1. Einleitung
Je nachdem [der Raum] als mythische, als ästhetische oder als theoretische Ordnung gedacht wird, wandelt sich auch die ‚Form‘ [Herv. i. O.] des Raumes – und diese Wandlung betrifft nicht nur einzelne und untergeordnete Züge, sondern sie bezieht sich auf ihn als Gesamtheit, auf seine prinzipielle Struktur. Der Raum besitzt nicht eine schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur; sondern er gewinnt diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht. Die Sinnfunktion ist das primäre und bestimmende, die Raumstruktur das sekundäre und abhängige Moment.[1]
Räume gibt es in der deutschen Sprache viele. Da wären beispielsweise der Sprachraum, der Ballungsraum, der Weltraum, ein Raum in einem Gebäude und schließlich der Klangraum. Diese Begriffe bezeichnen Phänomene unterschiedlichster Art und doch ist ihnen eines gemeinsam: der Raum, der etwas umfasst und einschließt (eine bestimmte Sprache, Menschen, Atmosphäre und Planeten etc.), aber auch wandelbar in seiner Form ist – je nachdem wer oder was sich in ihm befindet.
Der bildende Künstler Oskar Schlemmer war von dem Phänomen Raum v.a. unter geometrischen Gesichtspunkten fasziniert und setzte sich zeitlebens (künstlerisch) mit dem großen Thema „Mensch im Raum“ auseinander. Wie beeinflusst ein bestimmter Raum die in ihm befindlichen Menschen? Wie tragen umgekehrt die Menschen zu Form und Wirkung des Raumes bei? Was charakterisiert also die Beziehung zwischen diesen beiden Komponenten, Mensch und Raum, und wie bedingen sie sich gegenseitig? Im Zuge seiner intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema, erforschte Schlemmer die mathematische Ordnung bzw. Geometrie, welche nicht nur dem Raum eingeschrieben ist, sondern seiner Überzeugung nach auch dem menschlichen Körper zu Grunde liegt. 1915 hielt er dazu in seinem Tagebuch fest:
Das Quadrat des Brustkastens,
Der Kreis des Bauchs,
Zylinder des Halses,
Zylinder der Arme und Unterschenkel,
Kugel der Gelenke an Ellbogen, Knie, Achsel, Knöchel,
Kugel des Kopfes, der Augen,
Dreieck der Nase,
Die Linie, die Herz und Hirn verbindet,
Die Linie, die das Gesicht mit dem Gesehenen verbindet,
Das Ornament, das sich zwischen Körper und Außenwelt bildet, sein Verhältnis zu ihr versinnbildlicht.[2]
Diese Überlegungen kulminieren schließlich in der Entwicklung und 1922 in der Verwirklichung des Kostümtanzes Das Triadische Ballett. Obwohl Schlemmer mit diesem Stück kein kommerzieller Erfolg zu Teil wurde, prägte das Triadische Ballett die deutsche Kunstgeschichte und erregte Anfang der 1970ger Jahre Gerhard Bohners Interesse. Gerhard Bohner, selbst Tänzer und Choreograf, war fasziniert von Schlemmers Kostüm- und Choreografieideen und entschloss sich diese visionäre Mixtur aus bildender Kunst und Tanz so genau wie möglich zu rekonstruieren und wieder auf die Bühne zu bringen. Mit Hans-Joachim Hespos fand Bohner außerdem einen Komponisten, der eine neue Musik zum Ballett komponierte und dem Tanztheaterstück durch die Klänge und neu erschaffenen Klangwelten eine völlig neue (Raum)Komponente hinzufügte. So wurde der von Schlemmer geometrisch und kinetisch ausgestaltete Raum durch Hespos’ Komposition klanglich erweitert. Der Klangraum, der in Schlemmers Konzeption recht stiefmütterlich behandelt worden war, gewann in der Neufassung wesentlich an Bedeutung. Dabei wird mit dem Begriff des Klangraums zum einen ein Raum bezeichnet, in dem Klang entsteht, sich ausbreitet, geformt wird und selber formt. Zum anderen aber auch ein nur mit dem Hörsinn erfassbarer Raum, welcher erst durch den ertönenden Klang entsteht und genauso veränderlich ist wie der Klang selbst.
In dieser Arbeit werde ich zunächst Schlemmers Triadisches Ballett sowie Bohners Neufassung vorstellen, um abschließend die Schwerpunktverschiebung vom bildkünstlerisch und mathematisch inspirierten Original zur Neufassung, welche vor allem vom Tanz und der Musik ausgeht, näher zu analysieren.
2. Das Triadische Ballett
2.1 Oskar Schlemmer – Der Mensch im Raum
Entweder wird der abstrakte Raum in Rücksicht auf den natürlichen Menschen diesem angepaßt und in Natur oder deren Illusion rückverwandelt. Dies geschieht auf der naturillusionistischen Bühne. Oder der natürliche Mensch wird in Rücksicht auf den abstrakten Raum diesem gemäß umgebildet. Dies geschieht auf der abstrakten Bühne.[3]
Oskar Schlemmer absolvierte von 1906 bis 1919 (mit Unterbrechungen) eine Ausbildung zum freien Maler an der Stuttgarter Akademie der Künste. Bereits 1912 freundete er sich mit dem Tänzerpaar Albert Burger und Elsa Hötzel an und lernte durch sie die Rhythmus-Lehre des Tanzpädagogen Emile Jaques-Dalcroze kennen, welche einen Tanzstil propagiert, der sich von den Konventionen des klassischen Balletts zu befreien sucht. Aus dieser Freundschaft gingen verschiedene Pläne zu einem „Erlösungstanz“ hervor, in dem die Entwicklung vom klassischen Ballett hin zum Neuen Tanz[4] symbolisch-tänzerisch nachvollzogen werden sollte. Durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen, wurden diese Ideen allerdings nie realisiert. Erst 1916, nachdem Schlemmer auf Grund einer Verwundung frühzeitig aus dem Krieg zurück gekehrt war, nahmen die Drei ihre Arbeit an einer gemeinsamen Tanzperformance wieder auf. So entstand zwischen 1916 und 1922 das Triadische Ballett. Anders als die vorausgegangenen Ideen, ist das Triadische Ballett dezidiert „handlungslos“, da mit seiner Choreografie keine handlungsorientierte Geschichte erzählt werden soll. Vielmehr ging es Schlemmer um die Erforschung körperlicher und räumlicher Gesetzmäßigkeiten auf Basis geometrischer Raumlinien, aber auch um die metaphysische Ausstrahlung von Raum und Körper. Er war davon überzeugt, dass die „Gesetze des kubischen Raums“, welche er anhand von Raumlinien bildlich darstellte, auch dem menschlichen Körper inhärent seien.[5] So beispielsweise in den mechanischen, verstandesgelenkten Bewegungen des Menschen, aber auch in dessen energetischer Ausstrahlung (Abb. 1).
