang in das Arsenal der russischen Literatursprache gefunden haben. Zu ihnen gehören: „[…] никому на свете/ не отдала бы сердца я“ („[…] niemandem auf der Welt/ würde ich mein Herz hingeben“) und „[…]слова надежды мне шепнул?“ („[…] Worte der Hoffnung mir zuflüsterte?“).19 Die beiden letzten Gruppen bilden die der gesprochenen Sprache und die hohem literarischen Stil entstammenden Ausdrücke. Der Umgangssprache oder gesprochenen Sprache lassen sich die Wendungen „а мы… ничем мы не блестим“ („während wir … durch nichts zeichnen wir uns aus“), die rhetorische Frage „как знать?“ („wer weiß“) und der Einwurf „это все пустое“ („alles Unsinn“) zuordnen, aber auch „чего же боле?“ („muss ich’s begründen?“); „Свиданья верного с тобой“ („[…] des sicheren Wiedersehens mit dir“),„До гроба ты хранитель мой…“ („bis zum Grab bist du mein Beschützer …“), „Вся обомлела, запылала“ („ich erstarrte, ich fühlte ein Feuer in meinem Innern“) und „с отрадой и любовью“ („mit Freude und Liebe“ – T.H.) gehören dieser Gruppe an und sind an dieser Stelle zu ergänzen. Auf die Literatursprache entfallen Ausdrücke wie „то в вышнем суждено совете“ („Das ist im höchsten Rat beschlossen“), „незримый, ты мне был уж мил,“ („Unsichtbarer, du warst mir schon lieb,“ – T.H.) und „рассудок мой изнемогает“ („mein Verstand verlässt mich“).
Wie sich anhand vorangegangener Klassifikation des Sprachduktus feststellen lässt, entfallen die markantesten Phrasen auf die Kategorien eins und drei. Die Kategorie zwei nimmt in der Wahrnehmung des Lesers keine besondere Rolle ein, da der erstmals französische Ursprung dieser Wortfiguren für ihn nicht mehr erkennbar ist. Er nimmt sie als russisch war. Ebenso verhält es sich mit der vierten Kategorie, der Literatursprache. Sie ist im Brief ebenfalls nicht gesondert hervorgehoben. Der Leser erwartet sogar, dass der Brief in literatursprachlichen Ausdrücken gehalten ist. Anders verhält es sich mit der gesprochenen, einfachen Sprache, mit der der Brief durchsetzt ist. Sie erwartet der Leser nicht in einem Liebesbrief. Mit ihr werden gängige Stereotype des Liebesbriefs aufgebrochen, weshalb er besonders in Erinnerung bleibt. Ähnliches trifft für die markierten Zitate innerhalb des Briefes zu. Puškin lehnte den Brief Tat`ânas nicht nur an die bildliche Sprache französische Romanvorlagen an, sondern markierte für den Leser bewusst die verwandten Zitate, da er davon ausgehen konnte, dass sie unter der Leserschaft allgemein bekannt waren. Es bleibt an dieser Stelle hervorzuheben, dass die von dem Leser jener Zeit am deutlichsten wahrgenommenen Sprachkategorisierungen der Zitate und der gesprochenen Sprache einander diametral gegenüberstehen. Sie brechen nicht nur den gewohnten Sprachduktus auf, sondern heben durch ihren konträren Charakter die sprachlichen Gegensätze des Briefes klar hervor.
Der Brief Onegins zehrt von anderen sprachlichen Besonderheiten. In welcher Sprache er verfasst wurde oder ob der Erzähler auch ihn übersetzt hat, wird dem Leser an keiner Stelle mitgeteilt. Lediglich die Bemerkung des Erzählers „Вот вам письмо его точь-в-точь.“ („Hier ist sein Brief, Wort für Wort.“) (8, XXXII) ließe auf einen Brief in russischer Sprache schließen. Denkbar wäre allerdings auch ein nach den gängigen Normen auf Französisch verfasster Brief, dessen Übersetzung der Erzähler nicht mehr erwähnt.
