Tatjana Kijaniza: Ein Versuch über das Schweigen zu sprechen. Überlegungen zur Performativität des Schweigens
Schweigen ist eine spezifische Form der Stille, die nur den Menschen eigen ist. Während die Stille jedwede Art von Klängen und Geräuschen umfasst, ist Schweigen nur in Bezug auf Sprache zu denken, oder genauer auf das Medium, durch das die Sprache klanglich ausgedrückt wird – die menschliche Stimme. Schweigen kann eine Teilmenge der Stille sein, allerdings, wo geschwiegen wird, muss es nicht notwendigerweise still sein. Stille und Schweigen bedürfen jedoch einander, um als solche erfahrbar zu sein. Schweigen ist vereinfacht die Abwesenheit der Stimme. Es ist vom Stummsein abzugrenzen, denn Stummheit ist unfreiwillig, während Schweigen einer – bewussten oder unbewussten – Entscheidung bedarf. Dem Schweigen wohnt die Möglichkeit des Sprechens inne: da, wo geschwiegen wird, könnte auch gesprochen werden und vice versa. Vom Verschweigen unterscheidet es sich dadurch, dass jenes auf einen bereits vorhandenen ‚Text‘, einen Inhalt verweist, der aber nicht ausgesprochen wird. Das Verschweigen befindet sich also immer innerhalb der Sprache. Das Schweigen dagegen, so die These, hat trotz der Sprachbezogenheit eine eigene ‚Wesenheit‘, und kann nicht immer in die sprachlichen Zeichen übersetzt werden.
Albert Camus bemerkt in seinem Roman Der Mensch in der Revolte (1982), dass das Schweigen seine Möglichkeit „die einzige widerspruchslose Haltung“[1] zu sein dadurch verspielt hat, dass es seinerseits immer schon etwas bedeutet. Schweigen hat keine Grammatik und keinen materiellen Träger, wie sie die Rede besitzt, dennoch produziert es Bedeutungen. Je nach Kontext kann es als Zustimmung, Verweigerung, Protest, Provokation etc. gedeutet werden. Dem Schweigen haftet ein noch größeres Maß an Mehrdeutigkeit an als der Rede. Es gibt verschiedene Formen und Kategorien des Schweigens: Man kann eine Redepause von einer Auslassung, eine Leerstelle von einem Abbruch der Kommunikation[2] unterscheiden und innerhalb dieser Unterteilung bleibt Schweigen ein spezifischer Modus der Kommunikation.
Man kann damit sinnvolle Informationen verschiedenster Art übertragen: „ich muss Luft holen“, „versuch es selbst zu erraten!“, „ich muss nachdenken“, „ich kann dazu nichts sagen“, „ich will mich nicht äußern“ etc.
Obwohl man mit dem Schweigen sehr viele Informationen übermitteln kann, wird es gemeinhin als negatives Phänomen wahrgenommen: Es ist ein negativer Seinsmodus des Textes, ein ‚Minus-Text‘, Negation der Rede, Entzug, Fehlen der Worte. Wer schweigt – hat nichts zu sagen, will sich nicht mitteilen, ist verschlossen, schüchtern, im gewissen Sinne sogar egoistisch, weil er seine Gedanken nur für sich behält. Mit diesem Essay möchte ich die positive Dimension des Schweigens untersuchen. Unter dieser positiven Dimension verstehe ich nicht die Wiederentdeckung all der positiven Bedeutungen, die Schweigen produzieren kann, sondern jene Dimension des Schweigens, die übrig bleibt, wenn wir sowohl seine negativen Definitionen als auch seine vielfältigen konventionell zugeschriebenen Bedeutungen subtrahieren.
Schweigen jenseits seiner Zeichenhaftigkeit aus einer positiven Perspektive zu denken würde voraussetzen, dass es als eigenständige Erfahrungsform definiert werden kann. Was wir im Bezug auf das Schweigen meistens verschweigen ist seine Erzeugungskraft, seine unmittelbar wahrnehmbare Wirkung. Warum wir lieber über die Bedeutungen des Schweigens sprechen, liegt auf der Hand: Unsere Lebenswelt gebietet uns ständig zu interpretieren, denn der zu ermittelnde Sinn hatte spätestens seit der Neuzeit den Vorrang vor dem bloßen Erscheinen und der Präsenz der Dinge. Wenn wir es, wie der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht treffend bemerkt hat, nicht einmal schaffen, den Sonnenuntergang zu genießen, ohne ihm irgendeine Bedeutung zuschreiben zu wollen, dann gibt es für uns keinen Grund anzunehmen, es gelänge uns, Schweigen gänzlich befreit von seinen semiotischen Implikationen zu betrachten.
