Anja Bippus: „Like finding a clue in a detective story“. Anmerkungen zum Fotografischen in Michelangelo Antonionis Blow-Up.
Nicht umsonst hat man Aufnahmen von Atget mit denen eines Tatorts verglichen. Aber ist nicht jeder Fleck unserer Städte ein Tatort? Nicht jeder ihrer Passanten ein Täter? Hat nicht der Photograph – Nachfahr der Augurn und Haruspexe – die Schuld auf seinen Bildern aufzudecken und den Schuldigen zu bezeichnen?
Walter Benjamin. „Kleine Geschichte der Photographie.“
Die Bilder des französischen Fotografen Eugène Atget – den Benjamin hier als Ausgangspunkt für seine Erläuterungen nimmt – widmen zunehmend ihre Aufmerksamkeit dem Detail der menschenleeren Pariser Straßen und wurden laut Benjamin der Indizien wegen aufgenommen und wurden somit zu Tatortdokumentationen. Anders als diese zeigen die Fotografien in Michelangelo Antonionis Film Blow-Up tatsächlich Details eines Tatorts in einem Park in London und werden in diesem Sinne zu ‚wirklichen‘ Beweisfotos für einen Mord. Und doch wird keine Schuld aufgedeckt, kein Schuldiger entlarvt. Die ‚Beweismittel‘ verschwinden ebenso wie die Leiche und am Ende der Fotograf selbst, der das Verbrechen auf seinen Bildern entdeckte. Eine Kriminalgeschichte in der nichts aufgeklärt wird und die sich am Ende selbst im Nichts auflöst.
Antonionis Film aus dem Jahre 1966 zeichnet ein Bild der Mod-Kultur in London: Drogen, Partys, eine belanglose, konsumorientierte und oberflächliche Welt, in der die Charaktere in Entfremdung von sich und der Gesellschaft leben und von Eskapismus nach Paris, Nepal oder Marokko träumen. In dieser Welt entdeckt der Protagonist, der Modefotograf Thomas, dass seine Fotografien hinter der von ihm als real empfundenen Wirklichkeit eine zweite Wirklichkeit aufzeigen, die er mit seinen ‚menschlichen‘ Sinnen nicht wahrnehmen kann. In diese, Sinne ist Blow-Up nicht nur eine Darstellung der orientierungslosen Generation der 60er Jahre, sondern vielmehr auch eine Untersuchung des Mediums der Fotografie. Die in diesem Zusammenhang den Film am tiefsten durchdringende Frage ist die nach der Beziehung zwischen Fotografie und Wirklichkeit: inwieweit die Kamera eine andere Wirklichkeit einfängt, als der Fotograf wahrnimmt und folglich ob die Kamera mehr ‚sieht‘ als die Sinne des Menschen. Der Film beschäftigt sich demzufolge mit epistemologischen und ontologischen Fragen, die Fotografie und Wirklichkeit betreffen: Sind Fotografien wahrheitsgetreue Abbilder der Realität, wie dies zu Beginn der Erfindung der Fotografie impliziert wurde? Oder sind sie nicht vielmehr als flüchtige Spuren der Realität zu interpretieren? Wie nehmen wir Menschen etwas als wirklich/real wahr? Und wie verhalten sich Fotografie und Narration (Film) zueinander? Um auf diese Fragestellungen eine Antwort zu finden, muss unvermeidlich erst einmal die Rolle des Fotografen untersucht werden, wie er sich und seine Welt wahrnimmt und in welchem Zusammenhang er zu seinem Instrument, der Kamera, steht. Dazu, ebenso wie zur Untersuchung des Wesens der Fotografie, werden in diesem Essay ältere und neuere fotografietheoretische Ansätze von Walter Benjamin, Susan Sontag, Rudolf Arnheim, André Bazin, Pierre Bourdieu und Jean Baudrillard verwendet und auch in ihren teils unterschiedlichen Aussagen gegenübergestellt.
Das Wesen des Fotografen
Die Welt, in der der im Film dargestellte Fotograf Thomas lebt und arbeitet, ist zunächst eine Welt der Oberfläche, des Aussehens und der Selbstdarstellung. In der Modeindustrie geht es primär darum, Produkte (in dem Fall Kleidung) zu verkaufen; durch die Fotografien soll daher ein Begehren im Kunden erweckt werden, entweder durch situative Darstellungen, in die sich der Kunde hineinversetzen kann, oder einfach durch die Übermittlung eines bestimmten Gefühls, das der Kunde dann mit der Modemarke und ihren Produkten in Verbindung bringt.