Abb. 1: Egozentrische Raumlineatur. Bildnachweis: Oskar Schlemmer: „Mensch und Kunstfigur“. In: Die Bühne im Bauhaus. Hrsg. von Hans M. Winkler. Frankfurt am Main 1925. S. 14.
Für das Triadische Ballett entwirft Schlemmer 19 auf geometrischen Formen beruhende Kostüme,[6] die aber dennoch weitestgehend auf den Proportionen des menschlichen Körpers basieren.[7] Das besondere an den Kostümen ist, dass sie die Bewegungsmöglichkeiten der Tänzer[8] stark einschränken und damit die Choreografie in weiten Teilen bestimmen.
Gegenüber dem 1912/13 geplanten Erlösungsballett à la Hellerau [die Wirkungsstätte Jaques-Dalcrozes, Anm. d. A.] wirkt die Umkleidung des Körpers mit abstrakten Kostümbildungen wie der Versuch einer Erlösung durch die Form – eine revolutionäre Tat in einer Zeit, die gegen die strengen Regeln des klassischen Balletts den tänzerisch frei bewegten Körper propagiert.[9]
Es bleibt zu vermuten, dass Schlemmer im Triadischen Ballett das Verschmelzen des Tänzerkörpers mit dem Kostüm intendierte, sodass der Körper als Ausdrucks- und Zeichenträger seine Bewegungsimpulse ganz auf das Kostüm überträgt. Gabriele Brandstetter stellt dazu fest: „[…] er behandelt dieses ‚raumplastische Kostüm‘ jedoch nicht vom Körper ausgehend als eine Art Kleid, sondern – von allgemeinen Bewegungs- und Raumgesetzen bestimmt – als eine den Körper überformende totale Maske.“[10] Damit ist das Thema des Triadischen Balletts nicht mehr zuvorderst der Mensch im Raum, sondern vielmehr die geometrische Abstrahierung des Menschen, d.h. die bewegte geometrische Form im Raum. Die Bewegungen in geometrische Formen gebannt (ergo die Kostüme) bilden wiederum die Verbindung zwischen Tänzerkörper und dem ihn umgebenden Raum, indem sie die Raumdimensionen abbilden, gleichzeitig aber auch die tänzerischen Bewegungen im Raum plastisch und damit statisch[11] verbildlichen. Auch die Choreografie beruht auf geometrischen Figuren, der sogenannten „Bodengeometrie“[12]. Leider sind Schlemmers Aufzeichnungen dazu, bis auf eine Bleistiftskizze, verloren gegangen. Fest steht, dass sich die Tänzer auf gedachten geometrischen Formen wie Kreis, Gerade und Diagonale, im Raum bewegten und somit die im Kostüm abstrahierten Bewegungslinien durch den Tanz erneut in Bewegung gebracht wurden.
Schlemmer war nicht nur der Initiator des Projekts, sondern auch überwiegend der Ideengeber im künstlerischen Prozess. Er entwarf die puppenhaften Kostüme,[13] gestaltete die Choreografie und Aufteilung des Balletts und bestimmte das nur aus farbigen Wandbehängen bestehende Bühnenbild. Seine Verantwortlichkeit für die Produktion nahm solche Ausmaße an, dass er sich 1919 in einem Brief an seinen langjährigen Freund Otto Meyer-Amden über die fehlende Kreativität der Tänzer Burger und Hötzel beschwerte: Sie würden keine eigenen Ideen mit einbringen, sondern stets versuchen seine Choreografie-Ideen zu kopieren, was aber auf Grund des unterschiedlichen „Körpergefühl[s]“ gar nicht gelingen könne.[9] Ferner unterstellte er ihnen nicht ganz von der, dem Ballett zu Grunde liegenden, Idee erfüllt zu sein und resümierte: „Drill und Exerzitium geht [sic!] bis zu einem bestimmten Grade, hören aber auf, wenn das Gefühl unmittelbar wirken muß, bei Improvisationen z.B.“[10] Schlemmer, der selbst nie Tanzunterricht bekommen hatte, ging es offensichtlich weniger um eine technisch perfekte Ballettchoreografie, als um die Erforschung des Hauptthemas in seiner Kunst: der Beziehung von Raum und Mensch. Denn trotz der starken Präsenz geometrischer Formen und Ordnungsmuster in seiner Kunst, wollte Schlemmer auch die dahinter liegende Idee, das Mystische aller Erscheinungsformen, in seinen Werken durchscheinen lassen. Mensch und (geometrischer) Raum sollten durch die Bewegung des Menschen im Raum zu einem harmonischen Bild verschmelzen, in Einklang gebracht werden und sich gegenseitig ergänzen. Der Tänzerkörper in Bewegung wird damit zum Mediator zwischen Ordnung und Gefühl: „So wird der Tanz, seiner Herkunft nach dionysisch und ganz Gefühl, apollinischstreng in seiner endlichen Gestalt, Sinnbild des Ausgleichs von Polaritäten.“[11]
Wie bereits der Titel verrät, liegt dem Triadischen Ballett die Zahl Drei zu Grunde. Dementsprechend ist das Kostümballett in drei Teile gegliedert: Die erste (gelbe) Reihe beinhaltet fünf Tänze, die zweite (rosa) Reihe drei Tänze und die dritte (schwarze) Reihe vier Tänze. Obwohl es ein handlungsloses Ballett ist, können die Reihen insofern als aufeinander aufbauend verstanden werden, als Schlemmer in seinem Aufsatz Der Mensch als Kunstfigur erklärt, dass sich die Stimmung im Laufe der Vorstellung quasi steigere. So erzeuge die gelbe Reihe eine „heiter-burlesque“ Stimmung, die rosa Reihe sei „festlich-getragen“ und die schwarze Reihe, mit der die Choreografie schließlich endet, nennt er „mystisch – phantastisch“.[12] Aus den farblichen Bezeichnungen der Reihen (gelb, rosa, schwarz) leiten sich außerdem die Farben der Stoffe ab, mit denen die Bühne jeweils unterschiedlich ausgehängt wird. Insgesamt besteht das Ballett, das von zwei Tänzern und einer Tänzerin getanzt werden soll, aus zwölf Tänzen. Bei der Uraufführung 1922 am Landestheater Stuttgart tanzten die drei Urheber selbst: Elsa Hötzel, Albert Burger und Oskar Schlemmer, der unter dem Pseudonym Walter Schoppe in Erscheinung trat.
Abb. 2: Figurinenplan zum Triadischen Ballett 1924/26. Das Kostüm der ersten Tänzerin in der rosa Reihe (hier weiß grundiert) wurde bei der Uraufführung nicht verwendet. Bildnachweis: Kunstsammlung NRW, Düsseldorf/ Kunsthalle Wien/ Sprengelmuseum/ Bühnen Archiv (Hrsg.): Oskar Schlemmer: tanz, theater, bühne. Ostfildern-Ruit bei Stuttgart 1994. S.49.
