Godwin Kornes: Des/Orientierung, spielend. Michael Roes’ Roman Leeres Viertel als Dokument der reflexiven Ethnologie
Michael Roes (geboren 1960 in Rhede, Westfalen) hat Psychologie, Philosophie und Germanistik studiert und promovierte 1991 mit einer Arbeit über Isaak und das Sohnesopfer. In seinem Werk, das Romane, Kurzgeschichten, Lyrik, Theaterstücke, Filme und Radiosendungen umfasst, thematisiert Roes in immer neuen Variationen die Begegnung mit dem Fremden. Aus den Erfahrungen seiner zahlreichen Forschungsreisen in Länder wie Israel, Jemen, Algerien, USA oder China schöpft er das Material für eine reflexive Reiseliteratur, die selbstbewusst in der Tradition von Bruce Chatwin oder Hubert Fichte steht.
Leeres Viertel ist in Folge einer einjährigen Feldforschung (1994/95) im Jemen entstanden, deren Durchführung und Ergebnisse die Grundlage für den Roman darstellen. Im Mittelpunkt steht ein deutscher Ethnologe, der sich in den Jemen begibt, um lokale Formen des Spiels zu studieren. In seinem Gepäck befindet sich der autobiographische Reisebericht eines deutschen Orientforschers aus dem 18. Jahrhundert, der ihm nicht nur zur Lektüre dient, sondern auf vielfältige Weise seine Annäherung an die große arabische Wüste Rub` Al-Khali mitbestimmt. Leeres Viertel ist Roman, Ethnographie, Reisebericht, philosophischer Essay – eine Überschreitung der Grenzen zwischen Literatur und Wissenschaft.
1. Vorbemerkung
Mit Leeres Viertel ist ein in vielfacher Hinsicht bemerkenswerter Roman Gegenstand dieser Untersuchung. Angesiedelt zwischen vielfältigsten literarischen Genres, bietet Michael Roes seinen Text als einen Versuch der Grenzüberschreitung an, als ein Experiment mit der Form. Die Grundfrage nach den Möglichkeiten von interkulturellem Verstehen und angemessenen Schreibweisen über Fremdheit steht dabei im Mittelpunkt.
Auf den folgenden Seiten soll der Text aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet werden, die es ermöglichen, ihm eine exemplarische Relevanz in der postsaidischen und meta-ethnologischen Diskussion um die ,Krise der Repräsentation‘[1] zuzuweisen. Am Anfang wird, in gebotener Kürze, die Entstehungsgeschichte der selbstreflexiven Ethnologie skizziert. Ihre postmodern-experimentelle Neuausrichtung in Form der sogenannten Writing Culture-Debatte stellt einen wichtigen Kontext für Handlung und Struktur des Romans dar. Ein weiterer Schwerpunkt der Untersuchung wird auf dem Fremdheitsdiskurs liegen. Hierfür wird exemplarisch die Thematisierung der eigenen Homosexualität durch den Protagonisten als Instrument zur Infragestellung essentialisierender Identitätskonzepte betrachtet. In einem letzten Abschnitt sollen dann die beiden zuvor behandelten Aspekte im Zusammenhang mit ethnologischen Spieltheorien analysiert werden, in einer Lesart, die die Rolle des Spiels im Roman als eine Metapher der interkulturellen Verständigung zu deuten sucht.
2. Die reflexive Wende in der Ethnologie Dokumente des Zweifels
„Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende.“[2]
„Starke Angst vor den Tropen; Grauen vor Hitze und Schwüle“[3]
Die schwierige Frage nach den Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Annäherung an das Fremde, das Andere, das Dort-Seiende, kommt aus ethnologischer Sichtweise schwerlich um zwei grundlegende Dokumente des Zweifels herum: Claude Lévi-Strauss` desillusionierter Reisebericht Tristes Tropiques und Bronislaw Malinowskis posthum veröffentlichte Tagebuchaufzeichnungen A Diary in the Strict Sense of the Term. Beide Werke markieren bedeutende Wegscheiden des ethnologischen Selbstverständnisses und haben bis heute ihre Spuren in der Diskussion über die angemessene Repräsentation des Fremden hinterlassen.
Wo Malinowski noch ohne rhetorische Doppeldeutigkeiten über die ihn schockierende Andersartigkeit der Tropen räsoniert, denen er sich durch „freiwillige Gefangenschaft“[4] ausgeliefert hat, gestaltet Lévi-Strauss seinen berühmten literarischen Eintritt ins Dort ungleich diffiziler. Seine traurigen Tropen sind sowohl realer als auch literarisch-ästhetischer Ort. Der den Text durchdringende Schmerz über die Unmöglichkeit des Fremdverstehens wird so zum melancholischen Abgesang an das Paradigma einer ganzen Wissenschaft:
Ich hatte bis zum äußersten Punkt der Wildheit gehen wollen; war mein Wunsch nicht in Erfüllung gegangen bei diesen anmutigen Eingeborenen, die vor mir noch niemand gesehen hatte und die vielleicht nie mehr jemand sehen würde? Am Ende einer aufregenden Reise hatte ich meine Wilden nun endlich gefunden. […] Sie waren mir so nahe wie das Bild in einem Spiegel; ich konnte sie berühren, aber nicht verstehen. So erhielt ich im selben Augenblick meinen Lohn und meine Strafe. Denn war es nicht meine Schuld und die meines Berufs zu glauben, daß Menschen nicht immer Menschen sind? Daß einige mehr Interesse und Aufmerksamkeit verdienen, weil ihre Hautfarbe und ihre Sitten uns in Erstaunen setzen? Wenn es mir nur gelingt, sie zu erahnen und damit ihrer Fremdheit zu entkleiden, hätte ich ebensogut zu Hause bleiben können. Oder wenn sie diese Fremdheit, wie hier, bewahren, kann ich nichts mit ihr anfangen, da ich nicht einmal in der Lage bin, zu erfassen, worin sie besteht. Zwischen diesen beiden Extremen gefangen, frage ich mich: welche zweideutigen Fälle liefern uns die Ausreden, von denen wir leben? […] Ist der Betrogene der Leser, der an uns glaubt, oder wir selbst, die wir kein Recht haben, zufrieden zu sein, bevor es uns nicht gelungen ist, jenen Rest aufzulösen, der unserer Eitelkeit einen Vorwand liefert?[5]
Aus diesen Zeilen dringt eine tiefe Verunsicherung über die Möglichkeiten, Fremdheit zu erfassen und zu beschreiben. Gleichwohl geht Lévi-Strauss dabei einen Schritt weiter als Malinowski, der noch säuberlich auf einer Trennung von Tagebuch und Feldforschungsbericht beharrt. So folgt auf den berühmten ersten Satz der Traurigen Tropen ein häufig unterschlagener zweiter (und dritter): „Trotzdem stehe ich im Begriff, über meine Expeditionen zu berichten. Doch wie lange hat es gedauert, bis ich mich dazu entschloß!“[6]
Die professionelle ,Beichte‘ von Lévi-Strauss ist seitdem einer der Schlüsseltexte einer Auseinandersetzung, mit der die Ethnologie selbstkritisch ihre sprichwörtliche Gefangenschaft in den Tropen thematisierte und die in den folgenden Jahrzehnten in die so genannte reflexive Wende der Ethnologie münden sollte.
