Tim König: Körper in Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun. Eine Analyse der perspektivischen Verhältnisse anhand eines Romanbeginns.

0. Inhalt

Das kunstseidene Mädchen[1] von Irmgard Keun ist ein populärer Roman aus dem Jahr 1932. Er handelt von der jungen und mittellosen Sekretärin Doris, die den Weg aus einer Kleinstadt nach Berlin einschlägt. Ihr Ziel: Ein Star werden, koste es, was es wolle. Dieser Weg führt erst zu ‚halbseidenem‘ Erfolg, letztlich aber in die Gosse, aus der sie ein gesetzter Mann schließlich entführen darf. Ihr Glück findet Doris, die sich bei dem mittelständischen ‚Retter‘ langweilt, erst bei einem Mann ihrer Klasse, einem Gärtner.

Keun bzw. ihre Erzählerin Doris wirft dabei einen Blick auf die ‚goldenen Zwanziger‘, der wenig Glanz hinterlässt: Im Vordergrund stehen mangelnde Bildung (die sich nicht zuletzt im Stil äußert) und fehlende Chancen, sowie Geld- und Ruhmsucht als Konsequenz gesellschaftlicher (sozialer wie materieller) Ungerechtigkeit.

1. Einführung in das historische ‚Tableau‘: Das kunstseidene Mädchen als Kind des krisengeschüttelten Menschen

Angesichts einer Götzendämmerung, die das Erbe von zwei Jahrtausenden in Frage stellte, suchten wir nach einem neuen, zentralen Begriff für unser Denken, einem neuen Leitmotiv für unsere Gesänge und fanden den ‚Leib, den elektrischen‘.[2]

König, © Federico GhidinelliKlaus Mann beschreibt hier, wie er und junge Autorenkollegen Anfang der 1920er Jahre auf der Suche nach einer neuen literarischen Orientierung waren. Sie fanden den ‚Leib, den elektrischen‘; aber was ist das? ‚Leib‘ ein heute archaisch anmutendes Wort, ist ein Körper, meist der menschliche, physische Körper. Der Fund erscheint paradox: Elektrizität ist immateriell, an elektrische Leiter gebunden, die erst Formen des Stromflusses sichtbar machen können. Insofern ist der gefundene ‚Leib‘ unsichtbar, reine Idee und gibt keine Form vor, hat keinen materiellen ‚Leib‘ – er ist weder sichtbar gestaltet noch ausgedehnt, was nach logischer Betrachtungsweise notwendige Attribute des Körpers sind.

Der Titel Das kunstseidene Mädchen des Romans von Irmgard Keun bedient sich ebenfalls des Körper-Motivs oder versucht, das Körper-Motiv zu füllen: Die Protagonistin Doris bestehe aus Kunstseide – ein materielles Attribut, das metaphorisch aufgeladen ist, also nicht nur körperlich bleibt und als sprachliches Bild für das Wesen von Doris dient. Das Attribut ‚kunstseiden‘ stellt die Echtheit, Natürlichkeit oder (in heutigen Begriffen) die Authentizität des Körpers in Frage. Damit öffnet sich eine Problematik der Schöpfung und Erkenntnis: Doris’ kunstseidener Leib muss erschaffen sein, und auch als künstlich erkannt werden. Wo es bei Klaus Mann aber noch das literarische Projekt war, einen „elektrischen Leib“[3] zu erfinden, ist Doris dessen problematisches Produkt. Die Frage, wie Doris zu ihrem Leib kommt, ist nahezu zwangsläufig.

Meine These ist, dass man die narrative Konstruktion Doris’ anhand des Motivs des Körpers herausarbeiten kann und dabei etwas über die Folge des Selbstbildes eines krisengeschüttelten Menschen zum Anfang des letzten Jahrhunderts herausfindet – oder die Neugestaltung des Körpers, sei es als Motiv oder Metapher, zumindest ein Stück weit besser versteht. Die Konstruktion der ‚krisengeschüttelten Menschen‘ legitimiere ich u.a. durch Gegenwartsanalysen Siegfried Kracauers, an denen sich das Selbstbild Doris’ brechen lässt und neue Facetten zutage treten.