Schlemmer betont, dass die Trias aber auch auf eine abstraktere Ebene übertragen werden kann und nennt die Elemente Raum, Form und Farbe. Daraus ergeben sich wiederum drei Dreierreihungen: Zunächst die Trias der Raumdimensionen Höhe, Tiefe, Breite, dann die der Grundformen Dreieck, Kreis, Quadrat und schließlich die Grundfarben Rot, Blau, Gelb. Scheper nennt in diesem Zusammenhang auch die Dreiheit von „Kostüm, Tanzbewegung und Musik“[13], wobei anzumerken ist, dass Schlemmer zeitlebens keine ihn befriedigende Lösung für die musikalische Komponente zum Stück fand.
In den Aufzeichnungen zum Triadischen Ballett ist nur sehr selten die Rede von Musik, auch wenn einem Brief an Hans Hildebrandt vom 4. Oktober 1922 zu entnehmen ist, dass Schlemmer die „Musikalität“ des Balletts durchaus am Herzen lag: „Wesentlich ist mir der symphonische Charakter des Balletts derart, daß für die einzelnen Tänze musikalisch-symphonische Bezeichnungen gesetzt werden könnten, zum Beispiel der Eroica-Charakter des dritten Teils [und] der Scherzo-Charakter des ersten.“[14] Die Musik zur Uraufführung sollte eigentlich der Komponist Paul Hindemith beisteuern. Aus ungeklärten Gründen brach der Kontakt zu Hindemith jedoch zwei Jahre vor der Erstaufführung ab. Stattdessen wurden bei der Uraufführung klassische und zeitgenössische Komponisten wie Händel, Hayden, Tarenghi und Debussy u.a. gespielt, wobei Schlemmer bedauerte, dass sie dem Charakter des Balletts nur unzureichend entsprächen. Erst bei einer Aufführung während der Donaueschinger Musiktage 1926 kam Hindemith mit seiner Neukomposition für mechanische Orgel zum Zuge. In ihrem Wesen als mechanisch erzeugte, neuartige Musik, mag sie besser mit dem Charakter des Balletts harmoniert haben, doch auch mit dieser musikalischen Variante scheint Schlemmer nicht abschließend glücklich gewesen zu sein.
Mit seinen abstrakt-raumplastischen Kostümen, welche den Tanz durch ihre jeweils spezifischen Formen und Materialeigenschaften bestimmen, hat Schlemmer eine Verbindung von bildender Kunst und Tanz auf der Bühne geschaffen. Seine Vorgabe, den Tanz, bestimmt durch die Bodengeometrie, nur durch die Bewegung im Raum wirken zu lassen und der Choreografie keinen erzählerischen Inhalt zu Grunde zu legen, war sicherlich radikal.[15] Wie schon aus dem Titel Das Triadische Ballett ersichtlich wird, wollte sich Schlemmer mit diesem Kostümballett allerdings nicht entschieden von der Tanztradition trennen, sondern vielmehr aus dem bestehenden, klassischen Ballett ein neues „deutsche[s] Ballett“[16] entwickeln.
2.2 Gerhard Bohner und Hans-Joachim Hespos – Der Mensch im Klangraum
Schon 1973 kontaktierte Gerhard Bohner den Komponisten Hans-Joachim Hespos, um ihm mitzuteilen, dass er an einer Choreografie zu Hespos’ Komposition DSCHEN arbeite. Es entwickelte sich ein konstanter Briefkontakt zwischen den beiden, der eine hohe gegenseitige Wertschätzung erkennen lässt. Drei Jahre später kam es dann zur gemeinsamen Arbeit der beiden Künstler. 1976 begann Gerhard Bohner in Berlin an einer Neufassung des Triadischen Balletts zu arbeiten, die mit einer Neukomposition Hespos’ komplettiert werden sollte. Da es keine detaillierten Aufzeichnungen über Schlemmers Originalchoreografie gibt, sah sich Bohner gezwungen aus Schlemmers Ideen zum Menschen im Raum etwas Neues zu schaffen, das dem Original aber so nahe wie möglich kommen sollte. Zunächst wurden Probenkostüme, die den Originalen grob nachempfunden waren, entwickelt. Mit diesen Kostümen erprobten die Tänzer verschiedene Bewegungsmöglichkeiten und Ausdrucksformen, welche einerseits Hans-Joachim Hespos als Inspiration für seine Komposition dienen sollten, andererseits die Grundlage für Bohners Choreografie bildeten. Damit folgte Bohner in einem entscheidenden Punkt der Idee Schlemmers: Der Tanz entwickelt sich nicht auf Grundlage einer vorher erdachten Choreografie. Stattdessen werden die Tanzschritte aus der Raumwirkung der Kostüme sowie deren Auswirkung auf den Tänzerkörper abgeleitet.[17] Anders als Schlemmer machte Bohner jedoch auch ein Zugeständnis an die Musik: „Diese Probenstudien haben wir auf Videoband aufgezeichnet. Danach wurde dann eine Musik komponiert und mit dieser Komposition habe ich dann wieder mit noch etwas verbesserten Probenkostümen, die den Originalen ähneln, das eigentliche Ballett choreographiert.“[18] Er ließ sich also nicht nur von den plastischen Kostümen und deren spezifischer Raumwirkung inspirieren, sondern ließ auch die musikalischen Klangräume und deren Wirkung auf ihn als Hörer in die Choreografie mit einfließen. Stephanie Schroedter nennt diesen Vorgang „kinästhetisches Hören“, d.h. der Hörer reflektiert das Gehörte und setzt es künstlerisch in (Tanz)Bewegungen um.
Anders als man erwarten könnte, schließt Bohner jedoch nicht von den geometrischen Kostümen und der abstrakten Musik auf rein mechanische, marionettenhafte Bewegungen der Tänzer.
Die Kostüme sind dreidimensional, und es gibt keinen äußeren Grund, sie im Profil oder frontal zu choreographieren. Deswegen erzählen die Figuren in ihren Richtungen und Beziehungen Geschichten. […] Schlemmer hat sich mit dem Mechanischen als etwas Positivem auseinandergesetzt. Aber er hat den Menschen nie ersetzt.[19]Zwar haftet den Figuren wegen der Kostüme immer etwas Marionettenhaftes an – egal wie sich die Tänzer darin bewegen – doch schafft Bohner mit seiner Choreografie ein weitaus facettenreicheres Assoziationsspektrum, als nur das der mechanischen Gliederpuppe.[20] Andererseits betont er dadurch auch verstärkt den Menschen im Kostüm, zu Ungunsten der Raumwirkung des abstrakten Kostüms, was ihm durchaus die Kritik seiner Zeitgenossen einbrachte.[26] Die Neufassung des Triadischen Balletts war ein voller Erfolg. Ab der Premiere am 2. September 1977 in der Akademie der Künste in Berlin bis Ende 1989 tourte das Tanzensemble durch die ganze Welt. Die meisten Aufführungen wurden von der Premierenbesetzung mit Colleen Scott, Gislinde Skroblin, Ivan Liška und Terence Kalba getanzt (Abb. 3).