Für Thomas selbst sind diese Modefotografien jedoch, wie er selbst sagt, nur Mittel zum Zweck, schnell verdientes Geld. Es zeigt sich, dass Thomas gelangweilt ist von der Branche, er schaut auf die Models herab, bezeichnet sie als dumm und verabscheut sie. Seine vorübergehende Passion oder vielmehr eine Ablenkung scheinen die dokumentarischen Fotografien zu sein, die zum Beispiel in dem Obdachlosenasyl entstehen und die Armut und Gewalt der englischen Gesellschaft aufzeigen. Doch auch hier offenbart sich, dass der Blick des Fotografen einzig darauf liegt, ob die Fotografien ästhetisch sind und seine gewollte Intention hervorbringen. Als Thomas und ein Freund die entwickelten Bilder aus dem Obdachlosenasyl betrachten, entfernt von den dargestellten Personen und ihrem Schicksal, scheinen sie nur auf die künstlerische Qualität zu achten: „They′re great.“[1] Die dargestellten Personen sind ausnahmslos dem Zweck unterworfen, den der Fotograf ihnen zuschreibt. Hier werden die vom Leben gezeichneten und von Armut geprägten Menschen benutzt, um ‚künstlerische‘ Fotografien zu erzielen. Fotografie wird somit als Instrument der Macht gesehen, mit dem sich der Fotograf über seine fotografierten Objekte stellt und sie zu seinen Zwecken ausnutzt. In dem Sinne unterscheiden sich die Modefotografien nicht sehr von den dokumentarischen Bildern der Londoner Unterschichten. Susan Sontag bemerkt dazu:
Bilder, die idealisieren (wie ein Großteil der Mode- und Tierfotos), sind nicht weniger aggressiv als solche, die aus der Anspruchslosigkeit eine Tugend machen (wie Klassenbilder, simple Stilleben und Verbrecherfotos). Jedem Zücken der Kamera wohnt Aggressivität inne.[2]
Dieser Gedanke des Fotografierens als aggressive Besitzergreifung und Aneignung eines Objekts, wie es Rudolf Arnheim[3] und Susan Sontag[4] in ihren Texten zur Fotografie beschreiben, zeigt sich auch schon im Grundcharakter der Figur Thomas. Er erscheint als ein egoistischer, gebieterischer und tyrannischer Mensch, der sich vor allem über seine Kamera definiert und sich allein durch sie in der Welt zurechtfindet. Die Kamera hilft ihm, sich über die Menschen zu stellen, auf sie herunter zu schauen und sie als ‚tote Objekte‘ zu sehen, über die er Macht ausüben kann; in dem Sinne ermöglicht die Kamera dem Fotografen, sich einen Platz in der Welt zu verschaffen, in der er sich eigentlich unsicher und verloren fühlt, sowie Besitz von ihr zu ergreifen.[5] Ähnlich verhält sich die Beziehung zwischen Mensch und Konsumobjekt in der Postmoderne, wie sich im Laufe des Films zeigen wird: Die Charaktere wollen urplötzlich und unbedingt Objekte besitzen, sich diese aneignen; gleich darauf jedoch erscheinen dieselben Objekte wieder als wertlos und werden weggeworfen. Allein das Gefühl des Besitzens ist wichtig, sobald dies erreicht wird, verliert das Objekt seinen ‚Nutzen‘.
Dieser Drang zur Besitzergreifung zeigt sich bereits in einer der ersten Szenen des Films, in der Thomas ein weibliches Model in seinem Studio fotografiert. Der fotografische Akt wird hier dem sexuellen Akt gleichgesetzt. Thomas erregt das auf dem Rücken liegende Model durch Berührungen und Küsse und simuliert in gewisser Weise durch das Fotografieren den Geschlechtsakt mit ihr bis zu dem Punkt orgasmischer Erlösung, um dann nach seinem erlebten ‚Höhepunkt‘ völlig gleichgültig und kühl von ihr abzulassen, während sie unbefriedigt am Boden liegen bleibt. Er hat erreicht was er wollte, seine Begierde ist gestillt: Er hat ‚gute‘ Fotografien gemacht, in denen die männlichen Betrachter später imaginär in dieselbe Position gebracht werden, die er als Fotograf einnahm und ihnen so eine Realität vorgespielt wird, die allein auf Vortäuschungen aufbaut. Der Fotograf hat hier buchstäblich von seinem Objekt Besitz ergriffen und es zu seinen Zwecken ausgenutzt. In einer anderen Szene, in der zwei junge Frauen von Thomas fotografiert werden wollen und so wohl auf eine Karriere als Model hoffen, entsteht anstatt des fotografischen Akts eine sexuell aufgeladene Rangelei zwischen den dreien. Erneut lässt er, nachdem seine Bedürfnisse befriedigt wurden oder er die Lust verliert, die Frauen links liegen und befiehlt ihnen zu verschwinden, wobei diese jedoch ihr Ziel nicht erreicht haben, nämlich sich fotografieren zu lassen.