In der heutigen Forschung wurde Keuns Konstruktion der Wirklichkeit, und damit des Blickwinkels auf Körper und Räume, in dem Begriff der Dissoziation aufgelöst und inhaltlich erweitert: „Das Verhältnis Erzählinstanz-Welt wird bei Irmgard Keun neu vermessen. Während sich die abendländische Identitätskonstruktion in der Auflösung befindet, entwirft die Autorin künstliche ‚Identitäten‘ als Subjekte der Geschichte, zitiert und konstruiert klassisch-literarische Weiblichkeits- (und Männlichkeits-)mythen, […] die auf die medial vermittelten Wahrnehmungsweise hindeuten.“[4] Daher werde ich nicht allein die Körper und ihre Wahrnehmung, sondern die Arten und Weisen der Konstruktion von Räumen und identitätsstiftenden Inhalten betrachten und analysieren.[5] Mein textanalytisches Vorgehen wird daher besonderen Fokus auf die Perspektivierung der Erzählung legen: Dafür, auch um den „medial vermittelten Wahrnehmungsweisen“[5] Rechnung zu tragen, werde ich Stanzel’sche Erzählanalyse und filmanalytische Methoden kombinieren.

2. Inszenierung der ‚goldenen Zwanziger‘, oder: Was ist der ‚krisengeschüttelte Mensch‘?

Doris ist eine erzählte Erzählerin, ein konstruiertes Subjekt, in dessen Wahrnehmungen, Erkenntnissen und Erinnerungen der Leser hineinblicken kann – das ist eine Chance, die Konstruktion der ‚goldenen Zwanziger‘ als Folge der aufkommenden ‚krisengeschüttelten Menschen‘ in doppelseitiger Betrachtung zu erfassen: Wie konstruiert das Subjekt Doris ihre Wirklichkeit, und wie beeinflusst die Wirklichkeit ihre Perspektive? Zur Frage der Ursächlichkeit und Ausprägung dieser zweiseitigen Modellierung hat Siegfried Kracauer schon zur Zeit Keuns relevante Topoi entworfen:

Filmkolportage und Leben entsprechen einander gewöhnlich, weil die Tippmamsells sich nach den Vorbildern auf der Leinwand modeln; vielleicht sind aber die verlogensten Vorbilder aus dem Leben gestohlen.[6]

Doris, die selbst Stenotypistin oder ‚Tippmamsell‘ ist, wird damit nicht nur Opfer der Medienwahrnehmung, sondern auch Schöpferin neuer Stereotypen. Das Wechselspiel zwischen Wirklichkeit und subjektiver Schöpfung des ‚modernen Menschen‘ wird in zirkulärer Weise fortgeführt.

Das erste Dilemma um Doris ist also eines der Wahrnehmung und Selbstkonstruktion: Konstruiert oder modelt Doris ihren Körper selbst, indem sie sich erzählerisch populärkultureller Medienphänomene bedient, um sich selbst und ihre Umwelt zu beschreiben, oder handelt es sich hier um eine fremdbestimmte Anschauungsform?

Das Motiv des Körpers wurde in der Keun-Forschung jedoch auch genutzt, um soziologische und genderbezogene Thematiken zu entschlüsseln. So wurde ‚der Körper als Medium der Erfahrung‘ vor allem als ‚typisch weibliche‘ Wahrnehmungsweise unter dem Einfluss patriarchalischer Machtstrukturen gedeutet.[7] Dies ist aber auch untrennbar mit der Selbstkonstruktion und Bildung von Stereotypen verbunden: „Es mag in Wirklichkeit nicht leicht geschehen, daß ein Scheuermädchen einen Rolls Royce-Besitzer heiratet; indessen, ist es nicht der Traum der Rolls RoyceBesitzer, daß die Scheuermädchen davon träumen, zu ihnen emporzusteigen? Die blödsinnigen und irrealen Filmphantasien sind die Tagträume der Gesellschaft[9], worin sich wieder das zirkuläre, in diesem Fall um sich selbst kreisende Selbstverständnis zeigt – auch, wenn es auf sozialen Unterschieden fußt. Ob es bei Doris explizit selbstreferenziell oder zirkulär ist, wird sich zeigen.