Abb. 3: Neufassung Das Triadische Ballett 1977. Terence Kalba, Gislinde Skroblin, Ivan Liška (v.l.n.r.). Bildnachweis: Gerhard Bohner: Tänzer und Choreograph. In Zusammenarbeit mit et al. Berlin: Akademie der Künste 1991. S. 105.
Da die Kostümwechsel zwischen den Tänzen sehr zeitaufwendig sind, hatte Eva-Elisabeth Bohner der schwarzen Reihe noch einen vierten Tänzer hinzugefügt, um so einen flüssigen Ablauf der Vorstellung gewährleisten zu können. Er selbst tanzte meistens die letzte Figur, den Abstrakten[21], der im Original von Oskar Schlemmer getanzt worden war.
Wie eingangs angedeutet, hatte sich Gerhard Bohner mit Hans-Joachim Hespos einen sehr experimentierfreudigen zeitgenössischen Komponisten ausgesucht. Hespos ist in seinen Arbeiten nicht nur als Klang-Arrangeur tätig, sondern wird geradezu zum Klang-Choreografen. Dementsprechend ist in der Partitur zu duOH (1995) zu lesen: „auftritt der pianisten zu ihren plätzen. nach einem moment konzentrierten verharrens beginnen sie lautlos, fast stillstehend langsam und nahezu unauffällig mit instrument und stuhl sich voneinander weg zu bewegen […].“[22]
Ein anderes von Hespos schon in der Partitur durchchoreografiertes Konzert beschreibt Eva-Maria Houben:
Bei den VIII. Tagen für Neue Musik in Weingarten […] tanzte der Kontrabassist Janne Sksala ein Matinee-Ende herbei. Er unternahm es, auf vielfältige Weise mit dem Instrument den Raum auszumessen. Notiert sind diese Ausmessungen in t a n installation choréographique (1991) für fünfsaitigen Solokontrabass. Diese Vermessungen mit dem Kontrabass sind Tänze: Der Kontrabassist dreht das Instrument wie einen Kompass, benutzt es auch wie ein Metermaß.[23]
Hespos’ Neukomposition zum Triadischen Ballett, die er unter dem Dirigenten Thomas Baldner auf Tonband einspielen ließ und die zu den Aufführungen immer vom Band gespielt wurde, scheint vor allem für die Tänzer eine große Herausforderung gewesen zu sein. Das ist kaum verwunderlich, betrachtet man einige der Schlagworte, die er in seiner Musik bearbeitet: Stille, Unschärfe des Klangs und das Mystische. Ivan Liška, einer der Tänzer in Bohners Neufassung, beschreibt seine Erfahrung mit Hespos’ Komposition, aus der sich eine (anfängliche) Orientierungslosigkeit in den ungewohnten Klangräumen heraushören lässt:
Anhaltspunkte der Musik waren nicht Rhythmus oder Melodie. Der einzige Leitfaden war Schlemmers Welt, Gerds [Gerhard Bohner, Anm. d. A.] Anweisungen und physischer Umgang mit restriktiven Kostümen – es war fremd und abenteuerlich. So weit, dass sich der Proberaum zu drehen begann. Ich bekam Kreise vor den Augen – das einzige Mal in meiner Laufbahn. […] – bei Hespos war jeder Ton und jedes Geräusch (Zischen, Pusten, Knaxen, Geächze) des anderen Element, das man durchdringen musste.[24]
Andererseits ließ sich Hespos vom improvisierten Tanzmaterial und der Raumwirkung der Probenkostüme inspirieren, einen Vorgang, den Stefanie Schroedter „kinästethische Empathie“ der Musik nennt. Die Tanzbewegungen werden zwar nicht eins zu eins vertont, stattdessen aber in der musikalischen Bewegung „verkörpert“.[25] Ich sehe auch in Hespos Komposition eine Analogie zwischen der Räumlichkeit der Musik und der des Tanzes. Durch harte Wechsel der Lautstärke sowie nah und fern erklingende Töne werden Räume konstituiert und geformt, die spätestens in der abrupten Stille jedoch in sich zusammen fallen, um dann wieder neu zu entstehen. Auch dem Tanz ist dieses Kommen und Gehen, Entstehen und Vergehen, immanent. Keine der Figuren taucht noch einmal auf nachdem sie die Bühne verlassen hat. Wenn sich mehrere Figuren gleichzeitig auf der Bühne befinden, stehen sie in ihrer Zeichenhaftigkeit bzw. der Zeichenhaftigkeit ihrer Bewegungen zwar immer in Beziehung zueinander, jedoch werden diese Verbindungen genauso unvermittelt wieder gelöst, wie sie entstanden sind. Es lassen sich aber auch konkrete Zusammenhänge zwischen Bühnengeschehen und Musik finden. Beispielsweise wenn die tumben, tapsigen Bewegungen der Figur des Tauchers mit lang gezogenen, dunklen Posaunenklängen untermalt werden. Oder wenn die Tanzsequenz der beiden Figuren Tänzer türkisch I und II von verschiedenen Schlaginstrumenten bzw. Trommeln dominiert werden und die Stimmen der Blasinstrumente an orientalische Melodien erinnern.[26]
Hans-Joachim Hespos’ Komposition ist in jeglicher Hinsicht unkonventionell. So ist die Musik nicht nur für herkömmliche Instrumente wie eine Piccoloflöte, mehrere Oboen und einen Kontrabass u.a. geschrieben, sondern auch ein PuiliPuili[27], eine Bambuspendelrassel, eine Peitsche und vieles mehr kommen zum Einsatz. Allein diese kleine Auswahl aus den über 20 vorgesehenen Instrumenten macht deutlich, dass hier eine Synthese von Klängen aus der ganzen Welt (und sogar dem extraterrestrischen Raum) vollzogen wird. Denn selbst solche unfassbaren Weiten wie den Weltraum bringt Hespos in seiner Musik zum Erklingen, wie der Dirigent Thomas Baldner rückblickend beschreibt.