Wichtig ist mir hier in erster Linie die Performativität des Schweigens. Die leitende Frage ist, ob Schweigen nicht nur etwas bedeuten, sondern auch etwas tun kann; ob Abwesenheit stimmlicher Äußerungen als Handlung mit einer weltverändernden Wirkung verstanden werden kann. Worüber wir hier nachdenken ist, wie sich Schweigen vollzieht und was dadurch erfahrbar gemacht wird. Im Speziellen werde ich mich dem Schweigen in der theatralen Ästhetik zuwenden, denn das Theater, als Ort des Schweigens und der Erfahrungsgestaltung par excellence, bietet dafür meines Erachtens einen interessanten Kontext, besonders im Bezug auf die Frage, welchen Erfahrungsraum das Schweigen in dem performativen Kontext einer Theateraufführung eröffnet, wenn es selbst performative Qualitäten aufweist.
Geschwiegen haben Menschen zu allen Zeiten und aus verschiedensten Gründen. Beginnen möchte ich da, wo das Schweigen – vielleicht nicht zum ersten Mal, aber auf eine bemerkenswerte Weise – als eigenständiges Phänomen interessant wurde, nämlich im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die industrielle Revolution und die ihr folgenden medientechnischen Entwicklungen – Beschleunigungsprozesse des 19. Jahrhunderts, die mit der Erfindung der Eisenbahn, der Telegrafie und Telefonie einhergingen, die Entmaterialisierung, die sich zum Beispiel in der Erfindung der Elektrizität zeigte – bewirkten eine grundlegende Veränderung der Wahrnehmungskonventionen. Die Lärmproduktion der Maschinen sowie das stetige Vorhandensein der Massenmedien, beispielsweise die ständig begleitende Musik in Café-, Wirts- und Warenhäusern, ermöglichten gerade das dauerhafte Schweigen, nicht aber die Erfahrung der Stille. Die Vermehrung des Außenlärms förderte die Innenstille, das Schweigen, aber je mehr der Raum mit Klängen und Geräuschen gefüllt wurde, umso mehr bedurfte es eines Raumes der Stille, der als solcher erfahrbar war. Und wenn wir unter ästhetischen Erlebnissen diejenigen verstehen, die im Gegensatz zu alltäglichen stehen, die uns Gemütsregungen anbieten, die die Alltagswelt nicht zu bieten vermag, so dürfte es nicht wundern, dass Bildende Kunst, Literatur, Musik ihrerseits auf die Lärmvermehrung mit einem „verstärkten Rekurs auf die Ästhetik des Schweigens“[3] reagierten. Das im Alltag Fehlende – die Stille – wurde in Kunstwerken kompensiert.