Den Subtext zu Onegins Brief bilden in jedem Falle nicht Werke aus der französischen Literatur. Die Redefiguren dieses Briefes scheinen mit denen des ersten Briefes zu korrespondieren. Die wohl offensichtlichste Referenz an Tat`ânas Brief, der noch fest in der Erinnerung des Lesers verankert ist, findet sich bereits in dem Ausdruck „презренье“ („Verachtung“). In Tat`ânas Brief heißt es:
Теперь, я знаю, в вашей воле Меня презреньем наказать. | Es steht jetzt in Ihrem Belieben, ich weiß, mich mit Verachtung zu strafen. |
Onegin nimmt in seinem Brief презренье wörtlich wieder auf:
Какое горькое презренье Ваш гордый взгляд изобразит! | Welch bittere Verachtung drückt Ihr stolzer Blick aus! |
Weitere Stellen, an denen die Reminiszenzen an Tat`ânas Brief offenbar werden, sind nach Brodskij:
Когда б надежду я имела Хоть редко, хоть в неделю раз В деревне нашей видеть вас, Чтоб только слышать ваши речи, Вам слово молвить, и потом И день и ночь до новой встречи Все думать, думать об одном. | […] hätte ich die Hoffnung gehabt, Sie, wenn auch selten, wenn auch nur einmal in der Woche in unserem Haus zu sehen. Nur, um Sie reden zu hören, um ein Wort an Sie richten zu können, und dann nachzudenken, immer nachzudenken über das eine, Tag und Nacht, bis zu einem neuen Wiedersehen |
zu:
Нет, поминутно видеть вас, Повсюду следовать за вами, Улыбку уст, движенье глаз Ловить влюбленными глазами, Внимать вам долго, понимать Душой всё ваше совершенство, Пред вами в муках замирать, Бледнеть и гаснуть… вот блаженство! | Nein – Sie jeden Augenblick zu sehen; Ihnen überall hin zu folgen; Das Lächeln Ihrer Lippen, die Bewegung Ihrer Augen mit verliebten Blicken zu erhaschen; Ihnen lange zuzuhöhren mit der Seele Ihre ganze Vollkommenheit zu erfassen vor Ihnen in Qualen zu ersterben, hinzuwelken und zu verlöschen … das ist Seligkeit! |
oder:
Я никогда не знала б вас, Не знала б горького мученья. Души неопытной волненья Смирив со временем (как знать?), | […] hätte ich Sie und diese Qual niemals gekannt. Den Aufruhr eines unerfahrenen Herzens hätte ich – wer weiß? – mit der Zeit beschwichtigt, […] |
zu:
Когда б вы знали, как ужасно Томиться жаждою любви, Пылать – и разумом всечасно Смирять волнение в крови; […] | Wenn Sie wüssten, wie furchtbar es ist, sich in Liebessehnsucht zu verzehren, zu brennen – und mit dem Verstand den Aufruhr des Blutes ständig beruhigen zu müssen; […] |
Besonders deutlich auch am Ende des Briefes bei Tat`âna:
То в вышнем суждено совете… То воля неба: я твоя… […] Но так и быть! Судьбу мою Отныне я тебе вручаю, […] | Das ist im höchsten Rat beschlossen das ist der Wille des Himmels: Ich bin Dein! […] Sei´s wie es sei! Mein Schicksal lege ich hiermit in Deine Hände, […] |
und bei Onegin:
Но так и быть: я сам себе Противиться не в силах боле; Всё решено: я в вашей воле, И предаюсь моей судьбе. | Aber komme, was kommen mag:20 ich kann nicht länger gegen mich selbst ankämpfen. Alles ist entschieden: Ich bin in Ihrere Gewalt, und überlasse mich meinem Schicksal. |
Wie diese Beispiele zeigen, lehnt sich der Brief Onegins an Tat`ânas Brief an, ja übernimmt bestimmte Phrasen sogar wörtlich, wenn auch mit leichter Umstellung. So lässt sich als Subtext des oneginschen Briefes der Brief Tat`ânas ausmachen.