Hinter dem tönenden Chaos erscheint mehr und mehr die Vision eines Gläubigen, eines, dessen Gaben ihn befähigen, die Sterne singen zu hören. Im Walldorf-Studio, hart außerhalb Frankfurts, gab es einen Moment dramatischer Durchschlagskraft, der allen, die ihn erlebten, unvergeßlich bleibt. Bei der Arbeit an den Produktionsbändern zum triadischen ballett [Herv. i. O.] kam es zur Montage des Fünfminutenbandes aus Raumklängen, das vormittags von der Sternwarte in Münstereifel eingetroffen war. ‚Wollen Sie das vorher abhören?‘ fragte der Aufnahmeleiter am Pult. Hespos, mit dem Rücken zum Zimmer am Fenster stehend: ‚Nein – reinschneiden.‘ Wir fanden das etwas abenteuerlich, aber was war nicht abenteuerlich an dieser fabelhaften Produktion? Unbeweglich blieb der Komponist am Fenster stehen, während das Band zu Nummer 12 der ‚schwarzen reihe‘ anlief. Und als die Klänge, welche die Sternwarte aus dem Bereich der Galaxie 3 C 123 eingefangen hatte, vom Band ertönten, da war es ein bruchloses Ineinander mit dem glasklaren Klang, der im Orchester dem vorausgegangen war, eine so ungeheuerliche Affinität, daß es uns kalt über den Rücken lief in dem Erkennen, daß da ein schöpferischer Geist erahnt, ja gewußt hatte, wie das sein würde.[28]
Dieses Klangerlebnis ist den meisten Zuhörern wahrscheinlich völlig fremd, oder nur als technisches Störgeräusch, dem man so schnell wie möglich entkommen will, bekannt. Hespos erhebt diese Geräusche nun zu Musik und zwingt damit den Zuhörer, sich den neuen Klangeindrücken zu stellen. Auf Grund solch ungewöhnlicher Verfahrensweisen erfordert die Komposition eine große Bereitschaft der Zuhörer, sich mit der Musik gleichsam auf Erkundungsreise zu begeben. Wer einprägsame Melodien und ordnende Rhythmen sucht ist schon verloren. Vielmehr kreiert die Musik eine räumliche Landschaft und schickt die Zuhörer auf eine Reise durch unbekanntes Gebiet. Hört man genau hin, wird man ständig überrascht von den Wendungen und abrupten Wechseln, die Hespos’ Musik in ihrer Unvorhersehbarkeit vollzieht. Charakteristisch dafür ist, dass man in der Partitur vergeblich nach Taktangaben sucht und Angaben wie „gehaucht einschwingend (in sich lasch kippend)“ für ein Horn, lassen die Vielfältigkeit der Klangerzeugung und -wirkung erkennen. Das betont auch Eva-Maria Houben mit ihrer Feststellung, dass Hespos, den gemäßigten Bereich des Mezzoforte vermeidend, ständig die extremen Bereiche von Lautstärke auslote.[35] Gut vorzustellen, dass diese Komplexität Tänzer und Choreograf vor eine große Herausforderung stellte. Denn was die Musik nicht bietet, d.h. Ordnung, Rhythmus und Orientierung, muss der Tanz sich woanders her holen, oder selbst hervor bringen.
Am auffälligsten ist die immer wiederkehrende Stille – bzw. die Beinahe-Stille: Wägt sich der Zuhörer in einem Moment im Glauben, dass nichts mehr zu hören sei, fängt das Ohr im nächsten Moment, ganz unerwartet, doch wieder einen Ton ein. Die Musik macht sich damit in ihrer Abwesenheit bemerkbar. Diese Momente eröffnen dem Tanz die Möglichkeit die volle Aufmerksamkeit des Zuschauers auf sich zu lenken, potenzieren aber auch die musikalische Raumwirkung durch die hörbar gemachte Stille. Folglich wirkt ein plötzlich hereinbrechender Klang erst durch die Stille so gewaltsam, aber auch die leisen Töne klingen vor der Folie des klangarmen Raumes besonders intensiv.
Auch Anfang und Ende der Komposition sind bezeichnender Weise von dieser Qualität. Zwar fängt die Musik mit einem kräftigen Geräuschwirbel[29] an, dieser versackt jedoch sogleich in Stille, aus der sich die Töne nur sehr langsam und vorsichtig wieder erheben. Ein ähnliches musikalisches Schema findet sich auch im letzten Tanz wieder (der Abstrakte) wenn sich tobender Paukenwirbel und Bläsergequietsche mit abrupter Stille abwechseln und dadurch die (forte)fortissimo-Parts umso gewaltsamer auf den Hörer eindringen. Entsprechend unerwartetet verklingt das Stück dann fast enttäuschend still in den Weiten des Raumes. Eva-Maria Houben hat in ihrer Monografie über Hespos zum Thema Stille festgehalten:
Stille lässt erfahren, was Hören heißen kann. Ich höre immer, Hören geschieht jederzeit immer(zu) jetzt überall hier. Nicht-Hören: das geht nicht. Zugleich ist zu hören: Hören ist immer ein Gehört-Haben. Ich kann nichts festhalten mit dem Ohr. Auch der Klang lässt sich nicht halten, sein Verschwinden ist ihm während des Einschwingens schon eingeschrieben. Gleichwertigkeit von Stille und Klang, von Klang und Stille…Klang in Stille, Stille in Klang…[37]
Die Stille als „Verwandlungsraum“[38], einem Raum also in dem etwas aufhört und zugleich etwas Neues beginnt, bzw. sich der ausklingende Klang in einen anderen verwandelt, drängt einem somit die Frage nach der Beschaffenheit von Klangräumen und ihrer spezifischen Wirkung gerade durch die Nichtanwesenheit von Klang auf.
Bemerkenswert an Hespos’ Werk ist die Verschmelzung der verschiedenen Künste bzw. ihre Interaktion, die ja schon Schlemmer anstrebte und welche nun von Hespos weitergeführt wird. Dementsprechend lässt dieser die Musiker Bewegungen vollziehen, die einem Tanz sehr nahe kommen.[39] Gleichzeitig verarbeitet er Geräusche in seiner Musik, welche zunächst weit von musikalischem Klang entfernt zu sein scheinen. So liest man in der Partitur beispielsweise „ein dünnes holzbrett krachend am boden zerschlagen“[40]. Auch die Partitur selbst erinnert auf den ersten Blick eher an den Bauplan eines Architekten, als an niedergeschriebene Musik.[41] Sie ist auf DIN-A1-formatigem Papier handschriftlich notiert, was in seiner bildlichen Perfektion jedoch nur schwer von einem Druck zu unterscheiden ist. Zwar lässt sich das musikalische Geschehen bzw. die bildliche Abstraktion der Musik in Übergröße besser erfassen, jedoch ist fraglich wie gut dies tatsächlich handhabbar für Dirigent und Musiker ist. Daher liegt die Vermutung nahe, dass die Partitur auch als selbstständiger, eigenwertiger Teil des Kunstwerkes wahrgenommen werden soll. Peter Frank hat für diese Art von Partitur die Bezeichnung „visuelle Partitur“ entwickelt.
Seine Feststellung, „‚visuelle Partituren‘ [Herv. i. O.] sind zugleich Bild und Notation, konzipiert, um betrachtet und gespielt zu werden“[30], trifft auch auf Hespos’ Partitur zu. Für die Musiker und den Dirigenten kommt erschwerend hinzu, dass Hespos schon zu Beginn seiner Karriere eine eigene Notation entwickelte, mit deren Hilfe er die kontingenten Klangräume aufs Papier zu übertragen versucht oder doch zumindest die spezifischen Beziehungen der Instrumentalstimmen untereinander visualisiert. In dem Bestreben, dieses musikalische Beziehungsgeflecht zu visualisieren, hat Hespos’ Notationssystem allerdings nur noch wenig mit dem traditionell bekannten und genutzten Notensystem zu tun und erfordert daher zunächst eine intensive Auseinandersetzung mit den ungewohnten Zeichen.