Zur Krise der Repräsentation
Es dürfte wenige andere Wissenschaftsdisziplinen geben, in denen so leidenschaftlich und kontrovers der eigene Forschungsgegenstand debattiert und dekonstruiert worden ist, wie in der Ethnologie. Die inspirierende Vielschichtigkeit und Ambivalenz dieser Wissenschaft kann dabei bereits aus der antik-griechischen Wurzel ihres Namen abgeleitet werden: ethnos lässt sich übersetzen als ein Bedeutungskontinuum, das Menschen bezeichnet, die außerhalb der griechischen Wir-Gruppe standen – die Anderen. Die Begriffsbestimmung ex negativo zieht sich seitdem als roter Faden durch die Epochen der Theoriegeschichte. Während anfangs die Beschäftigung mit nichtzivilisierten, außereuropäischen oder schriftlosen Gesellschaften im Mittelpunkt stand, ist seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem die Untersuchung von Kultur zu einem zentralen Gegenstand der Ethnologie geworden.[7]
Nun hat sich gerade an der Methodik der Ethnographie, also der Praxis des Beschreibens, eine der wesentlichen Debatten der Ethnologie entzündet. Im Zeichen der ‚Krise der Repräsentation‘ Ende der 1970er Jahre wurden die kanonischen Darstellungsformen der Ethnologie zunehmend kritisiert. Unter der Leitfrage, die sich einfach aber präzise mit „wer spricht?“[8] formulieren lässt, wurden vor allem die klassische Feldmonographie und der ihr eigene Stil des ethnographischen Realismus problematisiert.[9] Erstmals wurde ausdrücklich die Rolle des Ethnographen als Produzent von Texten analysiert – eine Perspektive, die vor allem mit dem Werk von Clifford Geertz verbunden ist:
Doing ethnography is like trying to read […] a manuscript – foreign, faded, full of ellipses, incoherencies, suspicious emendations, and tendentious commentaries, but written not in conventionalized graphs of sound but in transient examples of shaped behaviour.[10]
Das mit dem Namen Geertz untrennbar verbundene Verständnis von Kultur als Text bot elf Jahre später den Teilnehmern der Writing Culture-Konferenz in Santa Fee die Grundlage zu ihrer selbstkritischen Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Ethnologie.[11] Durch den von ihnen mit angestoßenen reflexive turn in der Ethnologie fanden grundlegende Denkmuster aus Postmoderne und Poststrukturalismus Eingang in die Theoriebildung:
Anthropologisches Interpretieren als Decodieren von Texten und Wirklichkeitsstrukturen ,hinter den Texten‘ in Absicht auf authentische Beschreibung wird fragwürdig angesichts der Einsicht, daß die Realitätsstrukturen ebenso wie die ethnographischen Interpretationen den Status von Diskursen haben, die durch die Rhetorik von Machtbeziehungen vorgeprägt sind. Nicht authentisches Fremdverstehen, sondern die Abhängigkeit der Interpretation von Konventionen, Darstellungsstrategien und intertextuellen Einbindungen des Schreibens selbst rückt zunehmend in den Vordergrund.[12]
Der reflexive turn markiert also einerseits die Annäherung zwischen den Disziplinen, andererseits die sprichwörtliche Absage an die großen Erzählungen im Sinne Lyotards. Unter dem Leitmotiv einer selbstkritischen Meta-Ethnologie begann die Suche nach neuen, alternativen Repräsentationsmethoden.
Nun darf angesichts der erwähnten Repräsentationskrise der Verweis auf Said nicht fehlen: Seine 1978 erschienene Studie Orientalism war, bei allen „methodologische[n] Schwächen und Einseitigkeiten“[13], einer der wichtigsten Stichwortgeber für die reflexive Bewegung. Seine Fragen nach authority, strategic location und strategic formation von Autor und Text,[14] ermöglichen einen nahtlosen Übergang zu den Postulaten der selbstreflexiven Ethnologie: „[T]o ask how one can study other cultures and peoples from a libertarian, or a nonrepressive and nonmanipulative, perspective. But then one would have to rethink the whole complex problem of knowledge and power.“[15] Die von Said formulierte Kritik an der Tendenz der westlichen Wissenschaften zur Festschreibung von Identität besitzt für die Ethnographie dabei offenkundig eine besondere Relevanz.
Am Beispiel klassischer Monographien von Bronislaw Malinowski, Raymond Firth oder Edward E. Evans-Pritchard konnte gezeigt werden, wie durch die literarisch gestaltete Abwesenheit des Forschers im eigenen Text – die ein wesentliches Stilmerkmal des ,ethnographischen Realismus‘ darstellt[16] – die wissenschaftliche Autorität des Forschers über die beschriebenen Personen konstruiert wird. Hier wird die ethische und epistemologische Bruchlinie allzu deutlich: „[Ü]ber andere zu reden heißt, über sich selbst zu reden. Die Konstruktion der Anderen ist zugleich die Konstruktion des Selbst“[17], und, noch prononcierter auf die damit verbundene ethische Dimension verweisend:
First, the self is always a construction, never a natural or found entity, even if it has that appearance. Second, the process of creating a self through opposition to an other always entails the violence of repressing or ignoring other forms of difference.[18]
Somit verweist uns die Frage nach den Möglichkeiten einer neutralen Repräsentation auf eben jene Dialektik aus Eigenem und Fremdem, aus Hier und Dort, die in ihren Nuancen jenes Geheimnis birgt, über dessen Wesen Said uns so seltsam unbefriedigend im Unklaren lässt.
Experimentelle Ethnographie
Es war ein weiter Weg von den Schreibtischen der ,Lehnstuhlethnologen‘ wie Edward B. Tylor[19] oder James Frazer, die im neunzehnten Jahrhundert ihre Standardwerke verfassten, bis hin zu der empirischen Wissenschaft, an deren Genese Malinowski so maßgeblich beteiligt war. Nach den Debatten um die ,Krise der Repräsentation‘ ist man innerhalb der zeitgenössischen Ethnologie zu einer methodologischen Nüchternheit zurückgekehrt, die zwar die multidisziplinäre Dynamik des reflexive turn verinnerlicht hat, weniger jedoch seine bisweilen an Exzentrik grenzende Experimentierfreudigkeit, die neben vielen bemerkenswerten Texten auch ebenso viele „Dokumente der Mutlosigkeit“[20] hervorgebracht hat.
