Gleich von mehreren Seiten wird von der Wissenschaft über Kunst gesprochen. Die Philosophie meldet sich zu Wort, die Kunstwissenschaften, die Psychoanalyse und so fort. Assoziationen zum Werk werden zu Theoriegebäuden, die sich am Ende eines theoretischen Rundganges vielleicht im Werk eines Künstlers reflektieren. Kann das auch andersherum passieren? Oder folgt die Theorie immer der Praxis? Gibt es einen Einfluss der Wissenschaft auf die Kunst, Implikationen, ein Band zwischen Wissenschaft und Kunst? Uns interessiert an dieser Stelle, wie Sie (wenn Sie das denn tun) sich selbst in diesem (Spannungs-)Feld verorten und wie Sie ganz persönlich den Umgang der Wissenschaft mit der Kunst beschreiben würden.
Dieter Mack (Komponist)
Dieter Mack (1954) unterrichtet in Lübeck Komposition, arbeitet seit 1978 regelmäßig in Indonesien und ist derzeit Vorsitzender der Musikerauswahl des DAAD und des Musikbeirats des Goethe Instituts.
Komponieren und Wissenschaft
Kürzlich schrieb mein Kollege Georg Friedrich Haas in einem Musikmagazin, dass er in den letzten 25 Jahren keine einzige brauchbare Anregung aus den Fachbereichen der Musiktheorie, der Musikpsychologie oder der Musikästhetik bekommen habe, wohl aber sehr viele aus den Bereichen der Akustik, der Auseinandersetzung mit nicht-europäischen Musiktraditionen und vor allem aus dem direkten Studium von Kompositionen und Aussagen von Kollegen über ihre jeweiligen Werke.[1]
Obwohl ich selbst über 20 Jahre Musiktheorie unterrichtete habe – und mich somit als Betroffener fühlen müsste – kann ich Haas im Großen und Ganzen nur zustimmen, jedoch mit der Einschränkung, dass ich von den oben erwähnten Disziplinen, die Musikpsychologie einmal ausgenommen, auch gar keine Anregungen erwarten würde. Das mag im ersten Moment überraschen, hat jedoch vor allem damit zu tun, dass die Systeme, Theorien und Konzepte jener Disziplinen grundsätzlich a posteriori formuliert werden. Wissenschaftliche Erkenntnis im Bereich der Musik kann sich immer nur an Vorhandenem, also am bereits geschaffenen Werk entzünden und entwickeln. Erst in der Nachfolge kann man schließlich beginnen, systematische und sogar systemische Tendenzen im Schaffen kreativer Menschen zu entdecken. Diese jedoch sind dadurch wie häufig fälschlich angenommen, keine Patentrezepte für eine Mentalität à la „Wie werde ich Komponist in zehn leicht fasslichen Lektionen“. Aktuelles künstlerisches Tun, die Forderung nach Wahrhaftigkeit und kritischer Selbstreflexion und –verantwortlichkeit einmal stillschweigend vorausgesetzt, kann sich nur an der Aktualität selbst kreativ reiben und immer wieder neu erfinden. Das Wesen künstlerischen Tuns besteht somit gerade in dem durchaus risikobehafteten „Sprung ins kalte Wasser“, einer Gratwanderung, deren Ergebnis für den Schaffenden selbst nicht in allen Konsequenzen abzusehen ist, selbst wenn die Idee einer „Avantgarde“ wie in den 1950er Jahren heute bedeutungslos geworden ist. Aber nur so ist es möglich fortzuschreiten und nicht in rein handwerklicher Routine zu erstarren oder zu stagnieren. Man merkt an dieser Stelle: ich vermeide den Begriff des Fortschritts. „Fortschritt“ ist meines Erachtens nur durch jeweils zukünftige Generationen rückwirkend verifizierbar. Und genau darin läge meines Erachtens die Aufgabe der traditionellen musikbezogenen Wissenschaftsbereiche. Für das aktuelle Komponieren oder den Komponisten kann dies nicht von Bedeutung sein. Zu leicht verheddert man sich in exklusiven materialbezogenen Postulaten hinsichtlich der immer weiteren Differenzierung des Materials – Viertel- werden Achteltöne, aus Septolen werden dreifach verschachtelte Septolen etc. Gesteigerte parametrische Differenzierung ersetzt jedoch noch lange kein ästhetisches Konzept. Kunst ist keine messbare olympische Disziplin und entzieht sich somit von ihrem Wesen her bestimmten klassischen wissenschaftlichen Kriterien. Sie muss sich auch zu jedem Zeitpunkt, vor allem soziokulturell im Sinne einer individuellen Verantwortlichkeit gegenüber gesellschaftlichen ( oder besser, zwischenmenschlich- relevanten) Rahmenbedingungen definieren. Das aber kann jede/r nur für sich selbst entscheiden.
