State of the Art: Kulturwissenschaft

Zu allen Zeiten gibt es auch in der Wissenschaft Moden: Kernbegriffe, um die sich das akkumulierte Wissen gruppiert, Methoden, mit denen es zu Tage gefördert wird und Paradigmen, hinter die man nicht mehr zurückfallen sollte. Wir fragen an dieser Stelle zwei ProfessorInnen eines Faches nach diesem Stand der Dinge. Die doppelte Perspektive auf die Frage erlaubt es, auch unter Berücksichtigung des individuellen Forschungsschwerpunktes und der fachlichen Ausrichtung, Schnittmenge sichtbar zu machen, die den State of the Art beschreiben.

In dieser Ausgabe schreiben Christian Kassung und Bernd Stiegler.

Christian Kassung, Berlin

Kultur – Wissen – Technik

Grenzüberschreiter wie Georg Simmel, Aby Warburg oder Walter Benjamin steckten bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein Forschungsfeld ab, das sich gegen die „Lehre vom Gebietscharakter der Kunst“ (Benjamin, 1917/18) – und der Wissenschaften – wandte. Ziel dieser ‚ersten‘ Kulturwissenschaftler war es jedoch nicht, bestimmte Disziplinen aufzubrechen, so wie sich dies heute in Instituten, Fakultäten oder Forschungsverbünden niederschlägt, die Kulturwissenschaften im Plural heißen. Vielmehr lag der Fokus auf kulturellen Phänomenen, die per se quer zu den etablierten Disziplinen lagen und deshalb nach einer neuen Wissenschaft verlangten: eben einer Kulturwissenschaft im programmatischen Singular, die mit der bildungsbürgerlichen Tradition des 19. Jahrhunderts einerseits und mit dem humanistischen Kulturverständnis andererseits brach.

In dieser Tradition entstand ein Forschungsansatz, der bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat und v. a. durch zwei Momente charakterisiert werden kann. Zum einen geht Kulturwissenschaft davon aus, dass jede Form von disziplinärer Wissenschaft zwangsläufig mit blinden Flecken operiert, weil sie von der kulturellen Verfasstheit ihrer Gegenstände abstrahiert. Zum anderen impliziert diese kulturelle Verfasstheit der Gegenstände, dass es Kultur im vorfindlich-gegenständlichen Sinne gar nicht gibt. Was Kultur ist, das hängt zwangsläufig von den Fragestellungen ab. In der Konsequenz ist jeder Kulturbegriff selbstreflexiv, und genau das macht die methodische Stärke dieser Disziplin aus. Ohne eine kontinuierliche Reflexion auf die verwendeten Begriffe, Methoden und die durch sie hervorgebrachten Gegenstände kann Kulturwissenschaft als Wissenschaft nicht funktionieren.

Das Fach Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin lässt sich in diesem Sinne nicht durch eine verpflichtende Methode oder einen festen Gegenstandsbereich definieren. Insofern es dem Fach – das seit seiner Gründung 1963 vielfältige und tiefgreifende Wandlungen durchlaufen hat – stets um die Aufrechterhaltung und nicht die Reduktion von Komplexität geht, fällt jeder Versuch einer Standortbestimmung exemplarisch aus. Ich nenne im folgenden zwei analytische Operationen und zwei daraus abgeleitete Gegenstandsfelder, die mir besonders aussagekräftig für die aktuelle Positionierung der Berliner Kulturwissenschaft erscheinen.

Als grenzgängerische Disziplin wahrt Kulturwissenschaft die Komplexität ihrer Gegenstände vor allem durch zwei Operationen: die historische und die materialorientierte Analyse. Weil gerade die Geschichtsvergessenheit zu dem Fehlurteil führt, dass es so etwas wie Kunst im ästhetisch legitimierten Singular und im Gegensatz zu den unüberschaubar pluralisierten und demokratisierten Künsten und Techniken gibt, kann Kulturwissenschaft nur als historische Disziplin funktionieren. Besonders deutlich wird dies im Grenzbezirk zwischen Natur und Kultur, der massiven historischen Transformationen unterworfen ist. Einerseits verändert sich Natur selbst im Prozess der Evolution, andererseits ist Natur dasjenige, was „uns in den kulturellen Formen ihrer Wahrnehmung, Kognition und technischen Stilisierung zugänglich ist.“ (Böhme/Matussek/Müller, 2000)