Die andere starke Komponente, die die Sprache des zweiten Briefes bestimmt, sind die oben bereits angeführten Ausdrücke, die zwar aus semantischen Komplexen der französischen Dichtung hervorgegangen sind, aber bereits Eingang in das Arsenal der russischen Literatursprache gefunden haben. Die Wendungen „бледнеть и гаснуть“ („hinzuwelken und zu verlöschen“); „обнять […] колени“ („Ihre Knie zu umarmen“) und „у ваших ног излить мольбы“ („zu Ihren Füßen inständigen Bitten […] freien Lauf zu lassen“) erkennt Lotman als Ausschmückungen einer grellen Literatursprache, oder gar als gängiges Klischee eines französischen Sprachrituals. Sie bestimmen den Sprachduktus des Briefes auf massive Weise,21 da der ganze Brief mit ihnen durchsetzt ist. Die einzige Ausnahme bilden zwei Wendungen aus dem Bereich der gesprochenen Sprache: „дать ходу“ („nachgeben“) und „Тащусь повсюду наудачу“ („ich schleppe mich auf gut Glück überall hin“). Im Vergleich mit Tat`ânas Brief wird also weit weniger gesprochene Rede verwendet (2:8), was dem Brief einen durchdachten Charakter verleiht.22
Nach vorangegangener Analyse der Briefe lässt sich Folgendes für das sprachliche Bild ermitteln: Tat`ânas Brief weist eine komplexere sprachliche Zusammensetzung auf: Ins Russische übertragene Zitate aus der französischen Literatur, russifizierte Gallizismen, Umgangssprache und russische Literatursprache bilden eine sprachliche Gesamtheit. Der Brief Onegins hingegen ist durch weit weniger umgangssprachliche Ausdrücke gekennzeichnet. Er speist sich zum größten Teil aus Formulierungen der russischen Literatursprache, sowie aus den aus dem Französischen übernommenen sprachlichen Bildern des romantischen Klischees. Ausgehend von diesem Sachverhalt lässt sich auch die unterschiedliche Wirkung der Briefe auf den Leser erklären. Der Brief Onegins erweckt den Eindruck weit geringerer Literarizität,23 was vor allem von der starken Verwendung bereits fester literarischer Ausdrücke herrührt. Der Brief Tat`ânas, als Beweis für dessen Popularität genügt ein Blick auf den Lehrplan einer russischen Schule, bricht mit den starren Ausdrücken einer Literatursprache. An dessen Stelle setzt er offensichtliche Zitate der französischen Literatur und bietet dem Leser darüber hinaus ein Konglomerat verschiedener Sprachebenen, das gerade durch seinen Wechsel in der Anredeform und seine Durchsetzung mit Wendungen aus der Umgangssprache den Eindruck von Authentizität beim Leser erzeugt.
Lotman spricht an dieser Stelle sogar von der Prosaizität des oneginschen Briefes, dessen sprachliche Wendungen lediglich die Sphäre des Ausdrucks organisieren („формируют сферу выражения“). Ihm entgegen steht der Brief der Tat`âna, dessen sprachlicher Ausdruck, wie in der Poesie auch, den Aufbau des Schreibens bestimmt („формируют самый склад“). Sein Ausdruck ist gleichzeitig auch sein Inhalt („выражение есть одновременно и содержание“).24
5 Die Bedeutung der Briefe für das Sujet des Romans
Den ersten Hinweis auf die immense Bedeutung der Briefe für die Struktur und das Sujet des Romans lieferte Puškin selbst: Erst nach Abschluss des ganzen Romans fügte er aus strukturellen Gründen den Brief Onegins an Tat`âna ein. Der Roman, wie er fertig im Jahr 1830 vorlag, kennt den Brief Onegins nicht. Er wurde, wie aus seiner Datierung hervorgeht, am 5. Oktober 1831 verfasst. Interessant ist an dieser Stelle daher, was den Autor dazu veranlasst haben mag, den Brief Onegins im Nachhinein einzufügen.