Das Spannungsfeld zwischen der Beschreibung und der Festschreibung des Anderen wurde in der reflexiven Ethnographie durch eine Vielzahl von Schreibformen zu überbrücken versucht. So thematisierte die sogenannte ethnographische Bekenntnisliteratur mit Emphase die subjektiven Aspekte der Feldforschung, die Zweifel, ethischen Bedenken und häufig genug frustrierenden Ergebnisse, die zum Forschungsalltag gehören. Das Bedürfnis, den Prozess des Forschens und Beschreibens transparent zu machen, zeichnet diese Texte aus, auch wenn in vielen Fällen eine exaltierte Autorfixierung das Fremde zur bloßen Staffage geraten lässt.[21]
Einen Ansatz, diese Problematik zu überwinden, stellt die ethnographische Lebensgeschichte dar. Eines ihrer bekanntesten Beispiele ist Nisa: The Life and Words of a !Kung Woman (1981) von Marjorie Shostak. In ihrem Werk präsentiert die Autorin ihre Interviews mit Nisa im Rahmen eines Dialoges, in dessen textuelle Repräsentation auch andere Angehörige der !Kung einbezogen werden. Zwar handelt es sich auch hier um eine Choreographie fremder Stimmen durch die Ethnographin; dennoch stellt das Buch einen eindrucksvollen Versuch dar, die Möglichkeiten interkulturellen Verstehens durch das Medium der Begegnung zu erweitern.[22]
Die dialogische Ethnographie, als eine dritte Form experimenteller Schreibweisen, lässt sich als Synthese der beiden zuvor beschriebenen verstehen: Sie strebt nach einer möglichst akkuraten Dokumentation der Rahmenbedingungen des Feldforschungsprozesses, von Orten und Situationen, verbalen und nonverbalen Kommunikationsakten sowie selbstreflexiver Gedanken des Ethnographen. Idealtypisch stellt der Autor auf diese Weise sein eigenes Interpretationsmonopol zur Disposition.[23] Ihre konsequenteste Entsprechung findet diese Form im Ideal einer polyphonen Ethnographie[24], die als Bachtin`sche Karnevalisierung des ethnographischen Textes aus der fragmentarischen Wiedergabe vorhandener Stimmen besteht, wobei die des Ethnologen nur noch eine unter vielen ist. Gerade hier wird die Auto(r)Dekonstruktion der ethnographischen Autorität zum konstitutiven Element.
In ihrer Kritik an den kanonischen Repräsentationsformen und der gleichzeitigen Erhebung des Zweifels zum Instrument ihrer Erkenntnis zeigt sich der ambivalente Charakter der postmodernen Ethnographie. Ihr nachholendes Projekt, den Prozess der politischen Dekolonisation mimetisch auch auf die eigene Wissenschaft auszuweiten, hat wesentlich dazu beigetragen, den Wandel des kolonisierten Anderen zum postkolonialen Subjekt auf die Agenda zu bringen. All ihrer Schwächen und epistemologischen ,Mutlosigkeit‘ zum Trotz besteht eine der größten Errungenschaften der reflexiven Wende daher gerade in der Fokussierung auf die ethnologische Begegnung und den Dialog. „[T]he enlargement of the universe of human discourse“[25] ist auch weiterhin die Verheißung, die Ethnologen weltweit an die entlegenen Orte treibt.
3. Leeres Viertel: Das Spiel mit der Form
Literarische Ethnographie – ethnographische Literatur?
Die Annäherung von Ethnologie und Literaturwissenschaft hat eine Überlappung der Diskurse zur Folge gehabt, ein „blurring of the genres“, wie die berühmte Wendung von Geertz[26] es treffend bezeichnet. Mit den Arbeiten von Clifford Geertz, James Clifford, George Marcus, Lila Abu-Lughod, Edward Said und Homi Bhabha sind gemeinsame Plattformen der Annäherung an das Fremde entstanden. Ethnographische Schreibweisen wurden Gegenstand literaturkritischer Analysen, so wie literarische Texte zum Objekt kulturwissenschaftlicher Studien wurden. Hierbei ist gerade Bhabhas Modell eines kulturell Dritten zur Chiffre für die Möglichkeiten einer Darstellung von Fremdheit geworden. Seine Betonung des hybriden Charakters postkolonialer Literatur, sein Verweis auf die fragmentarische Gestalt von Identität lässt sich weiterdenken hin zu einer Überwindung des Repräsentationsdilemmas bei Said: Die Repräsentation des Fremden wird möglich in einem literarischen „Raum der Verunsicherung“[27].
Als ein solcher entpuppt sich der Roman Leeres Viertel von Michael Roes. Sein fast 800 Seiten starker, herausfordernd mit der Gattungszuordnung spielender literarischer Feldforschungsbericht, stellt eine faszinierende Annäherung an diese Thematik dar.
In der auf den ersten Blick einfach strukturierten Handlung, mit der Roes zwei Forschungsreisende verschiedener Zeitalter die große arabische Wüste Rub` al-Khali durchqueren lässt, entfalten sich dabei die äußerst komplexen textuellen Kompositionsstrategien des Autors.
Wir erleben den zeitgenössischen Erzähler, einen jungen deutschen Ethnologen, als einen reflektierten und selbstkritischen Forscher, der zu einer Feldforschung in den Jemen aufbricht, um traditionelle Formen des Spiels zu studieren. Der Reisebericht eines deutschen Orientforschers aus dem achtzehnten Jahrhundert, Alois Schnittke, dient ihm dabei gewissermaßen als historischer und literarischer Wegbegleiter. In kurzen, unregelmäßig alternierenden Sequenzen lässt der Autor beide Protagonisten über ihre Erfahrungen, Gefühle und Selbsteinschätzungen auf der Reise in das mythische Herz der arabischen Halbinsel berichten.