Ebenso wie die Kamera als Phallussymbol gesehen wird, so wird sie auch oft mit einem Gewehr verglichen, was durch Formulierungen unverhohlen angedeutet wird, „wenn wir davon sprechen, dass wir die Kamera ‚laden‘ und ‚zücken‘ und ein Bild ‚schießen‘“[4]. Der Fotograf wird folglich zum Jäger, „der stolz darauf ist, sich unbemerkt anpirschen und das Leben in seiner Spontaneität einfangen zu können“[5]. Auch Thomas’ Versuch das Liebespaar im Park zu fotografieren, wird als Jagdgeste des Anpirschens inszeniert: Erst versteckt er sich hinter einem Zaun direkt vor einer Hecke, um so unbemerkt Fotografien des Liebespaares zu ‚schießen‘, dann, als sich die beiden von ihm wegbewegen, folgt er ihnen, indem er sich von Baum zu Baum weiterbewegt, immer bedacht, von seinen Opfern nicht entdeckt zu werden, um so unbehelligt die Szene in ihrer vollen Spontaneität und Lebensechtheit einfangen zu können. Auch hier wird dem Zuschauer wieder die Selbstempfindung von Thomas bewusst: Die junge Frau, erschrocken, dass er Bilder von ihr und ihrem Liebhaber gemacht hat, verlangt eine Erklärung sowie die Herausgabe des Films. Thomas jedoch fühlt sich über alles und jeden erhaben; er nutzt die Menschen für seine Zwecke aus, mit der Rechtfertigung, dass er doch nur seine Arbeit mache und ‚nur‘ ein Fotograf sei. Den Vergleich seiner Arbeit mit der eines Politikers und Stierkämpfers weist auf die Aggression hin, die einer Kamera innewohnt und die auch bei diesen beiden Berufen von Bedeutung ist.
Dem Verbrechen auf der Spur, oder: die Suche nach der Wirklichkeit
In Blow-Up zeigt sich, dass der Fotograf als wachsamer Jäger, der eine augenblickliche Erscheinung einfängt[6] und mit der Kamera festhält, oder vielmehr seine eigene visuelle Wahrnehmung, fehlbar ist: Thomas sieht zwar durch die Kamera auf die Objekte, aber er sieht nicht das, was die Kamera sieht. Als er sich nach dem Erlebnis im Park mit seinem Freund Ron trifft, erwähnt er die Bilder, die dort entstanden sind und schlägt vor, diese an das Ende des geplanten Fotobands über Obdachlose zu stellen, da sie sich seiner Meinung nach, aufgrund ihrer schönen, friedlichen Idylle, im Kontrast zu den eher schwermütigen und düsteren Bildern perfekt als Schluss eignen. Thomas nimmt somit an, dass die Bilder seine Intention widerspiegeln. Das, was er im Park suchte, friedliche, schöne und unbeschwerte Motive, glaubt er, in den Fotografien festgehalten zu haben. Die von ihm erfahrene Wirklichkeit steht folglich in engem Zusammenhang mit seiner vorausgehenden Intention. Als Modefotograf ist er gewohnt, seine gesehene, intendierte und somit ‚wahre‘ Wirklichkeit in den Fotografien wiederzufinden. Doch anders als seine Modefotografien, die genau das wiedergeben, was er in ihnen zum Ausdruck bringen will, zeigen die Fotografien aus dem Park eine andere, zweite Wirklichkeit auf. Sie sind nicht nur Oberfläche, sondern besitzen mehrere Schichten von Realität, wie auch Antonioni in einem Kommentar zu seinem Film bemerkt:
We know that below the revealed image there is another more faithful to reality, and beneath this still another, and once more another. Up to the true image of reality itself, absolute, mysterious, which no one will ever see.[7]
In diesem Sinne sind Fotografien auch nur als „Bruchstücke der Welt“ zu verstehen, als „Miniaturen der Realität“.[8] Sie zeigen einen schmalen Ausschnitt von Raum und Zeit und können so die Realität nie ganz wiedergeben, sondern sind im Gegenteil nur Fragmente der Realität, die sich im Bild übereinander schichten. Und trotzdem gelten sie seit Beginn der Fotografie als unwiderlegbarer Beweis dafür, dass ein Ereignis stattgefunden hat und somit (fälschlicherweise) als wahrheitsgetreues Abbild der Wirklichkeit. André Bazin bemerkt: „Das ästhetische Wirkungsvermögen der Photographie liegt in der Enthüllung des Wirklichen.“[9] Doch hier stellt sich gleich die Frage, welche Wirklichkeit enthüllt wird und wie sich Wirklichkeit konstituiert?