Wir haben bereits in der Einleitung bemerkt, dass die Erfahrung der Stille des Schweigens bedarf. Die Vermehrung des Lärms machte das dauerhafte Schweigen möglich und die Erfahrung der Stille notwendig. Eine weitere, im Hinblick auf das Interesse am Schweigen zur Industrialisierung komplementäre, Entwicklung des 19. Jahrhunderts, die Krise des gesprochenen Wortes, machte auch das Schweigen notwendig. Nietzsche diagnostiziert im Jahre 1876 in der Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung die Krankheit der Sprache:
[Ü]berall ist hier die Sprache erkrankt […] so daß sie nun gerade das nicht mehr zu leisten vermag, wessentwegen sie allein da ist: um über die einfachsten Lebensnöte der Leidenden miteinander zu verständigen. Der Mensch kann sich in seiner Not vermöge der Sprache nicht mehr zu erkennen geben, also nicht wahrhaft mitteilen.[4]
Hugo von Hofmannsthal veröffentlicht 1902 in der Berliner Literaturzeitschrift einen Text mit dem Titel „Ein Brief“, in dem der junge Lord Chandos seine Unfähigkeit schildert, über etwas zusammenhängend zu sprechen oder zu denken, denn die abstrakten Worte zerfallen ihm im Munde „wie modrige Pilze“[5] und lassen sich nicht mehr auf etwas Konkretes beziehen. Sprache vermag es nicht mehr, Wahrnehmung und Erkenntnis zu strukturieren und einen Zugang zur Welt zu schaffen. Das ausgehende 19. Jahrhundert ist also durch Skepsis gegenüber dem Wort gekennzeichnet und entlarvt Sprache als ein ungenügendes semiotisches System. Wo die Gewissheit, Erkenntnisse mithilfe der Sprache strukturieren und etwas mit Worten adäquat ausdrücken zu können schwindet, tritt Schweigen in den Vordergrund.[6]
Als „Horizont, vor dem alles Reden sich vollzieht“[7] ist Schweigen in der oralen Kommunikation immer anwesend. Die Pausen, die die Rede rhythmisieren und strukturieren, sind Schweigen und sind auch als solches wahrnehmbar. Dieses Schweigen ist allerdings nur als Begleitelement bzw. als Vorstufe der Rede zu verstehen. Aus dem Alltag kennen wir aber auch eine Reihe von Situationen, in denen wir Schweigen als ‚produktiv‘ erfahren, in denen es bestimmte ‚Anwesenheitseffekte‘ hervorbringt: Das plötzlich aufgetretene Schweigen in einem Dialog wird manchmal als peinlich oder störend wahrgenommen, das Schweigen vor einem Geständnis kann bedrohlich erscheinen, eine Sequenz der Stille in einem Film hat oft spannungserzeugende Wirkung. Man spricht von ‚tiefem‘, ‚andächtigem‘, ‚ehrfürchtigem‘, ‚bleiernem‘, ‚eisigem‘, ‚frostigem‘ Schweigen und verweist mit diesen sprachlichen Ausdrücken auf bestimmte Atmosphären, die durch das Schweigen erzeugt werden. Diese Atmosphäre ist also einerseits durch Absenz (der stimmlichen Äußerungen) gekennzeichnet und andererseits durch Präsenz von „Etwas“, das im und durch das Schweigen spürbar gemacht wird.[7] Wenn Schweigen hervorbringende Kraft haben kann, sollten uns im nächsten Schritt überlegen, was es für Bedingungen sind, unter denen es über ein atmosphärisches Surplus verfügt.
Bei der Beantwortung der Frage, was es heißt, Schweigen als positiv und eigenständig zu denken, kann die Performativitätstheorie helfen. John Austin sorgte mit seinem Aufsatz How to Do Things with Words (1962) für das gesteigerte Interesse am Performativen. In diesem Aufsatz schreibt er den Worten neue weltkonstituierende Funktion zu, darauf hinweisend, dass Sprache nicht nur die Welt beschreibt, sondern dass Worte selbst Handlungen vollziehen, die Welt beeinflussen, in sie eingreifen und sie verändern. Mit Austin tritt die Sprache aus ihrer gewohnten Abbildfunktion heraus und wird wirklichkeitskonstituierend.[8] Eine rein linguistische Performativitätstheorie mit ihren strikten Forderungen nach einer konkreten grammatischen Struktur, dem Tempus einer performativen Äußerung ist auf das Schweigen schwerlich anwendbar, es lassen sich aber einige Ähnlichkeiten zwischen Sprechakten und „Schweigakten“[9] direkt erkennen. Das Schweigen der oben angeführten Beispiele verweist nicht auf einen bereits existierenden Zustand, sondern bringt diesen erst hervor. Genauso verhält es sich mit den performativen Sätzen, wie z.B. „ich verspreche…“, „ich behaupte, dass…“, „ich bitte Sie…“ etc., die die Welt im Moment der Artikulation dieser Sätze konstituieren und beeinflussen. Bei den performativen Sätzen fallen Äußerung und Artikulation zusammen, im Schweigen fallen das „Nicht-Sprechen“ und das „Nicht-Gesagte“ zusammen, der Prozess des Schweigens ist zugleich das Resultat des Schweigens. Dieser Prozess ist flüchtig und nicht fixierbar. Hierin lässt sich der Aufführungscharakter des Schweigens vermuten, denn Aufführung existiert auch nur im und als Prozess. Nachdem der Performativitätsbegriff seinen Eingang in die Theater- und Kulturwissenschaften gefunden hatte, führte er eine Verschiebung der Forschungsperspektive herbei: die Kultur wurde nicht (mehr) als eine Ansammlung von Zeichen und Regeln begriffen, sondern als Agieren, Tun und Hervorbringen. Sie wurde also nicht als eine in Texten und Monumenten manifestierte, sondern als eine in Aufführungen vollzogene verstanden. Es fand also ein Wechsel des Schwerpunktes von Symbolen zur Praxis kultureller Aufführung statt. Bei jeder Aufführung lassen sich zwei Funktionen unterscheiden: die referenzielle und die performative. Einerseits wird in einer Aufführung etwas dargestellt, auf etwas verwiesen und andererseits ist sie als Handlungsvollzug zu begreifen, bei dem Wirklichkeiten im Prozess hervorgebracht werden. Die Performativität einer Aufführung umfasst dabei solche Dimensionen wie Ereignishaftigkeit, Medialität, Interaktion.