Das zweite Dilemma wäre somit das der gesellschaftlichen Zuordnung: Wo befindet sich Doris in der Gesellschaft und wo möchte sie hin? Hier zeigt sich auch, dass die Illusion (fiktionale Räume innerhalb fiktionaler Erzählungen) ihre Ursprünge in der materiellen Wirklichkeit haben kann. Daher ist Doris als Kind der Krisen nicht nur ein Kind des aufgelösten Subjekts, sondern vor allem ein Kind der sozialen Benachteiligung, das mit dem Körper den sozialen Ausgleich erringen möchte.

Zusammengefasst: Anhand der Motive ‚Körper‘ und ‚Raum‘ werde ich versuchen, sowohl die erkenntnistheoretische wie auch die soziale Neuorientierung Doris’ zu orten und beide zueinander in Beziehung zu setzen. Inwiefern das Ergebnis verallgemeinerbar ist, wird eine Frage des Fazits sein.

3. Zur Frage der Methode: Analyse und Interpretation mit filmanalytischen Begriffen

Doris’ Dilemmata sind komplex mit Stilen, Referenzen, Wechselspielen von Perspektive/Raum und Realität/Inszenierung durchwoben. Sie lassen sich mit verschiedenen analytischen Methoden ergründen und auf literarische Verfahren zurückführen[8]; doch wie sähe es konkret aus, eine filmanalytische Methode auf exemplarische Textstellen anzuwenden?

Die „medial vermittelten Wahrnehmungsweisen“[11] müssten auf Gesches Diagnose aufbauend weiteren Aufschluss über das Subjekt der ‚goldenen Zwanziger‘, ob inszeniert oder nicht, geben können. Ob und wie soll hier anhand der sprachlichen und perspektivischen Motive und Verfahren herausgefunden werden. ‚Perspektivisch‘ hat hier durchaus technische Implikaturen: Im Film gibt es u.a. die Erzählperspektive und „syntaktische Montageformen“[9], etwa Blickwinkel oder Einstellungen des Objektivs.

Wenn Keun wirklich mediale Wahrnehmungsweisen in literarische Verfahren einbettet, müssten sich diese mit teilweise fachfremden, medientheoretischen Methoden beschreiben lassen. Hinzu kommt Doris’ Anspruch „zu schreiben wie Film“[13], weshalb man sich die Frage stellen kann, ob dem konstruierten konstruierenden Subjekt die Konstruktion gelingt: „denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein.“[10]

Doch auch ein Filmstill als Bild will vom Leser verstanden werden, wobei in der Filmanalyse Begriffe aus den Literaturwissenschaften entnommen werden, um den Verständnisprozess zu beschreiben: Synekdoche wie Metonymie, meist als totum pro parte und parte pro totum verstanden, spielen beispielsweise eine wichtige Rolle bei der Entschlüsselung von Codes, die auch die „spezifische Syntax des Films bilden“[11]. Ein Bild bzw. der in ihm vorhandene Raum, seine Beziehung zu den Körpern (also das Setting) werden ähnlich einem sprachlichen Bild nach uneigentlichen Bedeutungen durchsucht. Insofern bleibt auch die filmische Analyse immer an genuin literarische Analyseformen gekoppelt.

Bildhaftes Sprechen bleibt eine Grundvoraussetzung für die Benutzung filmanalytischer Begriffe bei der Analyse eines Textes; eine perspektivische Implikatur jedoch auch: Ohne eine (bildliche) Vorstellung des Geschriebenen wäre dieses Vorgehen seiner Grundlage enthoben. Franz K. Stanzel beschreibt den Vermittlungsweg beim personalen Erzähler in drei Schritten:

Leser (Erwartung) – Gestalt des Romans als personales Medium (ihr Jetzt und Hier im jeweiligen Moment der Handlung, die dargestellte Welt als ihr Bewußtseinsinhalt […] – Leser (in seinem Vorstellungsbild erscheint die dargestellte Welt, wie sie sich im personalen Medium gespiegelt hat, zusammen mit dem Eindruck, den die Persönlichkeit dieses Mediums auf den Leser macht).[12]

Damit wird das im Leser erzeugte Vorstellungsbild zum inneren Film und die Worte und Sätze zu filmästhetischen Mitteln: Nach Kaemmerling ist eine filmische Sentenz mit einem Satz vergleichbar;[13] da der Schnitt meist mit einem Wechsel der Sentenz einhergeht, sehe ich im Satzzeichen die Möglichkeit einer Einstellungskonjunktion.[14]

Wie stark sich dies in Doris’ Stil zeigen wird ist eine Frage der Analyse und damit des folgenden Abschnitts der Untersuchung. Um die syntaktischen Muster auf die Möglichkeit visuell vorstellbarer Filmschnitte zu analysieren, wird eine detaillierte Analyse vonnöten sein. Um den Rahmen leicht fassbar zu halten, werde ich nur den Romanbeginn bearbeiten[15] und lediglich die Grundtendenzen der Körperhaftigkeit im Denken von Doris festhalten.

