Position und Perspektive: Schirin Kretschmann

Gleich von mehreren Seiten wird von der Wissenschaft über Kunst gesprochen. Die Philosophie meldet sich zu Wort, die Kunstwissenschaften, die Psychoanalyse und so fort. Assoziationen zum Werk werden zu Theoriegebäuden, die sich am Ende eines theoretischen Rundganges vielleicht im Werk eines Künstlers reflektieren. Kann das auch andersherum passieren? Oder folgt die Theorie immer der Praxis? Gibt es einen Einfluss der Wissenschaft auf die Kunst, Implikationen, ein Band zwischen Wissenschaft und Kunst? Uns interessiert an dieser Stelle, wie Sie (wenn Sie das denn tun) sich selbst in diesem (Spannungs-)Feld verorten und wie Sie ganz persönlich den Umgang der Wissenschaft mit der Kunst beschreiben würden.

Schirin Kretschmann (Bildende Künstlerin)

Die 1980 geborene Bildende Künstlerin Schirin Kretschmann lebt und arbeitet in Berlin, Karlsruhe und Basel. Sie studierte Malerei an der Kunstakademie in Karlsruhe und in Mexiko City sowie Germanistik an der Universität Freiburg. In ihrem Arbeitsalltag stellt sie im Kunstkontext aus, vermittelt Projekte anderer Künstler, unterrichtet Kunststudierende und forscht in transdisziplinären Projekten mit Experten aus unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen. Aktuell promoviert sie mit einem künstlerisch-wissenschaftlichen Projekt zum Thema „Grenzbereiche der Malerei im dreidimensionalen Bildraum“ im Rahmen des eikones Graduiertenkollegs an der Universität Basel und des PhD-Studiengangs für Freie Kunst an der Bauhaus Universität Weimar.

http://schirinkretschmann.blogspot.com

kretschmann

Was steht vor den Fragen, die wir aus einer bestimmten disziplinären und kontextgebundenen Perspektive an die Welt richten?

Beim Spazieren in den engen Gassen treffe ich auf eine Baulücke. Dahinter eine perfekt gestrichene hellgelbe Brandwand, 20 m hoch und 10 m breit. Inmitten der Brandwand eine winzige Öffnung, etwa in der Größe eines DIN A4 Papiers, die meinen Blick anzieht. Plötzlich erscheinen zwei Frauen am Dach des Hauses und werfen schnell nacheinander die Einzelteile eines roten Schrankes hinunter. Zackzackzack, die hellgelbe Fläche wird scharf von den herunterfallenden Möbelstücken durchschnitten, bevor diese laut aufprallen und dabei Staub aufwirbeln. Dann Stille. Kurz darauf kommen zwei Jungen aus dem Haus und versuchen, die Reste der Möbelstücke aufzusammeln. Ein Nachbar öffnet das Fenster und ruft ihnen etwas zu. Eine Frau hat die ganze Szene von ihrem Balkon überblickt, winkt mir lachend zu und hängt weiter ihre Wäsche auf.

kretschmann, SK, Kasimir, Ausstellungsraum Klingental - Basel, 2009SK, Kasimir, Ausstellungsraum Klingental – Basel, 2009