Doch zunächst ist es wichtig, noch einen Schritt zurückzugehen. Wie im Kapitel zur Sprache der Briefe bereits deutlich wurde, speist sich Tat`ânas Liebesbrief in sprachlicher Hinsicht vor allem aus den Gegensätzen von literarischen Zitaten und gesprochener Sprache. Die Verwendung der Zitate weist, wie es mehrfach bereits angeklungen ist, auf die Charakterisierung Tat`ânas durch Literatur hin. Tat`âna, wie auch Onegin, werden im Roman mehrfach durch die Helden der von ihnen bevorzugten Bücher darstellt. Onegin wird mit Child-Harold verglichen (beispielsweise in 1, XXXVIII; 4, XXXVI und 4, XXXVII). Tat`âna, wie Jurij Tynânov erklärt, identifiziert sich geradezu mit einer ganzen Galerie an Heldinnen: Clarissa, Julia und Delphine.25 Und sie schreibt auch in der Sprache ihrer Heldinnen, die Zitate verwendend, welche sie sich bereits zuvor bereitgelegt hat.26 Der Brief Tat`ânas illustriert durch den Gebrauch der Zitate ihren romantischen Charakter, ihr Aufgehen in der Literatur, das Realität und Literatur verwischt. Auch die lange Einleitung des Erzählers bestätigt dies. Der Erzähler betont, dass Tat`âna ihren Brief auf Französisch schrieb, weil sie, die nur Französisch liest, die Sprache und die Gefühle der Romane zu ihren eigenen gemacht hat.
Die andere Seite ihres Wesens, ihre Verbundenheit mit ihrem Land und seinen Bräuchen und ihr einfacher Charakter, wird durch die immer wieder hervorbrechende gesprochene Sprache illustriert. Einer Sprache, die sie bei ihrer Amme kennengelernt hat und deren Ausdruck im Brief an das ländliche Russland erinnert und nicht den literarischen oder hochsprachlichen Duktus aufweist.
Onegins Brief hingegen dient nicht der erneuten Charakterisierung des Helden. Im achten Kapitel des Romans ist er dem Leser bereits hinreichende bekannt. Sein Brief wurde vielmehr nachträglich eingefügt, um der Veränderung der Romankonzeption zu genügen, die sich nach der Kaukasusreise vollzogen haben muss:
Onegin sollte nun nicht mehr in die politische Verschwörung hineingezogen werden, aber auch nicht als russischer Ahasver enden, wie es das Reisekapitel nahe gelegt hätte; vielmehr war es ihm bestimmt, ein gelangweiltes Glied der russischen Gesellschaft zu werden.27
Puškin fügte den Brief Onegins ein, um der Symmetrie der Handlung gerecht zu werden. Denn die Entwicklungen des Liebespaares laufen vollkommen synchron ab: Tat`âna sieht Onegin, verliebt sich in ihn, schriebt ihm einen Brief und wird abgewiesen. Im letzten Kapitel des Romans sieht Onegin Tat`âna, verliebt sich in sie, schreibt ihr einen Brief und wird abgewiesen. Puškin rückt so mit der Einführung des zweiten Briefes das unglückliche Liebespaar Tat`âna-Onegin in das Zentrum des Romans. Mit der Einfügung des zweiten Briefes und der Herstellung einer vollkommenen Symmetrie der Handlung wird auch der Fokus des Geschehens verändert. Im Mittelpunkt des Romans steht nun nicht mehr der Held Evgenij Onegin in seiner Entwicklung der Persönlichkeit, sondern das Liebespaar Tat`âna-Onegin, was die Bedeutung der Figur der Tat`âna für das Sujet des Roman noch steigert.
6 Schlussbemerkungen
Am Ende dieser Arbeit lassen sich alle Ergebnisse meiner Untersuchungen wie folgt zusammenfassen. Der Brief der Tat`âna im dritten Kapitel markiert eine Sonderstellung innerhalb des Romans. Ebenfalls in vierhebigen Jamben geschrieben, weicht er von der Oneginstrophe nur im Bereich der Strophik und des Reimschemas ab, was ihn zwar vom restlichen Textkorpus absetzt, aber nicht ausgrenzt. In lexikalischstilistischer Hinsicht ist er komplexer aufgebaut als der zweite Brief im Roman. Im Gegensatz zu diesem ist der Brief Tat`ânas von einer kontrastiven Verwendung von gesprochener Sprache und Zitaten der französischen Literatur bestimmt, was für zusätzliche Dynamik sorgt. Diese Stilvielfalt bricht den gängigen Duktus der Literatursprache auf und illustriert gleichzeitig Tat`ânas Charakter, der zwischen romantischer Verklärung (Romanzitate) und Einfachheit (gesprochener Rede) steht. Es ist Tat`ânas Brief, der die Handlung des Romans vorantreibt: Er ist nach der Einführung aller Personen der Auslöser, durch den die Handlungskette im Roman beginnt.