Es ist nicht einfach, Beispiele für ein rein performatives Schweigen zu finden. Wie das Theater und andere kulturelle Äußerungen, tritt auch Schweigen meistens als eine Mischung aus Bedeutung und Wirkung in Erscheinung. Dies lässt sich am Beispiel der Schweigeminute verdeutlichen, in der beide Dimensionen vertreten sind: die semiotische (referenzielle) und die performative. Die Stille der Teilnehmenden ist einerseits ein Zeichen: Stille steht für das Fehlende, ist die Darstellung, Inszenierung der Abwesenheit (z.B. der im Krieg gefallenen Soldaten). Das Schweigen kann auch als Zeichen für Anteilnahme gedeutet werden und verweist somit auf etwas außerhalb des Zeichens selbst. Und andererseits ist das Schweigen der Schweigeminute ein Handlungsvollzug mit einer unmittelbaren körperlich erfahrbaren Wirkung: Es stellt nicht nur das Fehlen dar, sondern macht das Fehlen, die Abwesenheit mittels der Abwesenheit der Worte erfahrbar.[10] Hier gibt es kein Zeichen und Bezeichnetes, hier gibt es den Vollzug des Schweigens als einen performativen Akt mit einer bestimmten atmosphärischen Wirkung. Schweigen ist also sowohl semiotisch, sofern es im Kontext bedeutungstragender Prozesse (wie eben der Schweigeminute) auftritt oder zum Gegenstand von Bedeutungszuweisungen wird. Schweigen hat aber auch ein performatives Potention, sofern es als Handlung mit unmittelbarer Wirkung verstanden wird.
In unserer Kultur gibt es mehrere Orte, die traditionell als Orte des Schweigens gelten. Der Theatersaal gehört dazu. Das Schweigen des Publikums kann als Zeichen der Aufmerksamkeit, der Konzentration, vielleicht kontemplativer Betrachtung des Bühnengeschehens gedeutet werden. Wie auch konventionelles Schweigen in Bibliotheken, Kirchen und Konzerthallen, ist das Schweigen des Publikums im Theatersaal eher eine Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung als Objekt der Wahrnehmung selbst. Was passiert aber, wenn das Schweigen zum primären Objekt der Wahrnehmung im Theater wird, indem es auf der Bühne seinen Platz findet? Man sollte beachten, dass aufgrund der besonderen Medialität einer Theateraufführung, nämlich der leiblichen Ko-Präsenz,[11] das Schweigen auf der Bühne keine Leerstelle sein kann, wie es z.B. im literarischen Text möglich wäre. Diese Art von Leere ist im theatralen Kontext nicht möglich, weil jedes Schweigen schon immer mit der Anwesenheit der Körper gefüllt ist.[12] Das Schweigen auf der Bühne muss nicht notwendig einer Figur ‚gehören‘, Schweigen kann als Pause zwischen den Repliken auftreten und auf keine der Figuren zu beziehen sein. Es ist dann kein Werkzeug, kein nonverbales Ausdrucksmittel, sondern eine Figur selbst.