4. Einstieg in den Roman: Erzählperspektiven als Einstellungsperspektiven

Das kunstseidene Mädchen lässt sich vorläufig nach Stanzel als Ich-Erzählung einordnen: Es gibt ein erzählendes Ich, das sich meist dem Leser präsent zeigt und den Roman in grobe Abschnitte (ähnlich Tagebucheinträgen) einteilt.[20] Zudem gibt es ein erlebendes Ich, das verschiedene Eindrücke im Präteritum schildert.

Der erste Abschnitt beginnt ohne Einleitung eines erzählenden Ichs. Doris befindet sich zu diesem Zeitpunkt noch in ihrer Heimatstadt und reflektiert rückblickend ihre Ausgangspunkte und Chancen für den sozialen Aufstieg; dies wird direkt mit einer zeitlichen und räumlichen Einordnung, einem festgelegten ‚Setting‘, inszeniert und mit einem Gefühl verknüpft: „Das war gestern abend so um zwölf, da fühlte ich, daß etwas Großartiges in mir vorging. Ich lag im Bett –.“[21] Das Setting enthält, obwohl reduziert beschrieben (es ist nicht Mitternacht, sondern ‚so um zwölf‘) romantische Aspekte:[22] Das im Leser entworfene Bild eines denkenden und fühlenden Subjekts, das empfindsam an der Grenze zweier Tage von seinen Gefühlen übermannt wird, ist vorläufig nicht selbstkritisch. Es ließe sich schlecht dem ‚krisengeschüttelten Menschen‘ zuordnen, weil es überzeugt, wenn auch nicht hochtrabend, dem Leser seine Gefühle mitteilt.

Dieses Bild wird jedoch jäh durch den Gedankenstrich, nachfolgend einem Adjunkt ‚eigentlich‘ und der Einführung einer weiteren Zeitebene im Plusquamperfekt durchbrochen: „[E]igentlich hatte ich mir noch die Füße waschen wollen, aber ich war zu müde wegen dem Abend vorher“[23]. Die grammatikalische Verdeutlichung des Wechsels der Zeitebene löst sich wiederum im Präteritum des folgenden Nebensatzes, worin sich die grammatikalische Unbeholfenheit des Subjektes äußert: Eine dritte Zeitebene wird eingebaut, die des letzten Abends; der Wunsch sich die Füße zu waschen hätte, um grammatikalisch korrekt zu schreiben, im Perfekt beschrieben werden müssen und der vorhergehende Abend im Plusquamperfekt.

Auch auf inhaltlicher Ebene wird die zumindest bildlich sprechende Szene mit der Banalität der ungewaschenen Füße konfrontiert. Darin könnte sich zeigen, wie die Realität des Lebens Motiven entgegengesetzt ist, die populärkulturell überformt sind: Wo die großen Gefühle herrschen, sind die schmutzigen Füße und die Übelkeit vom letzten Abend die eigentlichen Ursachen.

Gleichzeitig zeigt es allerdings auch, wie ein physisches, weil hygienisches Körperattribut die unkonkreten inneren Vorgänge unterbricht. Die Illusion, man selbst sei im Film, als Teil eines für sich stehenden ‚Großartigen‘, wird hier nicht konsequent durchgeführt und zugunsten des Alltäglichen und spontanen Gedankenreizes durchbrochen. Würde man hier mit jedem Satzzeichen einen Schnitt setzen, dazu noch einen Wechsel einer Perspektive, von dem Bett zu den Füßen, zu dem Abend vorher und dem angerissenen Dialog, dass Doris „schon gleich zu Therese gesagt“[16] hatte, „[e]s kommt nichts bei raus, sich auf der Straße ansprechen zu lassen, und man muss ja immerhin auf sich halten.“[17], käme man eher bei einem modernen Videoclip heraus als bei Berlin, Sinfonie einer Großstadt. Denn bei diesen ‚cross-section‘- oder ‚Montage-Filmen‘, die Irmgard Keun und ihrer Erzählerin Doris bekannt sein könnten, treten „shots on the rhythmic movements“[18] auf: Schnelle Schnitte sind da, doch das Motiv und der Rhythmus der Schnitte bleibt weitgehend und kontinuierlich erhalten. Bei Doris nicht, der ablaufende Film gleicht eher einem Gedankenstrom, der das Thema und Motiv mit jedem Halbsatz wechseln kann. Eine inhärente rhythmische Struktur, auch in den Satzlängen, ist nicht vorhanden.