In Bohners Choreografie ist Schlemmers Idee der „Bodengeometrie“ sofort zu erkennen. So bewegen sich die Figuren auf Diagonalen, (Halb-)Kreisen und Geraden, die den Raum durchmessen. Doch dies bedeutet keineswegs eine Starrheit und Gleichmäßigkeit des Tanzes. Vielmehr wird hier aufgenommen, was die Kostüme auf visueller Ebene vorgeben. Andererseits macht diese visuelle Bewegungsordnung – das heißt auch die genaue Vermessung, bzw. Begrenzung des Bewegungsraumes – die auditive Klangunordnung bzw. „Unschärfe“[31] zugänglicher fürs Ohr.
Die Synthese von Kostümen (d.h. Farbe und Form), Bewegung und Klang ist meiner Meinung nach in den abstrakten Teilen der Choreografie am besten gelungen. Diese dürften auch am nächsten an Schlemmers Grundidee herankommen, da jener ausdrücklich betonte, mit dem Triadischen Ballett einen Kostümtanz erfunden zu haben, der ohne konkrete Handlung auskomme. Diese ‚Zwecklosigkeit‘[32] der Tanzbewegung kommt vor allem zu Beginn und am Schluss von Bohners Choreografie zur Geltung. So beginnt der Tanz mit dem Rundrock, einem sehr steifen, mit farbigen Kreisen bemalten, weit ausladenden Tellerrockkostüm, das an einen Brummkreisel erinnert. Die Tänzerin, die dieses Kostüm trägt, bewegt sich zunächst sehr steif, fast maschinell, wodurch der Rock mit seiner grell-bunten Bemalung gut zur Geltung kommt. Dann erscheint der Taucher auf der rechten Bühnenhälfte. Das Kostüm des Tauchers ist von seinen Proportionen her wohl am weitesten vom menschlichen Körper entfernt. Seine weißen Beinkleider sind mit schwarzen Querstreifen gemustert und betonen die ausladenden Hüften. Er trägt eine Art großen Teller auf den Schultern, an dem lange, rote Zotteln befestigt sind. Diese Zotteln schwingen bei den ausladenden Bewegungen des Tauchers mit und betonen so die jeweilige Bewegungsachse. Da das Kostüm keine Arme vorsieht und der Kopf des Tänzers mit einer unförmigen, kugelrunden Maske umhüllt ist, sind die Bewegungen des Tauchers (Demi-plié und gestreckten Zehenspitzen zum Trotz) tollpatschiggrotesk. Zwar treten die zwei Figuren sowohl mit der Musik, als auch untereinander in Beziehung,[33] jedoch lässt sich aus den Bewegungen keine eindeutige Geschichte ablesen, wodurch sich der Tanz auf einer mythisch-abstrakten Ebene vollzieht und an einen absurden Traum im schwarz ausgehängten, leeren Raum erinnert.[34]
Ganz anders hingegen bei der Begegnung von Tänzer türkisch I (von einem Mann getanzt), Tänzer türkisch II (auch männlich) und dem Kugelrock (von einer Frau getanzt). Alle drei tragen farbenfrohe Kostüme.[35] Die männlichen Figuren erinnern an bunt geringelte, orientalische Märchenfiguren. Das Tutu der weiblichen Figur besteht, wie ihr Name bereits erraten lässt, aus vielen bunten Kugeln und auch ihre Kopfbedeckung ist aus bunten Kugeln zusammengesetzt. Der stark gestisch dominierte Tanz lässt vermuten, dass Bohner hier versucht, durch die tänzerisch überzeichnete Gestik und Mimik sowohl der Musik als auch den Kostümen eine weitere Bedeutungsebene hinzuzufügen. Allerdings geschieht das genaue Gegenteil, da Kostüme und Musik durch die Überbetonung und Vereinseitigung der Tanzbewegungen in den Hintergrund treten. Inhaltlich entflammt in diesem Tanz offensichtlich ein Kampf zwischen den zwei Tänzern um die Dame. Diese Konkretisierung nimmt dem Ballett jegliche Mystik des Abstrakten und Undurchschaubaren. Der Tanz wirkt so handlungsbeladen, dass infolgedessen kaum noch Raum für eine etwaige Kostüm- und/oder Musikwirkung bleibt. Denn nicht nur die Bewegungen der Tänzer sind sehr eindeutig, auch ihre Mimik setzen die Darsteller (zu) wirkungsvoll ein. Wo bislang weitgehend ausdruckslose Mienen vor allem der Wirkung von Bewegung, Musik und Kostüm Platz gegeben haben, zieht das Mienenspiel in diesem Tanz viel Aufmerksamkeit auf sich. Hier bewahrheitet sich, was Tut Schlemmer (die Ehefrau und Witwe von Oskar Schlemmer) in einem Brief an Gerhard Bohner in Bezug auf seine Neufassung einer weiteren Schlemmerschen Choreografie, dem Reifentanz, feststellt:
Der Hauptunterschied [zu Schlemmers Inszenierung] scheint mir, dass nicht die Reifen sondern die Tänzerin die Hauptsache ist. Bei uns war sie fast statisch und verschwand während die Reifen wie große Zeichen wirkten. Nun müßte beides zusammenspielen der Tänzer und die Reifen was Sie ja angestrebt haben.[36]
Diese unterschiedliche Prioritätensetzung ergibt sich, auch wenn es banal klingen mag, aus den unterschiedlichen Disziplinen, von denen Schlemmers und Bohners Arbeit jeweils geprägt ist. Für Schlemmer, den Maler, nehmen Form und Farbe den wichtigsten Platz in der Inszenierung ein. Bohner, als ausgebildeter Tänzer, legt hingegen sein besonderes Augenmerk auf den Tänzerkörper und dessen Bewegungen, in Korrespondenz zur Musik. Weiterhin verweist Bohner darauf, dass er im Triadischen Ballett Motive aus der Geschichte des klassischen Balletts und des Maskentanzes erkennen kann und dies als Inspiration für seine Choreografie nutzte.[37] Hedwig Rohde stellt dazu im Tagesspiegel vom 4. September 1977 fest: „Auch wenn Gerhard Bohner ein abstraktes Ballett choreographiert hat, bleibt er näher am klassischen Tanz als notwendig. […] Der Tanz der Dreiheit entwickelt sich nicht wirklich aus den Schlemmer-Kostümen, die Raum und Thema bilden sollen.“[38]
3. Schlussbemerkungen
Wie eingangs dargestellt, entwickelte Oskar Schlemmer die Kostüme und die Choreografie des Triadischen Balletts aus seiner intensiven Beschäftigung mit dem Zusammenspiel von Raum und Mensch. So lässt sich das Triadische Ballett als Versuch lesen, die, laut Schlemmer, sowohl dem Raum, wie auch dem menschlichen Körper innewohnenden mathematischen Gesetze durch Form, Farbe und Bewegung sichtbar zu machen. Die, durch die geometrischen Kostüme veränderten Proportionen und Bewegungsmöglichkeiten des Tänzerkörpers spiegeln kinästethisch Schlemmers Idee wider, dass die Verbindung zwischen organischem Menschenkörper und materiellem Raumkörper geometrische Formen in Bewegung seien. Konsequenterweise konzipierte Schlemmer das Triadische Ballett als handlungslosen Kostümtanz, dessen einziger Zweck die Visualisierung der Raum und Mensch verbindenden Elemente ist. Es ist deutlich geworden, dass Schlemmers Augenmerk hier vor allem auf der Wirkung von Form und Farbe lag und er bildkünstlerische Elemente mit der Komponente der Bewegung erweiterte und vereinte.