Pierre Bourdieus These, dass die Fotografie nur einen willkürlich gewählten Aspekt der Realität festhält und somit nie das Ganze an sich,[10] greift vor allem als Beschreibung zum Wesen der Fotografie. Doch auch hier wird die Frage aufgeworfen, wer den Aspekt der Realität gewählt hat: der Fotograf, die Kamera oder das Modell? Thomas wählt eine vermeintlich friedliche und ruhige Szene, die er anhand seiner Sinne so als ‚Wirklichkeit‘ wahrnimmt, erstellt aber letztendlich Fotografien, die ihm einen – seiner ersten Meinung nach nur versuchten – Mord aufzeigen. Der Fotograf scheint somit in diesem Fall keinen Einfluss auf die Wirkung und die festgehaltene Realität in seinen Bildern zu haben, sondern er ist der ‚Sicht‘ der Kamera unterworfen. Diese ist folglich ein Instrument, das Situationen der Welt wiedergibt und festhält, die sonst aufgrund ihres flüchtigen Charakters oder aufgrund der Unachtsamkeit der beobachtenden Person (in dem Fall Thomas) gar nicht wahrgenommen werden würden. Daraus folgt die These, dass die Kamera eine größere Wahrnehmung besitzt als die menschlichen Sinne und der Betrachter in den Fotografien immer etwas neu entdecken kann, was er so in der Realität nicht gesehen hat oder hätte sehen können. Benjamin beschreibt dies als das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, […] [dass der Betrachter im Bild sucht], mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchsegnet hat; die unscheinbare Stelle […] , in welcher, im Sosein jener längstvergangenen Minute das Künftige noch heut und so beredt nistet, daß wir, rückblickend, es entdecken können.[11]
Und weiter: „An die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums [tritt] ein unbewußt durchwirkter.“[12] Auch Bourdieu bezeichnet die Fotografie als das Mittel, welches „die Wirklichkeit der alltäglichen Wahrnehmung in eine unendliche Vielfalt flüchtiger Ansichten [auflöst], […] [die] ihrer Flüchtigkeit wegen im Grunde gar nicht wahrgenommen werden können“[13]. Somit kann das „Optisch-Unbewusste“ dem Menschen durch die Fotografie bewusst gemacht werden. In unserem Fall ist es ein Mord, der sich dem Betrachter durch die Fotografie und ihre Hilfsmittel erschließt.