Die historische Kulturanalyse darf sich nicht auf Diskurse beschränken, und zwar i. w. aus zwei Gründen. Erstens lassen die aktuellen Projekte zur Rhetorik und Poetologie des Wissens zunehmend ein Desiderat erkennen, das man als „Poetologie der Apparate“ bezeichnen könnte. Viele Dinge des technischen Alltags haben zunächst oder niemals anders denn als „Papiermaschine“ (Dotzler, 1996) existiert, oder wir verfügen nurmehr über diskursive Reste dieser Artefakte. Eine Poetologie der Artefakte hätte die Aufgabe, weniger die interdiskursiven Verflechtungen dieser Spuren und Reste nachzuzeichnen als das Netzwerk der materiellen Entlehnungen, Transformationen, Zitate usf. zu rekonstruieren. Zweitens sind „Kulturtechniken […] stets älter als die Begriffe, die aus ihnen generiert werden.“ (Macho, 2003) Vor der Geschichte der Begriffe liegt eine Geschichte der kulturellen Techniken und Praktiken, und diese sind untrennbar verbunden mit den Dingen, die jene Handlungen zu allererst ermöglichen wie zugleich verändern und determinieren.

Innerhalb dieser methodischen Positionierung sind bereits zwei zentrale aktuelle Untersuchungsfelder angedeutet worden: die Geschichte des Wissens und die Geschichte der kulturellen Techniken bzw. Praktiken. Diese greifen notwendig ineinander, weil mit der Aufhebung der Trennung von Kultur und Kunst auch die Trennung von Technik und Wissenschaft hinfällig wird. Anders formuliert: Es gibt eine wesentlich praktische Dimension von Erkenntnis. Wissensgeschichte ist immer auch die Geschichte der mit Erkenntnisprozessen verbundenen kulturellen Praktiken bzw. Kulturtechniken.

Die Geschichte des Wissens kann also nicht losgelöst von den jeweiligen Techniken und Medien untersucht werden, mit denen dieses Wissen verarbeitet wird. Als wesentliche Kulturtechniken fungieren dabei Zeichnen, Schreiben und Rechnen, deren apparative Dimension mit zunehmender historischer Distanz unbewusst wird: Bleistift und Papier waren und sind ebenso technische Medien des Wissens wie Computer oder Magnetresonanztomograph. Und genauso, wie es seit kurzem möglich ist, sonographisch das Gesicht von ungeborenen Kindern abzubilden, sind im Mittelalter bestimmte Rechenoperationen erst auf dem Papier möglich geworden.

Neben Bild, Schrift und Zahl rücken erweiterte Kulturtechniken der Synchronisation zunehmend ins Interesse der Berliner Kulturwissenschaft. Ausgehend von der These, dass Kultur ohne Verständigung auf eine gemeinsame Zeit beispielsweise in Kalendersystemen nicht möglich ist, wird die Synchronisation als gegenseitige Taktung von Waren- und Datenströmen v. a. im 19. Jahrhundert untersucht: Trifft eine Information oder eine Ware nicht zur richtigen Zeit beim Empfänger an, wird sie bedeutungs- oder wertlos. Dass auf der anderen Seite ein Übermaß an Synchronisation jede Kultur zum Erliegen bringen kann, erfährt jeder, der zur ‚falschen Zeit‘ ein Verkehrsmittel benützt.

Christian Kassung ist Professor für Kulturtechniken und Wissensgeschichte an der HumboldtUniversität zu Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Wissens- und Kulturgeschichte der Naturwissenschaften, v.a. der Physik, eine instrumenten- und apparategeschichtlich orientierte Epistemologie sowie die Geschichte und Praxis technischer Medien. Zuletzt ist von ihm erschienen: Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls. Bielefeld: Transcript 2009.