Von großer Signifikanz ist hierbei die zunehmende Annäherung beider Diskurse. So bewegen sich die zwei Erzählstränge anfangs noch deutlich getrennt nebeneinander her, was eine Entsprechung in der parallel erfolgenden Reise der Protagonisten hat, die sich zu verschiedenen Zeiten im gleichen Raum befinden. An einer Schlüsselstelle des Romans kommt es dann allerdings zu einer bemerkenswerten Überlappung der zwei Handlungsebenen: „Ich nehme nicht wirklich an ihrem leben teil. Ich gehöre nicht dazu. Ich probiere verschiedene rollen aus, erwartete, gewählte. Doch zugehörigkeit ist keine rolle, sondern ein dasein an sich“[28] – hier spricht der Ethnologe, als Geisel in Bejt al-Hadschar. Im nächsten Eintrag führt Schnittke, ebenfalls Gefangener, unvermittelt, ohne Markierung von Ort und Datum, den Monolog fort: „Wie soll ich die Hölle der Einsamkeit nun benennen, nachdem ich mich im Purgatorium der Zweysamkeit bereits in Ersterer wähnte?“[29]
Die Diskurse fallen ineinander, verschmelzen, produzieren ein Drittes. Bezeichnenderweise geschieht dies jeweils in Situationen der Auslieferung; beim Ethnologen zudem in einer Meditation über das Wesen von Zugehörigkeit und der Funktion von Rollen im Spiel mit ihr. Schnittke, als Mitglied einer Expedition von Gelehrten, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts auf die Suche nach den mosaischen Gesetzestafeln machten, entpuppt sich bald als Kritiker des humanistischen Universalismus, dessen Wirkungsmacht nicht nur die Gelehrten in die Ferne, sondern auch die Kolonialisten zu den ,Wilden‘ brachte. Sein Weg in den Jemen, in das Leere Viertel, bringt mit jedem Schritt das Konstrukt seiner Wertvorstellungen und den Glauben an den Sinn seiner Mission stärker ins Wanken:
Doch scheint mir diese Suche nun so fern und fragwürdig, ja, geradezu unsinnig, dass ich inzwischen nicht einmal mehr weiss, ob ich an diesem Mysterium, vorausgesetzt, dass dergleichen existirt, überhaupt noch Theil zu haben wünsche. Vielleicht aber gehört dieses geheime Wissen zum Ritus der Aufnahme in den Stamm.[30]
Schnittkes Präsenz im Roman endet mit diesen Überlegungen. Sie endet bezeichnenderweise in genau jenem Augenblick, als er scheinbar endlich vor den sagenumwobenen Steintafeln steht, aber erkennen muss – „Die Seiten sind leer.“31 Geschickt konstruiert Roes hierbei, im Verhältnis des fiktiven Schnittke zu den anderen Teilnehmern der Expedition, den Orientalismus-Diskurs nach und macht ihn zu einem Subtext seines Romans. Der zeitgenössische Ethnologe hingegen ist bereits ein Produkt jener selbstreflexiven Wende der Ethnologie, sein Bewusstsein ist durchdrungen von den Zweifeln an der Motivation des eigenen Strebens nach Erkenntnis: „Warum interessiert der westen sich für fremde völker und kulturen? Was interessiert ihn an den fremden? Und rechtfertigt dieses interesse den wissenschaftlichvoyeuristischen einbruch in das möglichst unberührte, ungewarnte, unvorbereitete untersuchungsfeld?“[31]
Dies sind die Leitfragen der selbstkritischen postmodernen Ethnologie und es kann vermutet werden, dass unser Protagonist seine Lektüre der postcolonial studies verinnerlicht hat. Gerade in der Konfrontation beider Diskurse, des orientalistischen wie des postmodernen, zeigt sich ein wichtiges Strukturmerkmal des Romans, mit dem Roes seine literarische Des/Orientierung durchführt: „Jede Reise, jede Beschreibung ist zugleich eine Form der Lektüre, ein Gang ins Archiv. Das Schreiben über die eigenen Fremderfahrungen wandelt auf den Spuren der Vorgänger, schreibt deren Texte um.“[32] In der Auseinandersetzung mit den literarischen Vorgängern, deren Einschreibungen in die imaginierte Leere des Rub al-Khali doch stets alle nachfolgenden Annäherungen konturieren, entwirft Roes das Model einer reflektierten Reiseliteratur, die sich eher durch ein vorsichtiges Herantasten an das Fremde, durch das fragmentarische Austarieren der eigenen, oft verwirrenden Sinneseindrücke und Gedanken auszeichnet. Dass Roes als Ethnologe einen schreibenden Ethnologen beschreibt, fügt dieser Konstellation eine eminent wissenschaftstheoretische Relevanz bei.
Der Roman versinnbildlicht in seiner Struktur die sich überlagernden, einem Palimpsest gleichenden Inskriptionen des wahlweise aufklärerischen, kolonialen oder postmodernen westlichen Blicks auf den Orient und es ist gerade sein Verdienst, hierbei auch die heterogenen Sichtweisen der jemenitischen Anderen zu integrieren. Tatsächlich tragen diese Anderen Namen und erscheinen als Stimmen im Text, als ethnologische Informanten, als Freunde und Geliebte. Als vielfältige Stimmen durchdringen sie den ethnographischen Bericht, erschweren an vielen Stellen eine klare Zuordnung der Erzählperspektive, wenn Zitate nicht markiert werden, wenn Gespräche ineinander verfließen.[33] „Die kategoriale Trennung von Kunst und Wissenschaft, von Poesie und Ethnologie, von Konkretion und Imagination“35 wird auf gehoben, und in den neu entstehenden Raum hinein entfaltet sich ein faszinierender Prozess der Annäherung an das Fremde.
In diesen bezieht Roes das breite Spektrum reflexiver ethnographischer Schreibweisen ein, von der durchgängigen Autorpräsenz des Ethnologen in seinem eigenen Text, über wissenschaftliche Zitate, Dialoge mit Informanten, Tagebucheinträge, der Niederschrift von Traumsequenzen, essayistischen Überlegungen zum Wesen des Spiels, samt Einbeziehung des gesammelten Feldforschungsmaterials. Der zeitgenössische Ethnologe konzipiert seine wissenschaftliche Repräsentation als bewusste Überschreitung der klassischen ethnographischen Konventionen, er löst dezidiert das Programm der Writing Culture-Debatte in seinem Entwurf ein, vereint Feldtagebuch und Ethnographie.
Der Roman spielt mit den Formen, vereint, was scheinbar unvereinbar ist: Der fiktive Reisebericht von Schnittke, der auf realen Reiseberichten basiert; die postmoderne ethnographische Collage des zeitgenössischen Ethnologen, die auf den tatsächlichen Feldforschungen von Roes beruht. Leeres Viertel weist somit weit über die zwischen Ethnologie und Literatur bestehenden Grenzen hinaus, auf mehr als einer Ebene.