Fotografien sind ihrem indexikalischen Wesen nach Abdrücke, Spuren des Wirklichen und in diesem Sinne auch Interpretationen der Welt. Wie Spuren in einer Kriminalgeschichte erst von einem Detektiv interpretiert werden müssen, um das Gesamtbild zu erkennen, so müssen auch Fotografien vom Betrachter erst ihre Bedeutung zugewiesen bekommen. Angeregt durch das seltsame Verhalten der jungen Frau aus dem Park, entwickelt Thomas die Fotografien und versucht, sie in einen Zusammenhang zu bringen und sie dadurch mit Bedeutung aufzuladen. Dabei stellt Thomas die Bilder in eine narrative Abfolge, um besser zu verstehen, was genau er fotografiert hat. Es entwickelt sich vor seinen Augen, ebenso wie vor den Augen des Zuschauers, eine Art fortlaufende Geschichte; in gewissem Sinne kreiert Thomas hier durch die Aneinanderreihung von Fotografien seinen eigenen kleinen Film im Film, der dann auch für den Zuschauer mit Hintergrundgeräuschen aus dem Park (Rauschen der Bäume) hinterlegt wird. Das Prinzip, mit dem Thomas vorgeht, gleicht dem der Montage bei einem richtigen Film, bei der verschiedene kurze Filmaufnahmen zu einer sinnvollen Abfolge zusammengefügt werden. Nur durch diese Aneinanderreihung der Bilder wird Thomas auf gewisse Details aufmerksam und kann so rekonstruieren, was passiert ist. Die Lesbarkeit eines Bildes hängt demnach entscheidend von seiner Beziehung zu anderen Bildern und seinem zeitlichen Kontext ab, wie auch Sontag und Arnheim argumentieren.[14] Angeregt durch den Gesichtsausdruck der jungen Frau und ihre Kopfhaltung auf einem der Bilder, entdeckt Thomas dann in der Vergrößerung eines Bildausschnitts einen Mann, der mit einer Waffe auf das angebliche Liebespaar zielt. Im ersten Moment ist Thomas noch in seiner gewohnten und gewissermaßen auch naiven Haltung gefangen, dass er als Fotograf Macht über andere besitzt und so Einfluss auf die Wirklichkeit nehmen kann. Er ruft begeistert seinen Freund Ron an und schildert ihm die Begebenheit in dem Glauben, durch seine Anwesenheit als Fotograf einen Mord verhindert zu haben: „Ron! Something fantastic′s happened. Those photographs in the park. Fantastic! Somebody was trying to kill somebody else. I saved his life.“17
Wieder kann Bourdieu zitiert werden, laut dem „das Sichtbare stets nur das Lesbare ist“[15]. Thomas will glauben, dass er als Fotograf Macht über Dinge besitzt, weshalb er vorschnell zu der Einschätzung kommt, ein Verbrechen verhindert zu haben. Er liest das Bild immer noch geblendet von seinen Vorstellungen. Für den Zuschauer ist die Leiche schon beim Abspielen der narrativen Abfolge der Bilder zu sehen, sie liegt zu den Füßen der jungen Frau; Thomas ist geblendet durch seine Aufregung über die Annahme, dass er einen Mord verhindert hat. Erst später, nachdem er von den zwei jungen Frauen abgelenkt wurde, macht ihn wiederum ein Detail in einem der Bilder stutzig. Durch weitere Vergrößerungen entdeckt er schließlich etwas, das wie eine Leiche aussieht und seine erste Überzeugung einen Mord verhindert zu haben, weicht dem Schock der Gewissheit, in seinen Fotografien einen Mord dokumentiert zu haben. Um sich seiner Interpretation der Bilder zu vergewissern, fährt Thomas noch am selben Abend in den Park und findet tatsächlich die Leiche, wird jedoch durch unheimliche Geräusche, die die Stille des Parks durchdringen, verschreckt. Zurück in seinem Studio merkt er, dass sämtliche Fotografien gestohlen sind; alle außer dem Detail, das die Leiche zeigt. Doch allein ist auch dieses nicht mehr interpretierbar und somit als ‚Beweis‘ für einen Mord nicht haltbar. In der Hochauflösung sind nur noch schemenhaft Dinge zu erkennen, das Gesamtbild wird in die Summe seiner Einzelheiten aufgelöst und verflüchtigt sich in der, durch die zahlreichen Vergrößerungen entstehenden, Körnung aus schwarzen und weißen Punkten. Ohne den Bezug zu den restlichen Fotografien und somit ohne die Einreihung in einen Kontext kann ein Unbeteiligter (in dem Fall Patricia, die Freundin seines Freundes und Malers Bill) das im Bild Gezeigte nicht mehr als Leiche erkennen, sondern nimmt es dementsprechend anders wahr. Für Patricia erscheint das Detailfoto der Leiche eher wie eine abstrakte Malerei ihres Freundes Bill.