Später wird das Setting jedoch wieder aufgenommen und erweitert; dies allerdings funktioniert nur, indem sich Doris von ihrem Körper ‚befreit‘, nur noch Auge ist und „sich gleich einer Kameralinse“[19] öffnet: „Und dann lag ich so und schlief schon am ganzen Körper, nur meine Augen waren noch auf – der Mond schien mir ganz weiß auf den Kopf – […].“[20] Hier wird der visuell darstellbare Einwurf, eine Sicht auf sich selbst (was in der Einstellungsperspektive der Kamera als Aufsicht realisiert sein könnte, also visuell darstellbar ist), mit Gedankenstrichen eingeführt; fast wie bei einem Schnitt eines Filmes, hier zeittypisch kurz gehalten[21] und neu montiert. Das bildhafte Sprechen zu Beginn des Textes wurde ebenfalls mit einem Gedankenstrich unterbrochen und zugunsten der realen Körpererfahrung abgeblendet.

Auch das letztgenannte Zitat endet in einem Gedankenstrich. Es folgt ein neuer Gedankengang, im Präsens als Feststellung, angeregt durch das ästhetisierte Bild des Mondlichtes über dem Nachtbett: Der Raum bzw. das Setting wird von Doris dahingehend reflektiert, dass „Hubert mich nicht sehen kann, der doch schließlich und endlich der einzige ist, den ich wirklich geliebt habe“[30]. An dieser Stelle zeigt sich, dass die Erzähldistanz zwischen erzählendem und erlebendem Ich zusammenschrumpft und der Gedanke der schreibenden Doris sich mit dem filmischen Erinnern vermengt. Direkt darauf wird der Gedanke jedoch wieder in ein Bild gefügt, das sich in das Setting fügt: „Da fühlte ich wie eine Vision Hubert um mich, und der Mond schien, und von nebenan drang ein Grammophon zu mir, und da ging etwas Großartiges in mir vor – […].“[31]

König, © Federico GhidinelliDie Feststellung wandelt sich in eine Vision und die Vision wird in einen Klang, dessen Ursprung nicht gesehen wird, übersetzt – Schritt für Schritt wird das Setting im Wechselspiel mit Reflexionen und körperlichen Empfindungen metaphorisch erweitert, dann aber wieder durch einen Gedankenstrich unterbrochen, um zu erkennen, dass es „auch früher manchmal“[32] dieses Gefühl in Doris gab „ – aber da doch nicht so sehr“[33].

Diskontinuierlich wird der Gedankengang fortgesetzt; der Gedankenstrich übernimmt hier nicht mehr die Funktion einer Blende, sondern die der Rechtfertigung eines Einschubs, der kurz darauf wieder relativiert, fast gänzlich negiert wird. Hierin zeigt sich vor allem eine jugendlich-stürmische Unsicherheit, die zwar überzeugt spricht und schreibt, aber den eigenen Gedanken vorauseilt, sodass diese im Nachhinein widerrufen werden müssen. Ein bleibendes Bild, in dem Doris sich selbst konstituiert, also sich einen Körper erschafft, und wenigstens in ein visuell vorstellbares Setting einbindet, ist hier nicht mehr möglich. Die Gedankensprünge haben vor der Medienreplikation im Buch überhand gewonnen, was sich nicht zuletzt darin begründen ließe, dass Doris hier an einen kritischen Punkt gekommen ist: Von dieser Unsicherheit eingeleitet, muss sie sich selbst in Konfrontation mit der ungesehenen, durchschnittlichen Masse der Bevölkerung wiederfinden. Und an dieser Stelle beginnt eine Erklärung dafür, warum Doris besonders sei, warum sie sich von den normalen Menschen abhebt, eben Großartiges fühlt. Es scheint für Doris keine Selbstverständlichkeit in der Individualität liegen; sie muss erst begründet und dargestellt werden, bevor sie Tatsache wird. Und hier fällt auf, dass Doris beginnt, ,kontinuierlich‘ zu schreiben (obwohl kein stringenter Erzähl- oder Gedankenstrang vorhanden ist), nämlich unter dem Paradigma der Individualität, was sie nicht zuletzt dadurch sichert, dass sie sich immer wieder vor Augen führt, dass sie „etwas Besonderes“ in sich hat, „ganz verschieden“ und ein „ungewöhnlicher Mensch“[22] ist – und dennoch, was anscheinend zum Bild des Besonderen gehört, kein Gedicht schreibt. Das größte Hindernis liegt in einer Formalität; sie ist nicht in der Lage, dem Gefühl eine in sich geschlossene Form zu geben: „und dann hätte es sich womöglich reimen müssen.“[35]