Selbst-Anders-Sein: Fremdheit als ethnologische Erfahrung
Was habe ich hier zu suchen? Glaube ich wirklich, mit guten vorsätzen dem grundsätzlichen dilemma zu entkommen: Wie emphatisch, introspektiv oder neutral ich mich auch immer verhalte, alle verhaltensweisen bleiben strategisch. Sie zielen darauf ab, die begegnung mit dem fremden zu einem kontrollierten, wiederhol- und überprüfbaren experiment zu machen. Alles zufällige, subjektive und singuläre in dieser begegnung verfälscht das ergebnis und raubt dieser wissenschaft ihre empirische legitimation. Selbst diese kritik repräsentiert nur den stand der gegenwärtigen anthropologischen Reflexion. Warum wagen wir den schritt von einer empirischen zu einer hermeneutischen wissenschaft nicht? Wir können dem ethnozentrismus nicht entkommen. Selbst die kritische reflexion ist teil der eigenen kulturellen kompetenz.[36]
Das Mantra der reflexiven Ethnologie – what am I doing here?[34]– durchzieht den gesamten Bericht des Erzählers, wirft mit jeder neuen Kontaktaufnahme die Frage nach den Möglichkeiten von Verstehen auf. Das Thematisieren der eigenen Alterität gerät zu einem Leitmotiv des Erkenntnisgewinns. Der Ethnologe wird dadurch Teil einer Dialektik der Verfremdung, in deren Geflecht sich die Projektionen von Eigenem und Fremdem ständig verschieben. Der sprichwörtliche Kulturschock entwickelt sich zu einem point of no return und fokussiert den Blick des Ethnologen „auf die Andersheit, den Raum der Verschiebung […]; der Ethnograph ist nicht ‚dort‘ (und auch nicht hier), sondern dazwischen“[35]. Es wird unmöglich, im Blick auf das Andere eine neutrale Perspektive einzunehmen; die eigene Wahrnehmung findet sich immer hin und her geworfen in den Spiegelwelten dieses Gegensatzes: „Der status des unübersehbar fremden ist auf dauer anstrengend […], weil ich nie nur mich selber, sondern immer auch den fremden an sich repräsentiere“[36] – ein Dilemma, das den Status quo der ethnographischen Disposition ausmacht, gleichzeitig aber auch ihr besonderes Potential.
Dass Roes seinen skeptischen Ethnologen auch die eigene Homosexualität thematisieren lässt, offen und eingebettet in das generelle reflexive Zweifeln, unterstreicht den Prozess der Selbst-Bewusstwerdung über das Wesen der eigenen Fremdheit. Dabei distanziert er sich sowohl von den unterdrückten, quälerischen Sehnsüchten Malinowskis, die dessen Tagebuch durchdringen, als auch von der offensiven und häufig befremdlichen Erotik Hubert Fichtes. Mit dem Problematisieren der eigenen sexuellen Identität löst der Ethnologe einen weiteren ethischen Imperativ der reflexiven Ethnologie ein, indem er die komplexe Interdependenz von Sexualität, Geschlecht und Macht in der Feldforschungssituation sichtbar macht: „[A]nthropology has always trafficked in the sexuality of the people we study.“[37] Es war nicht zuletzt diese Anziehungskraft des Exotischen, „der geistige und weltliche Eros der Kolonisatoren, der Ethnographen und Schriftsteller“[38], die sowohl die Ethnologie als Wissenschaft, aber auch den ,Orient‘ per se zu solch wirkmächtigen Projektionsflächen westlicher Sehnsüchte gemacht haben.
Roes’ Ethnologe legt sein Verlangen nach körperlicher Nähe offen, ist sich je doch immer der ethischen Implikationen bewusst. Entscheidend ist, dass die sexuellen Begegnungen gerade deshalb stattfinden können, gekennzeichnet durch ein passives Sich-Einlassen, geleitet durch das Korrektiv der eigenen Verantwortung. Die Sexualität wird so zu einem weiteren Vehikel der Selbstreflexion, wenn nicht sogar zu einem Instrument intensivierter Wahrnehmung an sich:
Innovative Ethnographien der letzten Jahren [sic!] verfassten indessen Autorinnen und Autoren, die sich selbst als marginalisierte Existenzen vom ,Rande‘ der Gesellschaft aus, als halfies zwischen Kulturen stehend, als Feministinnen, als Schwule an neue Formen des experimentellen Schreibens wagten, mit einem besonderen Gespür für die verhängnisvolle Macht essentialistischer Diskurse.[39]
Der homosexuelle Ethnologe wird so zu einer Chiffre für die bereits fragmentierte Identität des ,Eigenen‘. Die Fremdheit ist der ständige Begleiter des Ethnologen; sie ist primum movens all seiner Annäherungen und entlarvt alle Zuschreibungen reiner Identität als Illusion. Der Raum der Verunsicherung wird dadurch zum Ort der Verhandlung und die Hingabe an das Fremde zu ihrem wirkungsvollsten Instrument. Unter diesem Gesichtspunkt der Hingabe, der Auslieferung an das Fremde, soll abschließend die Signifikanz der ethnologischen Spieltheorien für den Roman untersucht werden.
Spielend. Die Auslieferung an das Feld
Die Spiele der Menschheit haben schon früh das Interesse von Ethnologen gefunden und ihre deutende Kreativität beflügelt. Zieht man eine wissenschaftstheoretische Linie durch die Epochen, so sind die Arbeiten von Arnold van Gennep, Johan Huizinga, Roger Caillois, Victor Turner und Clifford Geertz hierfür bedeutende Marksteine.
Das Spiel als Forschungsgegenstand durchzieht als roter Faden Roes’ Roman und als Leitmotiv die wissenschaftlichen Interessen des Ethnologen. Seine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Spieltheorien nimmt, auch durch den Verweis auf Wittgenstein, einen zunehmend mehrschichtigen Charakter an. So wird das Spiel, in seiner anfänglich nüchtern-empirischen Reduktion auf Datenmaterial, nach und nach zu einer Metapher für den Prozess der interkulturellen Kommunikation an sich. Exemplarisch vollzieht der Ethnologe den Übergang von homo faber zu homo ludens, der grundlegenden kulturgeschichtlichen Wegscheide nach Johan Huizinga. Für den niederländischen Historiker stand das menschliche Spiel in einem ursächlichen Zusammenhang zur Entstehung von Kultur. Durch seinen Sonderstatus als Raum der kreativen Gestaltung bekommt das Spiel bei Huizinga daher eine Qualität als Ort kultureller Verhandlung:
Spiel ist nicht das ,gewöhnliche‘ oder das ,eigentliche‘ Leben. Es ist vielmehr das Heraustreten aus ihm in eine zeitweilige Sphäre von Aktivität mit einer eigenen Tendenz. […] Das Spiel sondert sich vom gewöhnlichen Leben durch seinen Platz und seine Dauer. […] Es ,spielt‘ sich innerhalb bestimmter Grenzen von Zeit und Raum ,ab‘. Es hat seinen Verlauf und seinen Sinn in sich selbst.[40]
Hier lässt sich sinnvoll anschließen mit Arnold van Genneps Konzept der Übergangsriten. Sein Modell der Aufteilung von sozialen Transitionsprozessen in eine Trennungsphase, eine Schwellen- oder Umwandlungsphase und eine Angliederungsphase hat sich als überaus beständig erwiesen. Die Schwellenphase, bei van Gennep noch ausdrücklich in einer halbzivilisierten Sakralität lokalisiert, wird von ihm beschrieben als „Niemandsland […]. Jeder, der sich von der einen Sphäre in die andere begibt, befindet sich eine Zeitlang sowohl räumlich als auch magisch-religiös in einer besonderen Situation: er schwebt zwischen zwei Welten“[41].