Der Brief Onegins ist in seiner Stilistik weit gleichmäßiger ausgeprägt. Sein Sprachduktus entspricht einer mit Ausschmückungen des französischen Sprachrituals durchsetzten Literatursprache. Einzelne Ausdrücke des Briefes nehmen hierbei Wortfiguren des vorangegangenen Briefes wörtlich auf oder variieren sie. Auch in seinem rhetorischen Aufbau ist der Brief Onegins an Tat`ânas Brief ausgerichtet. Den inhaltlichen Akzent setzen beide Absender jedoch an anderer Stelle. Tat`âna widmet der Darlegung ihrer Gefühle mehr Raum. Die stilistischen Dissonanzen in ihrem Brief, ihre stilistische Unkontrolliertheit zeugen von großer Emotionalität. Die stilistische Ausgewogenheit in Onegins Sprache bildet dazu einen herben Gegensatz. Die erstarrte Sprache seines Briefes, in der er sich nur steifer literatursprach licher Ausdrücke bedient, zeugt von innerer Stilisierung. Onegin hat sich, wie sein Brief zeigt, nicht zu einem ehrlich Liebenden gewandelt, sondern bewahrt sogar in der Liebe sein Dandytum.
Die sprachliche wie inhaltliche Anlehnung der Briefe aneinander ist maßgeblich durch die Handlungsstruktur im Roman bestimmt. Onegin durchläuft im achten Kapitel die gleichen Situationen wie Tat`âna im dritten und vierten Kapitel. Vom Anblick des anderen fasziniert, verlieben sie sich, schreiben jeder einen Brief und werden abgewiesen. Der nachträgliche Einschub des zweiten Briefes durch Puškin ermöglicht diese Kongruenz der Handlungsabläufe. Bildet der erste Brief den Auslöser aller Romanhandlung, schließt die Einfügung des zweiten Briefes die Romanhandlung ab. Erst durch den zweiten Brief und seine unmittelbare Bezugnahme auf Tat`ânas Brief entsteht eine in sich abgeschlossene Symmetrie der Handlung. Der Fokus des Romans ist durch den Parallelismus der Briefe nicht mehr auf die Person eines Dandys gerichtet. Nicht die Entwicklung Onegins bildet das Thema des Romans, sondern durch die sujetkonstituierende Funktion der Briefe wird deutlich, dass die Liebe zwischen Tat`âna und Onegin nicht nur eine Episode, sondern das Hauptthema des Romans bildet.
Universität Potsdam, Wintersemester 2006/07
1 „Wo konnte er [Puškin. – T.H.] diesen leidenschaftlichen Ausdruck finden, der das Schmachten der ersten Liebe ausdrückte? Wie erfasste er die Einfachheit eines unschuldigen Mädchenherzens […] im Brief an Onegin!“ In: Severnaâ pčela. Nr. 24. Sankt-Peterburg: 1827 (zitiert nach Nikolaj L. Brodskij: ‚Evgenij Onegin‘. Roman Puškina. Kommentarij. Moskva: Mul’tiratura 2005. S. 149 (Übersetzung T.H.)).
2 Vgl. E. E Dmitrieva: „Pis’mo.“ In: Oneginskaâ enciklopediâ. Bd. 1. Hrsg. von N. Michajlova. Moskva: Russkij Put’ 1999. S. 292-295. Hier S. 293.
3 Vgl. ebd.
4 ereits Karamzins Briefe eines russischen Reisenden wurden durch das verwandte Verfahren von seinen Zeitgenossen als ein authentisches Zeugnis ihres Autors aufgenommen. Vgl. Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur. München: Beck 2000. S. 122.
5 Im Folgenden markiert die arabische Ziffer die Stelle des Zitats im Kapitel, die römische Zahl die Strophe, in der sich das Zitat befindet. Die deutsche Übersetzung stammt, wenn nicht anders angegeben von Kay Borowsky. Alexander Puschkin: Eugen Onegin. Ein Roman in Versen. Stuttgart: Reclam 1972.
6 P. Annenkov, der in seinen Materialy dlâ biografii A.S. Puškina eine kurze Wiedergabe des Fragmentes gibt, datiert ihn auf etwa 1829. Vgl. P. B Annenkov: Metrialy dlâ biografii A.S. Puškina. Moskva. 1984. S.418.