Seine abstrakten Bilder hatte Bill an einer vorigen Stelle im Film wie folgt bezeichnet: „They don′t mean anything when I do them. Just a mess. Afterwards, I find something to hang on to […]. Then it sorts itself out and adds up. It′s like finding a clue in a detective story.“[16] Erst nach langer Betrachtung und intensiver Studie wird man auf ein Detail aufmerksam, wobei dies auch immer ein subjektiver Vorgang ist und eine starke Auseinandersetzung mit dem Bild voraussetzt. Vor allem ist dies, wie Bill impliziert, auch dem Maler und somit Schöpfer des Bilder vorbehalten. Als Betrachter kann man in einem abstrakten Bild zwar auch eigene Spuren entdecken und interpretieren, aber die Wahrheit, die wirkliche ‚Intention‘ bleibt einem für immer verborgen. Ebenso wie eine Fotografie an sich schon ein „nicht greifbares Rätsel“ ist, wie Jean Baudrillard ausführt:
Jeder fotografierte Gegenstand ist nur die Spur, die das Verschwinden alles übrigen hinterlassen hat. Es ist ein nahezu perfektes Verbrechen, eine nahezu vollständige Auflösung der Welt, die nichts als den Schein eines solchen Gegenstandes erstrahlen läßt, aus dem das Foto dann – in Abwesenheit des Rests der Welt, abgetrennt vom Rest der Welt – ein nicht greifbares Rätsel macht.[17]
Das Abstrakte in der Fotografie resultiert demnach aus ihrer Trennung von der ‚wirklichen‘ Welt; Fotos geben eine Wirklichkeit wieder, die zwar unserer ‚realen‘ Wirklichkeit ähnelt, jedoch durch die zeitliche und örtliche Verschiebung eine fundamental andere ist.
„Das Fotografieren hat eine chronisch voyeuristische Beziehung zur Welt geschaffen, die die Bedeutung aller Ereignisse einebnet“, so Sontag.[18] Tatsächlich ist der Mord für Thomas nicht schockierender als seine Fotografien der Obdachlosen oder gar seine Modefotografien. Diese Einebnung der Ereignisse kann man jedoch nicht nur auf die Fotografien beziehen, sondern als eine allgemeine Erscheinung sehen, die sich durch den gesamten Film zieht, und die eine postmoderne Gesellschaft per se widerspiegelt, in der sich der Wert aller Vorgänge und Dinge nivelliert zu haben scheint: Das Model, das Thomas zu Beginn des Filmes fotografiert und das unbedingt einen Flieger nach Paris erwischen muss, trifft er später auf einer Party bei seinem Freund Ron wieder. Auf die Frage, warum sie denn nicht in Paris sei, antwortet sie ihm: „I am in Paris.“[19] Für sie haben sich die Orte einander angeglichen, sie unterscheiden sich nicht mehr voneinander; Paris gleicht London und umgekehrt. Ebenso löst ein unbrauchbarer Propeller in Thomas die gleiche Begeisterung aus wie ein abgebrochener Gitarrenhals bei einem Konzert der Rockband „The Yardbirds“. Als er den Propeller dann jedoch in sein Studio geliefert bekommt, scheint er nicht zu wissen, was er mit ihm anfangen soll. Genauso verhält es sich mit dem Gitarrenhals, der, auf offener Straße betrachtet, seinen Wert wieder verliert und weggeschmissen wird. Scheinbar unbrauchbare Objekte werden urplötzlich mit Wert aufgeladen, verlieren jedoch genauso schnell wieder an Bedeutung, sobald sie in einen anderen Kontext gestellt werden. Für kurze Zeit werden diese Objekte wie Fotografien, zu Fetischen, um dann wieder in Nichtbeachtung zu versinken. So verliert auch das Detailfoto der Leiche an Bedeutung für Thomas, als er merkt, dass es ihm nicht mehr dazu dient, seine Theorie des Mordes zu untermauern; nicht nur aufgrund des Verschwindens der anderen Fotografien und somit dem Verlust seines Kontextes, sondern auch weil der Referent auf den das Foto als Index hinweist, nämlich die Leiche selbst, verschwunden ist.
In diesem Sinne wird im Film jede endgültige Bedeutung und Interpretation der Wirklichkeit negiert, da diese sich konstant verändert und ins Gegenteil umkehrt, so wie auch der mysteriöse Mordfall, den Thomas glaubte, auf seinen Fotografien entdeckt zu haben, sich schließlich im Nichts auflöst.
… und die Moral?
Letztendlich wirft Blow-Up auch die Frage nach der gesellschaftlichen und moralischen Verantwortung des Fotografen auf, wie schon Benjamin dem Fotografen die Aufgabe zuwies „die Schuld auf seinen Bildern aufzudecken und den Schuldigen zu bezeichnen“[20]. Thomas geht es jedoch von Anfang an primär nicht darum, dass dieser Mord begangen wurde oder warum und folglich darum, den Schuldigen zu finden. Was ihn erschüttert, ist die unmittelbare Erkenntnis, dass die Wirklichkeit in den Bildern sich als eine andere herausstellt, als die, die er als Mensch hinter der Kamera wahrgenommen hatte. Zudem schockiert ihn die Tatsache, dass seine Weltanschauung, in der er sich als Fotograf über allem erhaben sah und durch seine Kamera die Macht hatte, in das Geschehen einzugreifen, zusammenbricht. Demnach interessiert es ihn auch nicht, wer die Leiche ist, für ihn bleibt es einfach „irgendjemand“.