Dies scheint ein typisches Thema zu sein für „ein Mädchen von achtzehn“[23]: die Suche nach der eigenen Identität zum Abschluss der Pubertät, „die Vorstellung eines 18-jährigen Mädchens von ihrer umwerfenden Persönlichkeit – wie bei einem 18-jährigen Mädchen eben“[24]. Doch Doris benötigt diese Extravaganz, um ihr Schreiben legitimieren: „Und ich denke, daß es gut ist, wenn ich alles beschreibe, weil ich ein ungewöhnlicher Mensch bin.“[25] Ohne die deutliche Abgrenzung zu einem unbestimmten Mittelmäßigen gibt es keinen Grund für Doris, zu schreiben. Darin zeigt sich eine zirkuläre Denkweise: Um sich selbst als besonders zu bestätigen, schreibt Doris, entwickelt ein von Medien geprägtes Bild, in dem sie selbst aufgeht; doch dann kehrt es sich um und erst ihre Besonderheit berechtigt sie, Bilder zu entwerfen. Imagination und Identitätskonstruktion des Subjekts erscheinen hier zirkulär, ganz abgesehen davon, dass Doris gerade durch ihren Wunsch nach Individualität stereotyp wird.

Es zeigt sich, dass „die Szene hier [zu Anfang des Romans, T.K.] an den zeitgenössischen Film und die Fotographie angelehnt“[26] ist, der filmische Blickwinkel aber einzig besteht, „damit sie [Doris] ihre Erzählungen (aus dem Off) beginnen kann“[27]. Das Verhältnis zwischen visueller Darstellung und freiem Gedankenstrom lässt sich jedoch nicht eins zu eins mit einer Erzählung aus dem Off und dem dazugehörigen Bild gleichsetzen. So zeigt sich beispielsweise auch bei Überlegungen, Ich-Erzählungen in Filme zu ‚übersetzen‘, die Schwierigkeit dieses Verhältnisses:

Ich-Erzählungen stellen Filmregisseure vor ganz andere Probleme der Umsetzung in das filmische Medium als auktoriale Er-Erzählungen, weil die Filmkamera zwar sehr gut, besser sogar und leichter als die literarisch Erzählung, die räumliche Perspektive scharf zu erfassen in der Lage ist, bei ausführlicheren Wiedergabe der Subjektivität einer Romanfigur, wie sie sich in einer Ich-Erzählung ergibt, jedoch erhebliche Schwierigkeiten begegnet, deren Überwindung fast immer einen großen darstellungstechnischen Aufwand erforderlich macht.[28]

Und gerade diese Subjektivität in Doris‚ Beschreibungen ist immens.

5. Fazit

Der Romanbeginn lässt sich nur teilweise mit medialen Analysetechniken erarbeiten; zu oft wird das bleibende Bild eines Films zugunsten eines neueren, suggestiven Gedankens zerbrochen. Gleichzeitig ist es dies, was den Text mit dem Film verwandt macht: Die suggestive Kraft der abgehackten Sätze. Auch im Film wird mit Codes gearbeitet, die intuitiv zu verstehen sind, uns bei ihrer Aufschlüsselung jedoch an die Grenze einer methodischen Analyse stoßen lassen. Es ist also deutlich geworden, dass der Körper in Das kunstseidene Mädchen stilistisch nicht alleine in filmischem Erzählen, sondern gerade durch den Bruch des Bilderflusses konstituiert wird. Damit wird nicht nur die materielle Grundlage der Wahrnehmungsdiskontinuitäten hervorgehoben, sondern auch die Inkonsequenz im Denken. Der ‚krisengeschüttelte Mensch‘ wäre dieser Betrachtung zufolge vor allem aus tendenziell banalen Gründen verzweifelt. Um jedoch zu dieser Verallgemeinerung zu kommen, müsste der gesamte Roman und seine gesellschaftliche Repräsentations- und Einflusskraft analysiert werden.