7 Nikolaj L. Brodskij: ‚Evgenij Onegin‘. Roman Puškina. Kommentarij. S. 145.
8 Vgl. zum Jambus: M. L. Gasparov: Očerk istorii russkogo sticha. Moskva: Nauka 1984. S. 107.
9 Vgl. zur Komposition der Oneginstrophe M. L. Gasparov: „Oneginskaâ strofa.“ In: Stilistika i poetika. Tezisy naučhoj konferencii. Svenigorod: 1989. S. 30-33.
10 Nikolaj L. Brodskij: ‚Evgenij Onegin‘. Roman Puškina. Kommentarij. S. 145.
11 Grigorij Vinokur: Polnoe sobranie trudov. Stat`i o Puškine. Moskva: Labirint 1999. S. 187.
12 Vgl. E. E Dmitrieva: „Pis’mo.“ S. 293.
13 Das beste Beispiel für die Literarizität französischer Briefe bietet Puškin selbst, dessen Briefe an K. A. Sobanckij lange Zeit für die Skizze zu einem Roman gehalten wurde. Vgl. ebd.
14 Vgl. Jurij Lotman: Puškin. Sankt-Peterburg: Iskosstvo 1995. S. 625.
15 Ebd.
16 Unter anderem in dem sorgfältigen Kommentar Nabokovs, der sich an dieser Stelle in besonderer Form den Einflüssen und Subtexten aus dem Französischen widmet, aber auch gleichzeitig die Übertragung des russischen Originaltextes durch französische Übersetzer analysiert. Vgl. Vladimir Nabokov: Kommentarij k romanu A.S. Puškina ‚Evgenij Onegin‘. Sankt-Peterburg: Iskusstvo 1998.
17 Vgl. Nikolaj L. Brodskij: ‚Evgenij Onegin‘. Roman A.S. Puškina. Kommentarii. S. 149.
18 Zugeordnet nach Nabokovs Kommentar, Vladimir Nabokov: Kommentarij k romanu A.S. Puškina ‚Evgenij Onegin‘. S. 383-393.
19 Nikolaj L. Brodskij: ‚Evgenij Onegin‘. Roman A.S. Puškina. Kommentarii. (zitiert nach Viktor Vinogradov: Âzyk Puškina.Puškin i ictoriâ russkogo literaturnoro âzyka. Moskva: Nauka 2000. S. 225f.).
20 Der erste Teilsatz ist ein wortwörtliches Zitat aus Tat`ânas Brief, auch wenn der Übersetzer das an dieser Stelle nicht hat deutlich werden lassen.
21 Vgl. Jurij Lotman: Puškin. S. 723.
22 Es bleibt an dieser Stelle zu Verwendung von gehobener und einfacher Rede in Onegins Brief noch zu vermerken, dass sie von ihrem Objekt bestimmt ist: spricht der Absender von etwas ihm Angenehmen, verwendet er die gewohnte Form oder Umgangssprache, ist das konkrete Objekt der Rede allerdings etwas Negatives, weicht der Autor auf den hochsprachlichen Ausdruck aus. Als evidentes Beispiel mögen hier folgende Verse dienen, für die es in der Übersetzung leider keine Entsprechung gibt:
А между тем притворным хладом Вооружать и речь и взор, Вести спокойный разговор, Глядеть на вас веселым взглядом!.. | […] und bei alledem Rede und Blick mit vorgeschützter Kälte zu tarnen eine ruhige Unterhaltung zu führen, Sie mit heiterem Blick anzusehen!… |
23 Vgl. Jurij Lotman: Puškin. S. 723.
24 Ebd.
25 Vgl. Jurij Tynânov: Poetika. Istoriâ literatury. Kino. Moskva 1977. S. 66.
26 An dieser Stelle sei nochmals auf Kapitel 3, Strophe zehn verwiesen:
[…] Плоды сердечной полноты, Вздыхает и, себе присвоя Чужой восторг, чужую грусть, В забвенье шепчет наизусть Письмо для милого героя… | […] die Früchte ihres übervollen Herzens sie seufzt und, sich fremde Exstase, fremdes Leid aneignend flüstert sie in Selbstvergessenheit einen Brief an den geliebten Helden auswendig vor sich hin… |
27 Reinhard Lauer: Aleksandr Puškin. München: Beck 2006. S. 239.