Exakt in diesem Niemandsland hat Victor Turner seine Theorie der Liminalität angesiedelt, indem er den Verhandlungscharakter der rituellen Schwellenphase auf das Theater und von dort auf soziales Handeln erweiterte:
Die liminale Phase ist die Zeit und der Ort zwischen zwei Bedeutungs- und Handlungskontexten. Sie ist die Zeit, in der der Initiand weder das ist, was er einmal gewesen ist, noch das, was er einmal sein wird. […]. Als mehrdeutige Wesen vermitteln sie zwischen alternativen und gegensätzlichen Kontexten und tragen so wesentlich zu ihrer Veränderung bei.[42]
Ausgehend von der Manchester–Schule, einer sehr akteurszentrierten Ausrichtung der britischen Ethnologie, die wesentlich zur Erforschung von sozialen Konflikten und Wandlungsprozessen beigetragen hat, analysierte Turner die Performanz von sozialen Akteuren in sogenannten social dramas. Diese, charakterisiert durch ‚Bühne‘, ,Schauspieler‘ und ,Schiedsrichter‘, dienen der Lösung von Konflikten und erzeugen einen zeitlich und örtlich begrenzten Zustand der Gleichheit, von Turner als communitas bezeichnet. Das Spiel wird dabei zu einer Form symbolhafter Kommunikation – es bedarf einer außerhalb von Zeit und Raum stehenden Bühne der Interaktion; Akteuren, deren Teilhabe durch größtmögliche Gleichheit gekennzeichnet ist; einer Handlung, deren Bedeutung in der fiktiven Wirklichkeit des Niemandslandes entsteht. Mag hierbei auch die Bezeichnung niemand irreführend sein – sie verdeutlicht doch auf treffende Weise die im „Spiel der Identitäten“[43] zusammenlaufenden, vielgestaltigen Prozesse der Konstruktion und Fragmentierung von Identität.
Dies gilt im Kontext des Romans besonders für den Ethnologen, dessen spieltheoretische Untersuchungen zunehmend durch die eigene Interaktion beeinflusst werden, oder, im Kontext des zuvor Gesagten, in der Liminalität den Raum einer Annäherung finden: „Die Sphäre der Performance erscheint hier als eine mögliche Verständigungsebene zwischen den Kulturen.“[44] Es ist der abstrakte Wunsch nach einer Übertragung der Spieltheorien auf soziales Handeln und einer utopischen Ausweitung der communitas zu einem Gesellschaftsvertrag, die hierbei im Mittelpunkt steht:
Könnten wir also auf rein sozialer basis, unserem verhalten in einer spielgemeinschaft vergleichbar, ein verbindliches regelsystem schaffen, das keinen anspruch auf universalität erhebt und keine weitere legitimation beansprucht, als gemeinsam vereinbart und von allen akzeptiert worden zu sein?[45]
Je länger der Ethnologe jedoch seine Untersuchungen betreibt, umso tiefgreifender werden die Zweifel am Potential seines wissenschaftlichen Apparates, ein Verstehen jenseits des reinen Beschreibens zu ermöglichen:
Worüber denke ich nach, hier, in der wüste. Finde ich neue antworten auf meine fragen? Stelle ich mir überhaupt noch dieselben fragen? Bin ich nicht wieder am anfang allen fragens: „Wie ist verstehen möglich?“ […] Ist nicht für jede art zu verstehen ein vor-verständnis nötig, eine kenntnis der sprache, des kontextes, der konnotationen? Ja, musz man sich in einem tieferen sinne nicht schon verstanden haben, um einander zu verstehen? […] Ein ,objektives‘ oder auch nur umfassendes verstehen eines anderen aber wird es nie geben. Keine sprache ist vollständig. Und von allen denkbaren ist die sprache der wissenschaft eine der beschränktesten.[46]
Die Wissenschaft markiert auch weiterhin die Grenzen der Identitäten und erlaubt den Rückzug in die Sicherheit der bekannten Begriffe. Dies findet eine räumliche Entsprechung in der Art und Weise, wie sich der Ethnologe ein safe house des Eigenen inmitten der Feldforschungssituation geschaffen hat: „In meinem haus habe ich mich in vertrauter weise eingerichtet. Aus dieser sicheren distanz beobachte ich das treiben um mich herum. Nach wie vor wähle ich aus. […] Während ich mich abwende oder entziehe.“[47]
Dieses wird ihm auf drastische Weise im zweiten Teil des Romans genommen. Entführt und als Geisel in Bejt al-Hadschar, wird das Haus eines Fremden sein Heim, er wird zum Gast und damit zum Teil der Dorfgemeinschaft. Das Wegfallen der exit option ermöglicht nun die teilnehmende Beobachtung auf eine neue, intensivere Weise, die Auslieferung an das Feld wird total: „Der der Freiheit beraubte Ethnologe ist auf sich selber zurückverwiesen, seine Beobachtungen werden im engeren Blickwinkel genauer, seine Angstphantasien präziser.“[48]
Ohne der Erfahrung einer Geiselnahme auch nur jeglichen Anklang von Romantik zu unterstellen, wird sie dennoch von Roes zur ultimativen ethnologischen Begegnung verdichtet. Der Ethnologe ist alleine mit sich und allen anderen, das Leere Viertel wird zu einem Ort der Verhandlung, der Arena seines social drama. Außerhalb von Zeit und Raum, in der gleichzeitig konkreten und fiktiven Realität der Liminalität, wird der Ethnologe selbst zum Spielenden. Bejt al-Hadschar wird die Bühne seiner persönlichen Verwandlung – er ist „fast schweigsam, doch nicht mehr sprachlos“[49].