Dieses Textstück ist während eines Arbeitsaufenthaltes in Istanbul entstanden. An diesem Tag machte ich einen Spaziergang ohne besonderes Ziel. In Gedanken versunken entdeckte ich plötzlich diese Baulücken-Situation. Da sie mir nicht aus dem Kopf ging, zeichnete ich sie auf. Bis heute begleitet sie meine Arbeit und erinnert mich daran, was vor den Fragen steht, die eine Auseinandersetzung motivieren: der Eindruck eines Phänomens, dem man im eigenen Lebenszusammenhang begegnet und das fasziniert, berührt, irritiert oder ein Staunen erzeugt. Eine Aufmerksamkeit, die durch eine Empfindung erzeugt wird und mit einem temporären Standpunkt verbunden ist. Was mir in dieser Situation zufiel, konnte sich als Eindruck deshalb so prägnant einschreiben, weil es plötzlich wie ein Baustein in ein komplexeres Koordinatensystem passte – die Situation konnte ich nur durch bestimmte Vorzeichen auf diese Weise erfassen. Um sie zu fixieren, war die Textform am adäquatesten, in anderen Fällen notiere ich vorwiegend mit der Videokamera oder dem Fotoapparat, in Form von kleinen Zeichnungen oder Mindmaps. Beim Entwickeln neuer Arbeiten greife ich häufig auf solche Notizen zurück, ihr Informationsgehalt geht während des Arbeitsprozesses jedoch immer in den spezifischen Darstellungsformen auf. Auch wenn die Beschreibung dieser Baulücke bildhaft ist, wirkt das Beschriebene nicht unmittelbar oder symbolisch, vielmehr sind hier Rohdaten aufgezeichnet, die decodiert werden müssen, um den entwickelten Gedanken nachzuvollziehen. Indem sie in einen bestimmten Zusammenhang gestellt sind, wird vermittelt, wie das Band zwischen ihnen geknüpft ist, wie sie angesehen werden sollen. Sehr lange konnte ich nicht so genau fassen, weshalb mich dieser Textschnipsel immer wieder beschäftigt. Inzwischen weiß ich, dass die in Istanbul aufgezeichnete Erfahrung gleichzeitig ein Schlüssel zu der Entstehung und die Wirkungsabsicht meiner künstlerischen Arbeiten ist. Städte wirken für mich choreographisch, indem sie eine körperliche und sinnliche Bewegung in Gang setzen und ihr eine Ordnung verleihen. Dabei kann weder die Erfahrung einer Stadt, noch die eines ästhetischen Raums getrennt werden von dem sozialen und politischen Gewebe, aus dem sie jeweils bestehen. In meine aktuellen Installationen verarbeite ich solche Erfahrungen: Sie bestehen aus einzelnen Elementen, die jedoch über spezifische Eigenschaften eine Verbindung mit anderen Elementen oder Ordnungen aufnehmen und dadurch eine Zirkulation des Blicks motivieren, der eine Ablösung des bildlichen Vokabulars und dessen Transfer zu neuen Erfahrungsmomenten anbietet.

kretschmann SK, Toni, Columbus Art Foundation - Leipzig, 2009SK, Toni, Columbus Art Foundation – Leipzig, 2009

Seit einigen Jahren arbeite ich an einer Malerei, die sich zu allen Dingen des Alltags verhält und mit den Strukturen korreliert, in denen sie entwickelt, vermittelt oder befragt wird. Die Arbeiten lassen sich über die Farbe an die Tradition der Malerei binden, gleichzeitig kommen die Farbträger und Handlungen des Farbauftrags aus meiner Lebenswirklichkeit. Als Farbe konzipierte Medien und Materialien entfalten sich in einer Räumlichkeit jenseits zweidimensionaler Bild träger und entwickeln sich in der Zeit, transformieren sich oder zerfallen. So werden Aspekte in Relation gebracht, die außerhalb einer abgrenzbaren Form liegen: Statisches und Dynamisches, Konstantes und Ephemeres, physisch und psychisch Wahrnehmbares. Was ich als Arbeit bezeichne, ist nicht mit Medium und Material der Farbe identisch, sondern wird erst über ein relationales Gefüge von Erscheinungsweisen begreifbar. Indem die Malerei partiell den medialen und kontextuellen Schutzraum verlässt, über den sie im Verlauf ihrer Geschichte ihre Legitimität zu erhalten versucht, und stattdessen im Realraum erfahrbar wird, setzt sie einmal den ihr angehängten Autonomiestatus aufs Spiel und provoziert zum anderen die Frage, inwieweit eine ästhetische Diskussion auf Artefakte und deren Produktion beschränkt bleiben kann. Vor diesem Hintergrund verzahnen sich eine praktische und eine theoretische Auseinandersetzung mit Malereibegriffen bzw. sind ohne einander nicht denkbar.

kretschmann SK, Polish, Dokustelle - Basel, 2011SK, Polish, Dokustelle – Basel, 2011

Seit zwei Jahren arbeite ich vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung an einem künstlerischen Dissertationsprojekt. Dabei besteht die größte Herausforderung darin, die Relation von sprachlichen und nicht-sprachlichen Arbeitsmedien zu definieren. Um als Kunstschaffende eine eigene Sprache zu entwickeln, reicht es nicht aus, einfach zu schreiben. Die Adressierung an einer Leserschaft über den Sprachduktus spielt hier eine ebenso große Rolle, wie in jeder anderen Schreibpraxis. Schreiben ist eine Kompetenz, die auch auf einer Erfahrung als Leser beruht und die einfordert, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wie in verwandten Bereichen oder über ähnliche Gegenstände geschrieben wird. Meine Themen betreffend sind das ebenso künstlerische und literarische wie kunstwissenschaftliche und philosophische Schreibweisen, die mit disziplinär geprägten Begriffen und konventionalisierter Syntax operieren. In keinem Fall lässt sich pauschalisieren, welche Weisen des sprachlichen Darstellens, Argumentierens und Kritisierens nachvollziehbar sind und einer (künstlerischen) Perspektive auf das Problemfeld angemessen. So lässt sich ein schlüssiger Text letztlich nur über die gewählten, modifizierten oder neugeschaffenen Methoden entwickeln, die in einem Projekt zum Einsatz kommen.