[14] Man könnte sagen, dem Schweigen auf der Bühne kommt eigene Präsenz zu. Das Experimentieren mit dem Schweigen und Stille im Theater ist meistens ein Spiel mit der Erwartungshaltung des Publikums. Die Erwartung, auf der Bühne solle etwas geschehen, das Erwarten der Worte, das sich alleine schon in der Bezeichnung ‚Sprechtheater‘ manifestiert, wird durch das Schweigen enttäuscht und in Frage gestellt. Es erscheint als Provokation, wenn man in der Rolle des Zuschauers das Nicht(s)tun beobachten und „Nicht(s)sagen“[13] anhören muss. Wenn auf der Bühne geschwiegen wird, spiegelt sich in diesem Schweigen die Stille des Publikums wieder. Die Stille des Publikums, die normalerweise nicht wahrgenommen wird, wird zum Objekt der Aufmerksamkeit. Die „stimmliche Passivität“ der Bühne lenkt die Aufmerksamkeit auf den Prozess des Hörens an sich, denn die theatrale Stille lässt die Zuschauer sich mit sich selbst konfrontieren, genauer mit dem eigenen Hören, dem in der Abwesenheit der intendierten Geräusche/Laute/Wörter möglicherweise eine neue Qualität zukommt. Indem das ‚Was‘ des Hörens fehlt, überlagert sich das Gewicht auf das ‚Wie‘ des Hörens.
Als Beispiel einer stillen/schweigenden Performance lässt sich die legendäre Komposition 4’33 von John Cage anführen, bei deren Aufführung der Pianist am Klavier sitzt und keinen Ton spielt. Der Titel verweist auf die Dauer der Aufführung. Innerhalb dieser Zeitspanne wird die Geräuschproduktion seitens des Performers unterlassen. Es gibt nichts zu hören als eine Reihe zufälliger Geräusche, die durch das Publikum hervorgebracht werden, aber keinen einzigen von Cage intendierter Laut. Man möchte sagen, es passiere in einer solchen Aufführungssituation Nichts (gemessen an der Erwartung, in einer Performance solle Aktion stattfinden), aber gerade durch dieses ‚Nichts-passierens‘ wird die Unmöglichkeit des ‚Nichts-passierens‘ aufgezeigt, in der ‚komponierten‘ Stille – die Unmöglichkeit der Existenz der Stille. Wenn die Devise der Fotografie und des Films im 19. Jahrhundert ‚Sichtbarmachen des Unsichtbaren‘ war, so kann man Cages Devise in Bezug auf die performati ve Stille als ‚Hörbarmachen des Unhörbaren‘ bezeichnen. Schweigen/Stille ist hier nicht als Abwesenheit, sondern als Anwesenheit von etwas zu begreifen. Und die Besonderheit dieser Performance besteht darin, dass sie ein Versuch ist, „eine Erfahrung zu ermöglichen, statt von einer Erfahrung zu berichten“[14]. In der Erfahrbarkeit des Schweigens liegt seine Performativität.
Wir haben uns am Anfang gefragt, was es für Bedingungen sind, unter denen Schweigen performativ sein kann. Es scheint so zu sein, dass Schweigen seine performative Kraft dann am besten zu entfalten vermag, wenn es als und in der Interaktion auftritt. Natürlich kann ich alleine schweigen und die durch mein eigenes Schweigen verursachte Stille wahrnehmen und erfahren, denn Stille existiert nicht anders, als in der Erfahrung des Wahrnehmenden, sie hat keinen ontologischen Status. Um aber performativ zu werden, bedarf Schweigen einer minimalen Aufführungssituation, der leiblichen Kopräsenz, es bedarf eines Anderen. Wir sollten uns Schweigen als Ereignis vorstellen.