Bohner nimmt diesen Ansatz in seiner Neufassung auf, führt ihn aber weiter, indem er der visuellen Raumwirkung noch eine musikalische hinzufügt und den Schwerpunkt eher auf die tänzerische Bewegung in Verbindung mit der Musik verlagert. Dementsprechend belässt er es nicht bei mechanisch-maschinellen Bewegungen, sondern visualisiert in der Choreografie eigene, durch die Kostüme angeregte (tanzhistorische) Assoziationen. In den abstrakten Teilen gelingt ihm die Synthese von raumplastischen Kostümen, Tanzbewegungen und Musik sehr gut, da die von Schlemmer intendierte ‚Handlungslosigkeit‘ bzw. Abstraktion des Tanzes allen raumformenden Komponenten Platz zur Entfaltung gibt. Wird die Choreografie jedoch semantisch zu aufgeladen, treten die musikalische Raumwirkung und die der Kostüme stark in den Hintergrund und die Darbietung läuft Gefahr, unfreiwillig komisch zu wirken. Das Verfahren, die Kostüme bzw. den veränderten Tänzerkörper und dessen (Un)Beweglichkeit als Ausgangsmaterial für die Choreografie zu nehmen, scheint Bohner dazu verleitet zu haben, v.a. das Bewegungspotenzial der weiblich konnotierten Figuren nicht auszuschöpfen. So fällt bei der Betrachtung von Schlemmers Figurinenplan (Abb. 2) bereits auf, dass die von einer Frau getanzten Kostüme großteils an eine Abstraktion des Tutus im klassischen Ballett erinnern. Da Schlemmer diese basale Rockform jedoch mit geometrisch-plastischen Gebilden überformte, gelang es ihm, eine große Varietät an Kostümen zu entwerfen. Bohner hingegen ist dieser Vorlage der klassischen Ballerina in weiten Strecken aufgesessen, sodass er sie auf die Choreografie überträgt, weshalb sich die Tanzschritte der weiblich konnotierten Figurinen in ihren Ballettanleihen sehr ähneln.
Die abstrakte und unkonventionelle Neukomposition von Hans-Joachim Hespos hingegen ist zwar von den Assoziationen des Komponisten zu den Kostümen und Tänzerbewegungen inspiriert. Hespos vermied es jedoch, diese Assoziationen konkret zu vertonen. Stattdessen formt die Musik als eigenständige Komponente den (Illusions)Raum mit, bzw. erweitert diesen durch die klangliche Dimension und beeinflusst dadurch auch die Raumwirkung der visuellen Phänomene auf der Bühne.
Mit ihrer Version des Triadischen Ballett ist Bohner und Hespos damit eine Neufassung im Geiste Schlemmers gelungen, die dennoch die Handschrift der Interpreten trägt.
Freie Universität Berlin, Wintersemester 2011/12
[1] Ernst Cassirer: „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum.“ In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft. Hrsg. von Jörg Dünne/ Stephan Günzel in Zusammenarbeit mit Hermann Doetsch/ Roger Lüdeke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. S. 485-500. Hier S. 494.
[2] Tagebuch Oktober 1915. Zitiert nach: Tut Schlemmer (Hg.): Oskar Schlemmer. Briefe und Tagebücher. München: Langen-Müller 1958. S. 43.
[3] Vgl. Oskar Schlemmer: „Mensch und Kunstfigur.“ In: Die Bühne im Bauhaus. Hrsg. Laszlo MoholyNagy/ Farkas Molnar/ Oskar Schlemmer. Frankfurt am Main 1925. (Nachdruck Mainz: Kupferberg 1965, hrsg. und kommentiert von Hans M. Winkler) S. 7-21. Hier S. 13.
[4] Gemeint ist eine tänzerische Ausdrucksform, die nicht den starren Regeln eines bestimmten Tanzstils folgt.
[5] Vgl. Oskar Schlemmer: „Mensch und Kunstfigur.“ S. 13.
[6] „Kostüm“ bezeichnet hier nicht nur eine nichtalltägliche Ver- und Umkleidung des menschlichen Körpers, sondern schließt im Falle einiger Figuren auch Masken mit ein.
[7] In der Sekundärliteratur (und auch in Schlemmers Aufsatz Mensch und Kunstfigur) ist meistens von 18 Kostümen die Rede, da das erste Kostüm der rosa Reihe im Original nicht umgesetzt wurde.
[8] Zur besseren Lesbarkeit wird im Folgenden immer die maskuline Form „Tänzer“ benutzt, die aber, wenn nicht ausdrücklich anders verwendet, sowohl weibliche als auch männliche Personen mit einschließt.
[9] Dirk Scheper: Oskar Schlemmer. Das Triadische Ballett und die Bauhausbühne. Berlin: Akademie der Künste 1988. S. 8.
[10] Gabriele Brandstetter: „Intervalle. Raum, Zeit und Körper im Tanz des 20. Jahrhunderts.“ In: ZeitRäume. Zeiträume – Raumzeiten – Zeitträume. von Martin Bergelt/ Hortensia Völckers. München: Hanser 1991. S. 225-270. Hier S. 239.
[11] Mit ‚statisch‘ meine ich die Kostüme selbst, die erst durch den sich bewegenden Tänzerkörper eine gewisse Dynamik bekommen.
[12] „Wesentlich ist mir auch die sogenannte ‚Bodengeometrie‘, die Figurenformen, die die Wege der Tanzenden bestimmen und die identisch sind mit den Figurinenformen.“ Aus einem Brief an Hans Hildebrandt, 4. Oktober 1922. Zitiert nach: Tut Schlemmer: Briefe und Tagebücher. S. 135.
[13] Für die Umsetzung der Entwürfe zeichnet größtenteils Schlemmers Bruder, Carl Schlemmer, verantwortlich.
[9] Dirk Scheper: Das Triadische Ballett. S. 25.
[10] Zitiert nach: ebd. S. 26.
[11] Tagebucheintrag, September 1922. Zitiert nach: Tut Schlemmer: Briefe und Tagebücher. S. 135.
[12] Oskar Schlemmer: „Mensch und Kunstfigur.“ S. 22. Wohlgemerkt erläutert Schlemmer das erst drei Jahre nach der Premiere des Triadischen Balletts. Außerdem konstatiert er, dass die drei Teile sich vom „Scherz zum Sinn“ (ebd., S. 22) steigerten, worin ich eine Analogie zu seinen allgemeinen Überlegungen zum Theater (im selben Aufsatz S. 8) sehe. Hier situiert er „die Bühne“ in dem weiten Feld der darstellenden Künste zwischen „religiöser Kulthandlung“ (= Sinn) und „Volksbelustigung“ (= Scherz).