Inwiefern sich die Ergebnisse im weiteren Verlauf des Buchs erhalten oder sich gar gänzlich auflösen, wäre eine Aufgabe weiterer Forschung. Der anfänglich entstandene Effekt einer Oszillation zwischen Opulenz und Banalität lässt sich dabei gut mit der aktuellen Forschung verbinden und beschreiben: „Man tut Doris unrecht, wenn man ihre Gedankenwelt für illusionär hält und liegt doch nicht ganz daneben.“[29] Ein Subjekt lässt sich also finden; dieses aber löst sich selbst wieder auf, befindet sich in einer unendlichen Spirale seiner eigenen Selbstschöpfung: Die Bewältigung der Kontingenz des eigenen Lebens ist zirkulär und damit unendlich, unabschließbar geworden. Stärker noch: Dass Doris ihre eigene Geschichte erzählt und reflektiert, ermöglicht für sie kein Verständnis eines tieferliegenden Sinns im Leben. Wenn kein tieferer Sinn im Erzählen gefunden werden kann, wie lässt sich Doris dann fassen?

Man kann Doris letztendlich darin zusammenfassen, dass sie viel und diskontinuierlich schreibt, sich selbst konstruiert und widerruft, selbst die Selbstnegation immer wieder neu umprägt; sie hat keine andere Wahl, wenn sie die Wirklichkeit erfassen will. Aus schwierigen Verhältnissen kommend, ohne sozial abgesicherte Zukunft und lebenserfüllende Tätigkeiten, kann sie nicht mehr tun, als ein solches Mosaik der Gedanken, die der spontanen Wirklichkeit entspringen, zu entwerfen:

Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage photographiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild.[30]

Selbst wenn Doris’ Leben kontingent[31] bleibt: Irmgard Keun hat damit eine Paradoxie, die ihre Umstände in den sozialen Widrigkeiten besitzt, erfasst und literarisch umgesetzt und durch die Stimme Doris’ den Effekt der geistigen und sozialen Obdachlosigkeit dargestellt; durch den Griff zum fiktionalen Ich-Erzähler, dessen Grenze zwischen gegenwärtiger Realität, Erinnerungen, letzten Erlebnissen und grundsätzlichen Grenzen und Möglichkeiten des Verständnisses ersichtlich werden kann, hat sie, zumindest im Romananfang, Kontingenz zur Sprache gebracht. Und ist damit vielleicht doch nicht so banal, wie es scheinen mag.

Freie Universität Berlin, Wintersemester 2012/13

[1] Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. Berlin 1932; hier zitiert nach, Berlin 2008.

[2] Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. München: Edition Spangenberg im Ellermann Verlag 1981 [1942]. S. 138.

[3] Ebd.

[4] Gesche Blume: Irmgard Keun. Schreiben im Spiel mit der Moderne. Dresden: Thelem 2005. S. 205.

[5] Es sei angemerkt, dass ich den Fokus nicht auf das Gesamtwerk Keuns, sondern allein auf ‚Das kunstseidene Mädchen‘ legen werde, und dabei vor allem auf die Wirklichkeitskonstruktionen der Protagonistin Doris, nicht die der Autorin eingehen werde – die analysierten literarischen Verfahren hingegen bleiben nahezu dieselben.

[5] Ebd.

[6] Siegfried Krakauer: Das Ornament der Masse. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. S. 280.

[7] Vgl.: Ursula Krechel: „Irmgard Keun: Die Zerstörung der kalten Ordnung. Auch ein Versuch über das Vergessen weiblicher Kulturleistungen.“ In: Literaturmagazin. Nr. 10. (1979). S. 103-128. „Sie [Doris] hat keinen Begriff davon, aber die Erfahrung, daß der Platz in der Welt, der ihr auf Grund ihrer Klassenzugehörigkeit zusteht, ein kläglicher ist, auf dem es allenfalls für Kunstseide reicht, nie jedoch für die bestaunten Güter der herrschenden Klasse.“ (S. 107)

[9] Ebd.