Die Forschung über das Spiel findet ihre konkrete Entsprechung in der Performanz des Ethnologen, in der Transformation seiner Persönlichkeit. Durch die spielerische Hingabe an das Andere wird Fremdverstehen möglich, im Verstummen der eigenen dogmatischen Diskurse: „Verstehen setzt weniger eine gemeinsame sprache als eine gemeinsame erfahrung voraus.“[50]
Eine der Stärken des Romans ist hierbei, dass Roes den Prozess der Annäherung nicht als romantische unio mystica mit dem Fremden skizziert; der Weg ist steinig und entbehrungsreich. Der Ethnologe ist sich seiner Gefangenschaft bewusst, stellt sich aber gleichzeitig der Situation, selbst angesichts der Möglichkeit einer Flucht. Noch hält ihn die Zeitlosigkeit seiner eigenen rite de passage in ihrem Bann, wofür als weiteres sichtbares Zeichen bei seinen letzten Tagebucheinträgen die Datumsangaben verschwinden. Der Ethnologe überschreitet die Grenzen der Wissenschaft und ihrer Festschreibung von Identität, er findet neue Wege der Annäherung an das Fremde; das Spielerische wird zu einer Form der Kommunikation, mit der die Sprachlosigkeit überwunden werden kann:
Spielen bedeutet nicht nur, dasz ein spieler (mit) etwas spielt, sondern auch, dasz etwas mit dem spieler spielt. Das spiel hängt mit dem Leben selbst zusammen: Wir können mit allem spielen, mit dingen, menschen, situationen, rollen, mit gedanken, gefühlen, worten, mit dem leben selbst. Und das leben kann mit uns sein spiel treiben. Plötzlich finden wir uns als spielfigur eines gröszeren spiels wieder, dessen regeln wir nicht durchschauen und dessen grenzen wir nicht erkennen. Wir können so wenig aus uns selbst heraustreten, um wieder herr der spielzüge zu werden, wie wir unser ,sprachspiel‘ verlassen können, um darüber zu sprechen.[51]
Der Ethnologe erkennt sich als Teilnehmer des Spieles, er ist – mit den Worten von Geertz – inmitten des sozialen Textes, sowohl beschreibend, als auch seinerseits beschrieben werdend; er löst die Dichotomie der Repräsentation in seiner eigenen Person auf. Das Spiel wird soziale Utopie, ein Raum der Veränderung, der Auslieferung. Nackt, entkleidet, der Tropen beraubt, wird die Sinnlichkeit des Fremden zur Grundlage des Verstehens: „Während das freundschaftlich schützende zurücktritt tanzen wir unser wirkliches verhältnis.“[52]
Mit dieser Des/Orientierung löst Roes grundlegende Anforderungen an interkulturelle und postkoloniale Literatur ein, charakterisiert durch die spielerische Inszenierung kultureller Differenzen bzw. ihrer Repräsentationsformen, die deren Geltungsanspruch – im Medium der Fiktion – suspendiert. Darin liegt ihr spezifisches interkulturelles Potential. Realisiert wird es als postkoloniales Potential aber erst dann, wenn die Darstellung kultureller Differenzen verbunden wird mit einer künstlerischen Organisation der Redevielfalt, die zu einer Verfremdung kolonialer Darstellungs- und Verstehensroutinen führt. Literatur kann koloniale Binäroppositionen, die durch Abstraktion und Reduktion, Generalisierung und Bewertung, Hierarchisierung etc. entstanden sind, in ein multidifferentielles Spiel überführen. […] Literatur kann, über Verfahren der Intertextualität, Interlingualität, Intermedialität, durch Dialogizität, Stimmenvielfalt u.a.m. die Rede ,über‘ andere mit anderen Stimmen konfrontieren und so ein postkoloniales Potential realisieren.[53]
Durch den damit verbundenen Rekurs auf die Postulate der postmodernen Ethnographie lässt sich die Signifikanz des Romans auch auf die kulturwissenschaftliche Diskussion um die ,Krise der Repräsentation‘ ausweiten. Er stellt ein beeindruckendes Beispiel reflexiver Ethnographie dar, sowohl auf der Ebene der Handlung, versinnbildlicht durch die Figur des Ethnologen, als auch auf der Ebene der Textgestaltung durch den Autor, der seine eigenen Feldforschungserfahrungen in dieser herausfordernden Gestalt präsentiert und dadurch einen inspirierenden Raum der Verunsicherung eröffnet. Leeres Viertel ist eine Auseinandersetzung mit dem Orientalismus, ein reflexives re-writing des Interkulturalitätsdiskurses in der postkolonialen Literaturwissenschaft, während gleichzeitig ein zeitgenössischer Ethnologe zum Sinnbild der Komplexität von Identitätskonstrukten wird. Verstehen findet nicht in der Dichotomie des Eigenen/Fremden statt, sondern in den Zwischenräumen, in den unbezeichneten Welten der Liminalität.
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Wintersemester 2007/2008
[1] Wie Silja Freudenberger zurecht betont, handelt es sich beim Topos der ,Krise der Repräsentation‘ nicht um eine Erfindung der Postmoderne, sondern um die seit Kant und Nietzsche in der Erkenntnistheorie vollzogene Auseinandersetzung um die Abbildbarkeit der Realität, vgl. Silja Freudenberger: „Repräsentation: Ein Ausweg aus der Krise.“ In: Repräsentation, Krise der Repräsentation, Paradigmenwechsel. Ein Forschungsprogramm in Philosophie und Wissenschaft. Hrsg. von dies./Hans Jörg Sandkühler. Frankfurt am Main: Lang 2003. S. 71-102. Meine Verwendung des Begriffs ,Repräsentation‘ bezieht sich dabei im Folgenden stets auf die Ethnographie, d.h. die der Ethnologie eigenen Repräsentationsform.
[2] Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. Leipzig: Reclam 1988. S. 7.
[3] Bronislaw Malinowski: Ein Tagebuch im strikten Sinn des Wortes: Neuguinea 1914-1918. Frankfurt am Main: Syndikat 2000. S. 15.
[4] Ebd. S. 25.
[5] Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. S. 378-379.
[6] Ebd. S. 7.
[7] Jedoch wäre die Ethnologie nicht die streitbare Wissenschaft die sie ist, wenn nicht auch um den Begriff der Kultur ein heftiger Disput ausgebrochen wäre – bis hin zu Forderungen nach seiner Abschaffung aufgrund der diffusen und problematischen Vieldeutigkeit, vgl. Lila Abu-Lughodh: „Writing against culture.“ In: Recapturing Anthropology. Hrsg. von Richard G. Fox. Santa Fee: School of American Research 1991. S. 137-162 und Chris Hann: „Weder nach dem Revolver noch dem Scheckbuch, sondern nach dem Rotstift greifen: Plädoyer eines Ethnologen für die Abschaffung des Kulturbegriffs.“ In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Nr. 1. Jg. 2007. S. 125-147 (inklusive Diskussionsbeiträge).
[8] Hans-Jürgen Heinrichs: „Wer spricht?“ In: kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Nr. 4 (1992). S. 6367.
[9] Hierzu grundlegend: James Clifford: „On ethnographic authority.“ In: Representations. Nr. 2 (1983). S. 118-146, Dick Cushman/George E. Marcus: „Ethnographies as texts.“ In: Annual Review of Anthropology. Nr. 11 (1982). S. 25-69 und, mit signifikanter Verspätung, Clifford Geertz: Works and Lives: The Anthropologist as Author. Stanford: Univ. Press 1988.