Es scheint, als ob Eingreifen und gleichzeitiges Dokumentieren und Aufzeichnen nicht möglich sei. Tatsächlich wird die Fotografie ihrem Wesen nach als Akt der Nicht-Einmischung gesehen; trotzdem oder gerade deshalb macht sich der Fotograf mitschuldig an dem, was er fotografiert. Es ist eine Form der Teilnahme, „[ä]hnlich dem sexuellen Voyeurismus […] eine Form der Zustimmung“[21]. Auch Arnheim charakterisiert den Fotografen zugleich als „Beobachter, Augenzeuge und Mithandelnder“ dessen, was er fotografiert: Er steht „kaltblütig und unbeteiligt“[22] hinter der Apparatur und Bourdieu schreibt dem Fotografen eine moralische Mitschuld zu, da er durch das Fotografieren, das billigt, was seine Fotografien zeigen.[23] Doch was passiert, wenn der Fotograf das Verbrechen, das vor der Kamera begangen wurde, erst hinterher bemerkt? In dem Fall wäre seine moralische Verpflichtung wie die eines jeden Bürgers, den Fall der Polizei zu melden, spätestens dann als er die wirkliche Leiche im Park findet. Thomas hingegen ist kein ‚normaler Bürger‘, er ist Fotograf und entsprechend sieht er sich „jenseits von Gut und Böse“[24]. Folglich fühlt er sich nicht verpflichtet, das Geschehene zu melden. Zudem besteht die Kommunikation mit der Welt allein aus den Fotografien, die er macht. So ist auch seine erste Reaktion, als er die Leiche real im Park liegen sieht, der Gedanke sie fotografieren zu müssen. Als die Leiche und die Fotografien verschwunden sind und nichts weiter übrig bleibt als das eine Detailfoto, auf dem jedoch ein Unbeteiligter alles und nichts erkennen könnte, ist ihm jede Möglichkeit verwehrt, seine Beobachtungen jemand anderem mitzuteilen. Genauso gut könnte er sich das Ganze eingebildet haben.
Postscriptum
Es hat sich gezeigt, dass der Fotograf in seinem Wesen als egoistisch, erhaben und kaltblütig dargestellt wird; für ihn sind die Objekte, die er in seinen Fotografien ablichtet nur Mittel zum Zweck. Er möchte gute, künstlerische Fotografien herstellen und benutzt dazu die Personen vor der Kamera, oder vielmehr: Er nutzt sie aus. Doch wie Thomas im Film lernen muss, stimmen die Intention des Fotografen und die dargestellte Wirklichkeit im Bild nicht unbedingt überein. Die Kamera besitzt ihre eigene Sicht der Dinge und der Fotograf kann, da er der Apparatur unterworfen ist, nur begrenzt Einfluss darauf nehmen. So ist es schwierig, die Beziehung zwischen Wirklichkeit und Fotografie genau zu definieren. Nur so viel kann gesagt werden: eine Fotografie, und folglich die Wirklichkeit, wie sie von der Kamera aufgezeichnet wird, verbirgt stets mehr als das sie enthüllt.[25] Obwohl Thomas die Indizien in seinen Bildern entdeckt und als Beweis seiner Interpretation die Leiche in natura sieht, kann er die Wirklichkeit dennoch nicht ganz durchdringen und nie verstehen, was wirklich passiert ist. Auch trotz der Narration, in die er die Fotografien stellt, ist es ihm unmöglich, den gesamten zeitlichen Kontext und Ablauf des Geschehenen zu rekonstruieren, genauso, wie er die Motive und Hintergründe des Verbrechens nie erfahren wird. So ist auch Antonionis Film Blow-Up (ebenso eine narrative Abfolge von Bildern) nur ein fragmentarischer Versuch, das Wesen der Fotografie sowie das Wesen der Wirklichkeit an sich darzustellen. Wie auch eine Fotografie unfähig ist, ein Gesamtbild zu erstellen und uns die Welt zu erklären, so ist auch ein Film nicht besser in der Lage, dies zu tun. Und wenn Thomas am Ende aus dem Bild verschwindet, scheint mir doch stärker als zuvor eine Aussage über die Wirklichkeit abgegeben worden zu sein: Diese ist in ihrem Wesen veränderlich und wechselhaft. Was uns als wahr erscheint, was uns Fotografien und bewegte Bilder als Wirklichkeit präsentieren und inszenieren, beziehungsweise was wir in ihnen zu sehen glauben, stellt sich im nächsten Moment als Illusion heraus und die Welt, über die wir aufgrund von Fotografien Bescheid zu wissen meinen, entzieht sich uns in jedem Moment neu und kann nie in ihrer Gesamtheit verstanden werden. Oder, um mit Brecht zu enden: „Die Lage wird dadurch kompliziert, dass weniger denn je eine einfache Wiedergabe der Realität etwas über Realität aussagt.“[26]
Universität Siegen, Sommersemester 2009
[1] Michelangelo Antonioni: Blow-Up. DVD-Video. Turner Entertainment Co. 1966. TC 00:35:45.