Der Fortschrittsbegriff wurde mir persönlich auch durch meine interkulturellen Lebenserfahrungen zunehmend suspekt. Wieviele Menschen mussten im Namen des Fortschritts mit ihrem Leben bezahlen? Wieviel Lebensqualität hat man zugunsten eines sogenannten Fortschritts zerstört? Wieviel Menschen dieser Erde mussten (bzw. müssen immer noch) sich von ihren alten oder neuzeitlichen Kolonialherren sagen lassen, dass sie ihre Identität zugunsten des Fortschritts aufzugeben haben? Deswegen, „fortschreiten“ ja; aber was ist „Fortschritt“? Hier wäre jedoch durchaus ein Schulterschluss zur Wissenschaft zu konstatieren, denn nicht jede durch intensive Forschung generierte wissenschaftliche Erkenntnis trägt den Stempel des „Segens für die Menschheit“ mit sich.
Allein die Idee des „Fortschreitens“ ist für mich positiv belegt. Sie bezieht sich vor allem auf die unbedingte und kompromisslose Präzisierung der künstlerischen Idee in ihrer kompositorischen Ausführung, aber auch auf die Kultivierung der zwischenmenschlichen Verantwortlichkeit. Ein Zitat meines Kollegen Helmut Lachenmann (aus seiner Donaueschinger Rede von 1996) verdeutlicht dies idealtypisch:
Kunst hat letztlich keine andere Aufgabe als zu provozieren. Aber in einer Zeit in der Provokation selbst schon zu einem unterhaltenden Faktor verkümmert ist (…) kann Provokation nur gelingen, wenn radikale innovative Energie und strengste künstlerische Forderung an sich selbst zusammenarbeiten; wenn man sich allen Kriterien und Traditionen umfassend aussetzt, sie im selben Moment bewältigt und darüber hinaussteigt, um in unbekannte Erfahrungsfelder einzudringen.
Ich würde dabei den Ausdruck Provokation gerne mit „kritische Wachheit auslösen“ ersetzen. Selbst eine Portion „Faszination am Unerwarteten“ (nicht „Unbekannten“) zählt für mich dazu. Solch ein Bewusstsein, beziehungsweise der Weg dorthin, würde dann annähernd durch einen kathartischen Prozess bewerkstelligt, den jedes Werk immer wieder neu fordern würde. Mit nochmals anderen Worten: Es geht um eine bestimmte verantwortliche Haltung, um die Kultivierung einer persönlichen Wahrhaftigkeit, anstatt um postmoderne Beliebigkeit im großen „Selbstbedienungsladen der musikalischen Stile“. Dass dabei der Neue Musik-Betrieb seinen Teil zur fragwürdigen Geschäftigkeit beiträgt und häufig das äußerlich Sensationelle (das letztlich gar nicht so provokativ ist) dem Wahrhaftigen vorzieht, wäre ein anderes Thema.
Künstlerisches Bewusstsein in der Musik (und ich kann in diesem Zusammenhang nur für mich selbst reden) hat somit, um es noch einmal zu betonen, vor allem mit Aspekten der soziokulturellen Verantwortlichkeit zu tun. Das ist die eine Verbindungsstelle zu einem bestimmten, in diesem Falle geisteswissenschaftlichen Zweig.