Wenn Austins Sprechakte meinen, dass das Sprechen zugleich auch Handeln sein kann, so könnte, analog dazu, eine „Schweigeakttheorie“ besagen, dass Schweigen auch Handeln sein kann.[15] Nur wenn die Sprechakttheorie eine Frage nach der Materialität des Mediums, nämlich der Materialität der Stimme, aufwarf, so muss eine „Schweigeakttheorie“ wohl eine Frage nach der Materialität der ‚Nicht-Stimme‘, des Entzugs der Stimme aufwerfen.[16] Darin besteht die ungelöste Frage, auf die man bei der Untersuchung des Schweigens stößt. Worin besteht die Materialität des Schweigens, die es weltkonstituierend sein lässt? Wie kann man diese Materialität beschreiben? Eine weitere offene Frage wird von Alice Lagaay in dem Aufsatz How Not to do Things with Nothing präsentiert, nämlich die nach der absoluten Selbstreferenzialität des Schweigens. Gibt es das Schweigen, das auf nichts verweist, nichts bedeutet, nichts sagt und auch nichts tut, sondern wirklich nichts anderes ist, als still? Schweigen, das sich auf nichts anderes als auf das eigene Schweigen bezieht?
Freie Universität Berlin, Wintersemester 2009/2010
[1] Albert Camus: Der Mensch in der Revolte. Reinbek: Rowohlt 1982. S. 11.
[2] Vgl. Arten von Leerstellen im Sprechen bei Alice Lagaay: „How to Do – and Not to Do – Things with Nothing. Zur Frage nach der Performativität des Schweigens.“ In: Performanzen des Nichttuns. Hrsg. von Barbara Gronau/dies.: Wien: Passagen 2008. S. 21-32. Hier S. 25-27.
[3] Winfried Menninghaus: „Lärm und Schweigen. Religion, moderne Kunst und das Zeitalter des Computers.“ In: Merkur. Nr. 6 Jg. 50 (1996). S. 469-479. Hier S. 475.
[4] Friedrich Nietzsche: „Unzeitgemäße Betrachtung.“ In. Werke in drei Bänden. Bd. 1. München: Hanser 1969. S. 135-434. Hier S. 387.
[5] Hugo von Hofmannsthal: „Ein Brief.“ In: Sämtliche Werke. Bd. XXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Frankfurt am Main: Fischer 1991. S. 45-55. Hier S. 48.
[6] Zur „Krise des Sagens“ vgl. Emmanuel Alloa/Alice Lagaay: „Einleitung.“ In: Nicht(s)sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhunderd. Hrsg. von dies. Bielefeld: transcript 2008. S. 7-22. Hier S. 7ff.
[7] Christoph Wulf: „Schweigen.“ In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. von ders. Basel/Weinheim: Belz 1997. S. 1119-1127. Hier S. 1119.
[7] Zur atmosphärischen Wirkung des Schweigens vgl. Claudia Benthien: „Die vanitas der Stimme. Verstummen und Schweigen in bildender Kunst, Literatur, Theater und Ritual.“ In: Stimme.Annäherung an ein Phänomen. Hrsg. von: Doris Kolesch/Sybille Krämer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. S. 237-268. Hier S. 257.
[8] Austin fasst die philosophische Tendenz, Sprache als deskriptiv und somit der Ordnung der Welt zu betrachten unter dem Begriff „descriptive fallacy“ zusammen.
[9] Claudia Benthien: Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des sprachlosen im 17.Jh. München: Fink 2006. S. 251.
[10] Zum Ritual der Schweigeminute vgl. Claudia Benthien: Barockes Schweigen. S. 21.
[11] Vgl. Erika Fischer-Lichte: Theaterwissenschaft. Eine Einführung in die Grundlagen des Fachs. Tübingen: Francke 2010. S. 24.
[12] Vgl. Claudia Benthien: Barockes Schweigen. S. 21.
[14] Vgl. dies.: „Die vanitas der Stimme.“ S. 256.
[13] Emmanuel Alloa/Alice Lagaay: „Einleitung.“
[14] Hans-Friedrich Bormann: Verschwiegene Stille. John Cages performative Ästhetik. München: Fink 2005. S. 103.
[15] Claudia Benthien benutzt den Begriff „Theorie der Schweigeakte“ in: Barockes Schweigen. S. 251. Alice Lagaay spricht von der Notwendigkeit eine „Sprechakttheorie des Schweigens zu entwickeln“ in: „Züge und Entzüge der Stimme in der Philosophie.“ In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München: Fink 2004. S. 293-306. Hier S. 302.
[16] Vgl. ebd.
Bild © Christoph Witt