[2] Susan Sontag: „In Platos Höhle.“ In: Dies.: Über Fotografie. Frankfurt am Main: Fischer 1980. S. 9-30. Hier S. 13.
[3] Vgl. Rudolf Arnheim: „Über das Wesen der Photographie.“ In: Ders.: Die Seele in der Silberschicht: Medientheoretische Texte. Photographie – Film – Rundfunk. Hrsg. von Helmut H. Diederichs. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. S. 20-35.
[4] Vgl. Susan Sontag: „In Platos Höhle.“
[5] Vgl. ebd. S. 15.
[4] Ebd. S. 19.
[5] Rudolf Arnheim: „Über das Wesen der Photographie.“ S. 24.
[6] Vgl. ebd.
[7] Zitiert nach: David Boyd: Film and the Interpretive Process: A Study of Blow-Up, Rashomon, Citizen Kane, 8 ½, Vertigo and Persona. New York: Peter Lang 1989. S. 19.
[8] Susan Sontag: „In Platos Höhle.“ S. 10.
[9] André Bazin: „Ontologie des photographischen Bildes.“ In: Ders.: Was ist Film? Berlin: Alexander Verlag 2002. S. 33-42. Hier S. 39.
[10] Vgl. Pierre Bourdieu: „Die gesellschaftliche Definition der Photographie.“ In: Ders. et al.: Eine illegitime Kunst: Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2006. S. 85-109. Hier S. 85: „In Wirklichkeit hält die Photographie einen Aspekt der Realität fest, d.h. das Ergebnis einer willkürlichen Wahl und somit einer Bearbeitung.“
[11] Walter Benjamin: „Kleine Geschichte der Photographie.“ In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. S. 67-93. Hier S.71f.
[12] Walter Benjamin: „Kleine Geschichte der Photographie.“ S. 72.
[13] Pierre Bourdieu: „Die gesellschaftliche Definition der Photographie.“ S. 87.
[14] Vgl. Susan Sontag: „In Platos Höhle.“ S. 29; Rudolf Arnheim: „Glanz und Elend des Photographen.“ In: Ders.: Die Seele in der Silberschicht. A.a.O. S. 46-55. Hier S. 51.
[17] Michelangelo Antonioni: Blow-Up. TC 01:06:04.
[15] Pierre Bourdieu: „Die gesellschaftliche Definition der Photographie.“ S. 87.
[16] Michelangelo Antonioni: Blow-Up. TC 00:16:06.
[17] Jean Baudrillard: „Das perfekte Verbrechen.“ In: Theorie der Fotografie IV: 1980-1995. Hrsg. von Hubertus von Amelunxen/Wolfgang Kemp. München: Schirmer/Mosel 2000. S. 256-260. Hier S. 256.
[18] Susan Sontag: „In Platos Höhle.“ S. 17.
[19] Michelangelo Antonioni: Blow-Up. TC 01:36:13.
[20] Walter Benjamin: „Kleine Geschichte der Photographie.“ S. 93.
[21] Susan Sontag: „In Platos Höhle.“ S. 18.
[22] Rudolf Arnheim: „Glanz und Elend des Photographen.“ S. 42.
[23] Vgl. Pierre Bourdieu: „Die gesellschaftliche Definition der Photographie.“ S. 98.
[24] Rudolf Arnheim: „Glanz und Elend des Photographen.“ S. 51.
[25] Vgl. Susan Sontag: „In Platos Höhle.“ S. 29.
[26] Zitiert nach: Walter Benjamin: „Kleine Geschichte der Photographie.“ S. 90.