Es gibt jedoch noch einen ganz anderen Bereich, der für Komponisten interessant sein kann. In einer kurzen Bemerkung zu Beginn wurde dies bereits angedeutet. Die Akustik als Teilgebiet der Physik hat sich lange Zeit nur mit den physikalischen Gegebenheiten der Schallerzeugung und der Schallausbreitung beschäftigt. Nimmt man noch die Schallrezeption als Teilgebiet der Biologie mit hinzu, so hat man ein ungefähres Bild eines potentiellen, naturwissenschaftlich orientierten Bezugs der Musik, dessen Bedeutung keineswegs in Frage gestellt werden soll. Ob diese Erkenntnisse für einen ausübenden Künstler von Belang sind, darf hingegen zu Recht angezweifelt werden. Hinter dieser scheinbaren Objektivierbarkeit, verbirgt sich jedoch ein inzwischen sich immer weiter ausdehnender Komplex von Phänomenen und Erkenntnissen, die für Komponisten von immenser Bedeutung sein können. Es handelt sich dabei um die Erkenntnisse der sogenannten Psychoakustik, die inzwischen auch gerade durch die Kooperation mit ethnomusikologischen Erkenntnissen unser Weltbild der akustischen Wahrnehmung und deren Grundbedingungen kräftig durcheinander gewirbelt haben. Ich selbst habe mehrere Jahre in einer anderen Musikkultur (vor allem Bali, aber auch Westjava) gelebt und dabei am eigenen Leibe erfahren, wie sich die musikalische Rezeption und qualitative Kriterien in verschiedenen Kulturen diametral gegenüber stehen können, letztlich aber auf den gleichen psychoakustischen Rahmenbedingungen basieren. Es beginnt überhaupt mit der lapidaren – und im ersten Moment frustrierenden! – Erkenntnis, dass die eigenen Maßstäbe gar nicht greifen. Die andere Musik ist eine fremde Sprache, die man sich nicht dadurch aneignen kann, dass man ihre Grammatik in Büchern nachliest und womöglich auswendig lernt. Ebenso wenig wird man eine fremde Sprache fließend sprechen können, wenn man nur die Worte und ihre Grammatik theoretisch studiert. Erst die praktische Erfahrung, das Eintauchen in den gesamten sozio-kulturellen Kosmos ermöglicht eine Veränderung der Wahrnehmung, die zu etwas führen kann, das man im weitesten Sinne als Verstehen bezeichnen darf. Aber selbst dann bleibt eine große Palette des sich nicht Erschließenden übrig. Und das ist auch gut so.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Tatsache des „Nicht-Verstehens“ aber des „Fühlens“ ganz wesentlich zur Magie einer künstlerischen Erfahrung beiträgt. Gäbe es diese Wahrnehmungskategorie nicht, hätte Kunst für mich eine ihrer wesentlichsten Daseinsberechtigungen verspielt und sich zur konsumierbaren, funktionalistischen Ware degradiert. Das aber kann nicht Ziel und Wesen künstlerischer Tätigkeit sein. Reibung, Konfrontation, In-Frage-Stellung, aber auch Magie und Transzendenz sind immer noch wesentliche Erfahrungsmomente, die sich einer Verwissenschaftlichung entziehen. Gerade das macht Kunsterfahrung spannend und anregend.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass für Komponisten weniger die direkt mit der Musik in Verbindung stehenden Disziplinen eine Rolle spielen, sondern Wissenschaftsbereiche, die sich einerseits mit den soziokulturellen Rahmenbedingungen von musikalischer Praxis, Rezeption und Distribution, und andererseits mit Fragen der Wahrnehmungspsychologie und Hörkonditionierung beschäftigen. Ob die Musikhochschulen diesen Gegebenheiten in ihren Ausbildungsstrukturen bisher genügend Rechnung tragen, sei dahin gestellt. Es gibt offensichtlich noch viel zu tun.
[1] Georg Friedrich Haas: „Grundlagen für eine neue Musiktheorie“. In: „Dissonance“ 3/2012. Seite 15 ff.