Bernd Stiegler, Konstanz

Kulturwissenschaften oder immer einen turn voraus

Die Kulturwissenschaften haben mit großem Erfolg das Hase und Igel-Spiel praktiziert, bei dem bekanntlich der vermeintlich Schnellere doch zuletzt ins Ziel kommt und der Klügere schon da ist. Es ist ihnen gelungen, die verschiedenen turns, die in den letzten Jahrzehnten zu verzeichnen waren (der linguistic, historic, pictorial, iconic, spatial, visualistic und natürlich der cultural turn, um nur einige unter vielen weiteren zu nennen), jeweils mit einer eigenen programmatische Drehung zu versehen, die es ihnen gestattete, diesen eine neue Gestalt zu geben. Dabei haben diese Neubestimmungen durch den neuen Theoriekontext viel von den ihnen eigenen Aufgeregtheiten verloren und gerade durch den Verbund und die theoretische Nachbarschaft mit anderen Ansätzen eine Solidität erhalten, die in ihrer alten Gestalt nicht selten überpointierten Absetzungsstrategien glich. Die Kulturwissenschaften sind notwendig plural und speisen sich strukturell aus unterschiedlichen Theoriequellen. Während etwa die cultural studies, die man vielleicht als einen Wahlverwandten der Kulturwissenschaften ansehen würde, in recht einseitiger Weise die Kulturkritik ins Zentrum der Theoriebildung gestellt haben, gilt das für Kulturwissenschaften nicht in gleicher Weise. Zwar verdanken sie auch diesen für jene zentralen Theorien von Barthes über Althusser bis Foucault viel, reduzieren sich aber keineswegs auf diese. Dafür ist letztlich die Theorietradition, aus der sie sich eben auch speisen, zu gewichtig und nicht mit einem Handstreich zu verdrängen. Die Kultursoziologie von Simmel über Weber bis Bourdieu, die Kulturphilosophie von Cassirer bis zur Frankfurter Schule, oder auch eine kulturwissenschaftliche Bildwissenschaft, der bereits Aby Warburg ein Profil gegeben hat, sind ein historisches Korrektiv der mitunter heiß wie kontrovers diskutierten Theorien, die vor diesem Hintergrund eine andere Gestalt gewinnen. Auch die ethnologische Tradition, jene der Wissenschaftsgeschichte und last but really not least die Psychoanalyse sind gewichtige Stimmen im Konzert der Kulturwissenschaften.

Will man den Kulturwissenschaften eine einzige Ausrichtung geben, so verfehlt man ihr Programm. Sie sind notwendig polyphon, sind kulturkritisch und nüchtern kulturanalytisch, untersuchen Bilder und Texte, schließen die Medienwissenschaft mit ihren Gegenständen von den Massenmedien bis hin zur Mediengeschichte ein, von der sie wichtige Impulse erhalten, und zählen auch Fragen nach kulturellem Gedächtnis und Erinnerung oder der breit diskutierten Performanz zu ihrem Kernbestand. Entscheidend ist dabei eine doppelte Ausrichtung: Auf der einen Seite sind die Kulturwissenschaften eine historische Disziplin, die gegebene aktuelle Phänomene in ihrer geschichtlichen Dimension analysiert; auf der anderen Seite verstehen sie sich aber auch als Kulturkritik, die gerade durch eine historische Analyse zu entscheidenden Einsichten kommt. Die aktuelle Wirtschaftskrise ist eben auch kulturwissenschaftlich analysierbar und kritisierbar. Betrachtet man die Geschichte der Finanzwirtschaft, so erscheint mit einem Mal das vermeintlich „Alternativlose“ als veränderbare und zu korrigierende Gegebenheit. Auch die immer wieder eruptiv auftauchenden medienkritischen Töne klingen, wenn man sie denn kulturwissenschaftlich betrachtet, anders. Und, um ein letztes Beispiel anzuführen, auch die politischen Thesen eines „clash of civilizations“ sind in der kulturwissenschaftlichen Theorienachbarschaft so nicht mehr zu vertreten. Die Pluralität der Theorien und die historische Dimension der Analysen schlagen in erfreulicher Weise auf die kulturwissenschaftlichen Befunde durch.

Betrachtet man schließlich das weite Feld der Analysen, so wird man unterschiedliche Strategien feststellen: Nicht nur haben die Kulturwissenschaften bisher kaum beachtete Phänomene wissenschaftlich nobilitiert und heuristisch für eine erhellende neue Perspektive auf die Kultur insgesamt genutzt (pars pro toto und von A bis Z: die Akten, der Aufzug, der Zettelkasten und die Zimmerreise), sondern auch eine breit angelegte Kulturtheorie in Angriff genommen, die ausgehend von einzelnen Aspekten zu eigenen umfassenden Theorieentwürfen gelangt ist (wiederum pars pro toto: die Erzählung, das Experiment, die Evidenz, das Recht, die Wahrnehmung).

Die Kulturwissenschaften sind aus dem Bereich der Wissenschaften nicht nur nicht mehr wegzudenken, sie sind schlicht unverzichtbar. Und sie sind in gewisser Weise schon überall: in der Geschichts-, Kunst-, Literatur- oder Medienwissenschaft, in der Philosophie, Soziologie und sogar in den Naturwissenschaften. Und das ist gut so.

Bernd Stiegler ist Professor für Neuere Deutsche Literatur mit Schwerpunkt Literatur des 20. Jahrhunderts im medialen Kontext an der Universität Konstanz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorie und Geschichte der Fotografie sowie die Geschichte der Wahrnehmung. Des Weiteren Deutsche und französische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Zuletzt ist von ihm erschienen: Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina. Frankfurt am Main: S. Fischer 2011.

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