[10] Clifford Geertz: The Interpretation of Culture. New York: Basic Books 1973. S. 10.
[11] Vgl. Writing Culture: The Poetics and Politics of Ethnography. Hrsg. von James Clifford/George E. Marcus. Berkeley: Univ. of California Press 1986. Die postmoderne Kritik an den kanonischen Repräsentationsformen in der Ethnologie wird seitdem meistens als Writing Culture-Debatte verhandelt.
[12] Doris Bachmann-Medick: „,Writing Culture‘ – ein Diskurs zwischen Ethnologie und Literaturwissenschaft.“ In: kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Nr. 4 (1992). S. 1-20. Hier S. 10. Siehe hierzu auch dies.: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften. Reinbek: Rowohlt 2007.
[13] Axel Dunker: „Einleitung.“ In: (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie. Hrsg. von dies. Bielefeld: Aisthesis 2005. S. 7-16. Hier S. 7.
[14] Vgl. Edward Said: Orientalism. 25th Anniversary Edition. New York: Vintage Books 2003. S. 20-21.
[15] Ebd. S. 24.
[16] Vgl. Dick Cushman/George E. Marcus: „Ethnographies as texts.“
[17] Eberhard Berg/Martin Fuchs: „Phänomenologie der Differenz. Reflexionsstufen ethnographischer Repräsentation.“ In: Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Hrsg. von dies. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993. S. 11-108. Hier S. 11.
[18] Lila Abu-Lughodh: „Writing against culture.“ S. 140.
[19] Dessen Kulturbegriff des „komplexen Ganzen“ von 1871 immer noch Maßstäbe setzt (nicht immer die besten).
[20] Karl-Heinz Kohl: Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden. München: Beck 1993. S. 127. Es zählt dabei vielleicht gerade zu den Stärken der Ethnologie, dass sie die Solipsismen eines Nigel Barley oder Carlos Castaneda als wissenschaftsgeschichtliche Anekdoten in ihren Kanon integrieren kann.
[21] Vgl. ebd. S. 122-124.
[22] Vgl. James Clifford: „Über ethnographische Allegorie.“ In: Kultur, soziale Praxis, Text. a.a.O. S. 200-239.
[23] Vgl. Karl-Heinz Kohl: Ethnologie. S. 125.
[24] Die Möglichkeiten der polyphonen Repräsentation stoßen naturgemäß an die Grenzen des Mediums Text, doch haben multimediale Arbeiten mit Ton und Film etwa von Ivo Strecker und Jean Lydall zeigen können, dass durchaus substantielle Ethnographien auf diese Weise geschaffen werden können.
[25] Clifford Geertz: The Interpretation of Cultures. S. 14.
[26] Ders.: „Blurred genres: The refiguration of social thought.“ In: Local Knowledge: Further Essays in Interpretive Anthropology. New York: Basic Books 1983. S. 19-35.
[27] Jochen Dubiel: „Manifestationen des ,postkolonialen Blicks‘ in kultureller Hybridität.“ In: (Post-) Kolonialismus und Deutsche Literatur. a.a.O. S. 45-68. Hier S. 57.
[28] Michael Roes: Leeres Viertel. Rub` Al-Khali. Invention über das Spiel. Frankfurt am Main: Eichborn 1996. S. 543. Hier und im Folgenden werde ich in Zitaten die markante Schreibweise von Roes beibehalten.
[29] Ebd. S. 544.
[30] Ebd. S. 717. 31 Ebd. S. 719.
[31] Ebd. S. 224.
[32] Alexander Honold: „Der ethnographische Roman am Ende des 20. Jahrhunderts: Fichte und Roes.“ In: Räume der literarischen Postmoderne. Gender, Performativität, Globalisierung. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Tübingen: Stauffenburg 2000. S. 71-95. Hier S. 74.
[33] Exemplarisch im Eintrag Dob-Gut, Sana`a 17.12, S. 366-368: Hier berichtet der jüdische Lehrer Menasse über die Spiele seiner Jugend. Sein Text erscheint teils in direkter, teils indirekter Rede, ist aber jeweils an den orthographischen Schreibstil des Ethnologen angepasst, während an anderen Stellen im Roman Zitate kenntlich gemacht worden sind. Die Stimmen der Informanten verschmelzen mit der Erzählung des Ethnologen.
[34] Hans-Jürgen Heinrichs: „Michael Roes: Rub` al-Khali. Leeres Viertel. Buchbesprechung.“ In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Nr. 12 (1999). S. 266-272. Hier S. 270.
[35] Michael Roes: Leeres Viertel. S. 225.
[34] So auch der bezeichnende Titel einer Essay-Sammlung von Bruce Chatwin.
[35] Alexander Honold: „Der ethnographische Roman am Ende des 20. Jahrhunderts.“ S. 72.
[36] Michael Roes: Leeres Viertel. S. 319.
[37] Don Kulick: „Introduction. The Sexual Life of Anthropologists: Erotic Subjectivity and Ethnograph ic Work.“ In: Taboo. Sex, Identity and Erotic Subjectivity in Anthropological Fieldwork. Hrsg. von Don Kulick/Margaret Willson. London/New York: Routledge 1996. S. 1-28. Hier S. 2.
[38] Klaus R. Scherpe: „Europas ,rettende Liebe‘? Erfundene Ethnographie von Michael Roes.“ In: [Auslassungen]. Leerstellen als Movens der Kulturwissenschaft. Hrsg. von Natscha Adamowsky/Peter Matussek. Würzburg: Königshausen&Neumann 2004. S. 109-115. Hier S. 109.
[39] Peter Braun/Peter J. Bräunlein/Andrea Lauser: „Der teilnehmende Leser… Erkundungen zwischen Ethnologie und Literatur.“ In: kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Nr. 12 (1999). S. 1-14. Hier S. 12.
[40] Johann Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek: Rowohlt 1987. S. 17f.
[41] Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten. Frankfurt am Main: Campus 1986. S. 27.
[42] Victor Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt am Main: Fischer 1995. S. 180.
[43] Stuart Hall: Ausgewählte Schriften. Bd. 2: Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg: Argument 1994. S. 186.
[44] Doris Bachmann-Medick: „,Writing Culture.‘“S. 9.
[45] Micheal Roes: Leeres Viertel. S. 605.
[46] Ebd. S. 680.
[47] Ebd. S. 424.
[48] Klaus R. Scherpe: „Europas ,rettende Liebe‘?“ S. 113.
[49] Micheal Roes: Leeres Viertel. S. 503.
[50] Ebd. S. 741.
[51] Ebd. S. 743.
[52] Ebd. S. 748.
[53] Herbert Uerlings: „Kolonialer Diskurs und deutsche Literatur. Perspektiven und Probleme.“ In: (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. a.a.O. S. 17-44. Hier S. 32 (Hervorhebungen G.K.).
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