kretschmann SK, Sandpromenade, Marzahner Promenade - Berlin, 2011SK, Sandpromenade, Marzahner Promenade – Berlin, 2011

In der heute fast schon inflationären Diskussion um die künstlerische Forschung wird zentral thematisiert, wie sich Vorgehen und Ergebnisse einer wissenschaftlichen Forschung und einer künstlerischen Recherchearbeit zueinander verhalten, um im nächsten Schritt die Kompetenzen der Künste in neue Kontexte zu stellen und für Innovationsprozesse nutzbar zu machen. Der Versuch, einen künstlerischen Begriff von Forschung zu etablieren, stützt sich auf die Annahme, dass einem künstlerischen Werk seine Kompetenzen und sein Handlungswissen inhärent sind, indem Erkenntnis oder Einsicht in den Prozessen des Hervorbringens und Begreifens des Werks implizit gewonnen werden. Wenn man dies für jede Form der Forschung ernst nimmt, sei sie künstlerisch oder wissenschaftlich, lässt sich die Zuweisung von bildnerischen Darstellungsformen zur Praxis und sprachlichen Begründungszusammenhängen zur Theorie nicht halten. Interessant ist, dass diese Theorie-Praxis-Unterscheidung sich bis heute in den Köpfen hält und die künstlerische, kunstwissenschaftliche und philosophische Arbeit an einer Neubewertung der Theorie-Praxis-Relation spätestens seit den 1920er Jahren nur am Rande Niederschlag findet. Eine so vollzogene Unterscheidung von Theorie und Praxis ist heute aber auch ein sozioökonomisches Instrument, um System- und Disziplingrenzen abzusichern.

kretschmann SK, Tee, Open Space - 43rd ArtSK, Tee, Open Space – 43rd Art

Die gesellschaftliche Einbettung des Künstlers in den Kunstmarkt, der durch Spielregeln zwischen Galerien, Kritikern, Institutionen und Sammlungen am Laufen gehalten wird, trägt zu der Verstärkung des Verdachts bei, dass eine Zuweisung der Theorie zur Wissenschaft und der Praxis zu den Künsten vor allem dazu führt, die Künstler sprachlos zu halten – wenn nicht die sprachliche Äußerung eines Künstlers auf besondere Weise zu dessen Vermarktung beiträgt. Die interessanten Frage hierbei sind, wer sich sprachlich artikulieren darf, wer Bewertungen vornimmt und wie darüber entschieden wird, welche Formen des Experimentierens, des Entdeckens und der Kritik als künstlerisch gelten, und welche nicht.

Die künstlerische Mitarbeit in transdisziplinären Forschungsprojekten ist für mich persönlich eine große Chance, das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft nicht nur in einer Bezugnahme zu sehen, oder als (un-)beabsichtigte Machtkonstellation, sondern im Sinne einer zukunftsgerichteten Zusammenarbeit. Wenn Menschen aus unterschiedlichen persönlichen und fachlichen Erkenntnisinteressen und Methoden an einem Gegenstand arbeiten, können sich Ideen über einen disziplinären Rahmen hinaus erweitern. Werden die Hierarchien flach gehalten, steht jede Perspektive auf einen Gegenstand gleichwertig neben der anderen und kann durch neue inhaltliche und methodische Aspekte inspirieren. Ist keine Disziplin mehrfach vertreten, fördert das die Bereitschaft, eigene Informationen zu einem Pool von Wissen beizutragen, von dem jeder profitieren kann. Eine Kommunikation in Projekten multidisziplinärer Zusammensetzung kann aber nur funktionieren, wenn alle Beteiligten ihren Sprachduktus im Sinne einer gemeinsamen Diskussion anpassen. Eine Vereinfachung der Vermittlungsform durch eine Anpassung an die Lebenswirklichkeit, die viele Menschen kennen und teilen, ist nicht mit einer Einfachheit des Gegenstandes identisch. Vielmehr geht es um das Angebot einer Konstellation von lesbaren Zeichen. So wird ermöglicht, über den herangetragenen individuellen Erfahrungshorizonts Aspekte zur Erscheinung zu bringen, die nie in identischer Art und Weise in die Aufmerksamkeit gerieten.

Abbildungen: Schirin Kretschmann und VG Bild-Kunst Bonn, 2011.

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