[13] Dirk Scheper: Das Triadische Ballett. S. 34.
[14] Zitiert nach Tut Schlemmer: Briefe und Tagebücher. S. 135.
[15] Wobei Schlemmer nicht der Erste mit dieser Idee war – man denke nur an Loie Fullers Serpentinentänze Ende des 19. Jahrhunderts.
[16] Tagebucheintrag, September 1922. Zitiert nach:Tut Schlemmer: Briefe und Tagebücher. S. 135.
[17] Einige Rezensenten der Uraufführung beklagten jedoch, dass bei Bohners Neufassung die Kostüme eben nicht die Tanzenden einschränken würden, sondern sich ihnen anpassten. Das kommt daher, dass Bohners Kostüme, anders als noch zu Schlemmers Zeiten, aus neuartigen Materialien wie Schaumstoff und Kunststofffasern nachgearbeitet wurden und deshalb nicht die spezifische Haptik und Bewegungseigenschaften wie die Originalkostüme aufwiesen.
[18] Zitiert nach: Dirk Scheper: „Gerhard Bohners Rekonstruktionen und Neufassungen von SchlemmerTänzen.“ In: Gerhard Bohner: Tänzer und Choreograph. Hrsg. von Gerhard Bohner in Zusammenarbeit mit Eva-Elisabeth Fischer et al. Berlin: Akademie der Künste 1991. S. 108.
[19] Zitiert nach Dirk Scheper: „Gerhard Bohners Rekonstruktionen.“ S.109f.
[20] Die in dieser Arbeit beschriebenen Eindrücke beruhen auf der Videoaufzeichnung einer Aufführung in Rotterdam vom 26.10.1989 aus dem Archiv der Akademie der Künste. 26 Vgl. zeitgenössische Rezensionen im Archiv der Akademie der Künste.
[21] Um die einzelnen Figuren besser beschreiben und voneinander unterscheiden zu können, übernehme ich die in der Sekundärliteratur üblichen Bezeichnungen, die jedoch nicht alle von Schlemmer selbst autorisiert wurden.
[22] Hespos folgt, in der Tradition der typografischen Experimente der 1920ger Jahre, meistens der konsequenten Kleinschreibung. Diese habe ich, jeweils der Vorlage entsprechend, auch für diese Arbeit übernommen. Zitiert nach: Eva-Maria Houben: hespos. eine monographie. Saarbrücken: Pfau 2003. S. 38.
[23] Ebd. S. 77.
[24] Booklet zur Musik von Hans-Joachim Hespos. Berlin: Akademie der Künste, Sektion Musik. Realisation Dirk Scheper. edel CLASSICS GmbH 2008. S. 13.
[25] Stephanie Schroedter: „Neue Klangräume für neue Bewegungsformen und Bewegungsformate.“ In: Neue Musik in Bewegung. Musik- und Tanztheater heute. Hrsg. von Jörn Peter Hiekel: Mainz: Schott 2011. S. 134-168. Hier S. 139.
[26] Eine ausführlichere Beschreibung der Figuren findet sich weiter unten.
[27] Die vom Komponisten hierzu mitgelieferte Beschreibung lautet: „bambusstab, etwa 30-40cm lang und ca. 3cm dick, der bis zu 3/4 seiner länge in schmale streifen aufgeschnitten ist und an seinem aufgespaltenen ende zwischen den handflächen zu reiben ist.“ (Zitiert nach der Partitur der Akademie der Künste).
[28] Thomas Baldner: „Hespos? Ja- ABER…!“ In: hans-joachim hespos. Hrsg. von Eva-Maria Houben. Saarbrücken: Pfau 1998.S. 13-14. Hier S. 14. 35 Vgl. Eva-Maria Houben: hespos. S. 38.
[29] Der „Geräuschwirbel“ entsteht aus dem Zusammenspiel von Peitsche, Pianoforte, Violoncello, einer Tuba, ein Paar Hyoshigi, einem Kontrabass sowie je einem Paar große und kleine Claves, um nur einige zu nennen.
[27] Eva-Maria Houben: hespos. S. 54.
[28] Ebd. S. 21.
[29] Nur dass dieser Tanz im Falle des Triadischen Balletts nicht zur Aufführung kommt, da die Musik bei den Aufführungen vom Tonband gespielt wurde.
[30] Diese Anweisung bezieht sich auf das Vorspiel der Gelben Reihe. (Zitiert nach der Partitur der Akademie der Künste.)
[31] Mit dem Begriff „Partitur“ beziehe ich mich nur auf die Partitur im Besitz der Akademie der Künste.
[30] Peter Frank: „Zwischen Bild und Partitur.“ In: Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Karin von Maur. München: Prestel 1985. S. 444-229. Hier S. 445.
[31] „Hespos’ Partituren verwirklichen Unschärfe des Klanges, der in seiner zeitlichen Entfaltung und räumlichen Ausbreitung nicht gleichermaßen exakt zu bestimmen ist. Zeit- und Raumpunkte lösen sich auf. Klang: zeitlich unfixiert, kaum zu lokalisieren.“ Ebd. S. 76.
[32] „‚Das Gesetz der Form gibt Freiheit des Ausdrucks und die Seele kann nicht genommen werden. […] Doch wird das Triadische Ballett keine Weltanschauung tanzen, was niemand hindern soll, eine solche darin zu finden. (Es wird vielmehr reine Lust am Fabulieren sein, ein Fest in Form und Farbe.) Denn noch immer ist der Künstler der Schöpfer schöner Dinge und noch immer scheint es, daß alle Kunst zwecklos scheint.‘“ Zitiert nach: Dirk Scheper: Das Triadische Ballett. S. 33.
[33] „In Beziehung treten“ bedeutet, dass die Tänzer aufeinander reagieren und auch musikalische Besonderheiten, wie z.B. ein langgezogenes Tröten der Posaune beim Auftritt des Tauchers, in ihren Tanz mit aufnehmen.
[34] Ähnlich wie bei Schlemmers Aufführungen des Balletts, wurde auch bei der Neufassung bald aus technischen Gründen darauf verzichtet den Bühnenraum jeder Reihe entsprechend mit einem andersfarbigen Stoff auszuhängen. Deshalb wurde bei der beschriebenen Aufführung die (farbliche) Stimmung nur noch mit Licht angedeutet.
[35] Vgl. Abb. 2, die letzte Figurenkonsellation der rosa Reihe.
[36] Brief von Tut Schlemmer an Gerhard Bohner vom 24.5.1974. Archiv Akademie der Künste. Orthografie und Rechtschreibung sind vom Original übernommen.
[37] Vgl. Dirk Scheper: Das Triadische Ballett. S. 34.
[38] Zitiert nach einer Kopie aus dem Gerhard Bohner Archiv der Akademie der Künste, Berlin.