[8] Vgl. Daniel Lutz: „Alles ist schon da. Effekte der Präsenz bei Irmgard Keun.“ In: Text + Kritik. Nr. 183. Hrsg. von Stefan Scherer. München 2009. S. 26-34. Hier S. 27: „Durch literarische Verfahren werden Effekte des Gegenwärtigen und Körperlichen erzeugt, die in der Lektüre ihre Wirklichkeit entfalten.“

[11] Vgl. Gesche Blume: Irmgard Keun. S. 205.

[9] Ekkat Kaemmerling: „Rhetorik als Montage.“ In: Semiotik des Films. Hrsg. von Friedrich Knilli. München: Hanser 1971. S. 94-112. Kaemmerling entwirft ein eigenes Konstruktionsprinzip zur Interpretation des Films, das sich an der Linguistik orientiert. Sein Vokabular werde ich nur teilweise anwenden, zumal ich den umgekehrten Weg verfolge: Den Film im Buch entdecken, nicht das Buch im Film.

[13] Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. S. 8.

[10] Ebd.

[11] James Monaco: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien.

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995.

[12] Franz K. Stanzel: Die typischen Erzählsituationen im Roman. Wien: Braunmüller 1963. S. 29.

[13] Vgl. Ekkat Kaemmerling: „Rhetorik als Montage.“ S. 99.

[14] Eine Einstellungskonjunktion beinhaltet nach Kaemmerling folgende filmische Mittel: „Schnitt/ Abblende/Auf-blende/Überblende/Klappblende/Jalousie-/Schieb-/Rauch-/Zerreiß-/Unschärfe-/ Fettblende/Cash.“ ebd. S. 95.

[15] Romananfänge wurden nicht selten als richtungsweisend, elementar und zusammenfassend für den gesamten Roman gesehen. Dennoch verliert sich „die Determination von Anfang und Schluss“ zuweilen. Je nach Betrachtungsweise gewinnt oder verliert der Romananfang an Wert für den Roman, selbst der Begriff ‚Anfang‘ kann angegriffen werden. Es steht zur Debatte, inwiefern der Romananfang als pars pro toto für den gesamten Roman gelten kann, doch die Möglichkeit ist sichtbar. Inwiefern das auf Das kunstseidene Mädchen zutrifft, wäre jedoch das Anliegen einer weiteren Arbeit und kann in dieser Kürze nicht diskutiert werden. Vgl. Norbert Miller (Hg.): Romananfänge. Versuch zu einer Poetik des Romans. Berlin: Literarisches Colloquim 1965. S. 7.

[16] z.B. „Morgen schreibe ich mehr.“ (S. 10); „Das war ein Tag.“ (als Einleitung) (S. 52) Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. S. 7.

[17] Der Begriff romantisch ist eigentlich zu vielschichtig, als dass er in diesem Kontext benutzt werden könnte; gemeint ist: idealisierend, ästhetisierend.

[18] Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. S. 7.

[16] Ebd.

[17] Ebd.

[18] Vgl. Siegfried Kracauer: From Caligari to Hitler. Princeton: Princeton Univ. Press. S. 185.

[19] Gesche Blume: Irmgard Keun. S. 61.

[20] Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. S. 7.

[21] Vgl.: Michael Cowan: „The Heart Machine: Rhythm and Body in Weimar Film and Fritz Lang’s Metropolis.“ In: Modernism/modernity. Nr. 14 (2007). S. 225-248. Insbesondere S. 228 gibt Aufschluss über die beschleunigte Schnittfrequenz; ihre Beziehung zur lebensweltlichen Erfahrung wird dabei ausdifferenziert: „It would be difficult to overlook the connection between the experience of modernization in terms of accelerated rhythms and the fascination with accelerated montage in 1920s cinema.“

[22] Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. S. 7. Anm.: Hubert ist eine Jugendliebe von Doris. Er wird später im Buch immer durch die Beziehung zu Doris charakterisiert, bekommt dabei aber kaum Charaktereigenschaften zugeschrieben.

[23] S. 7f.

[22] Ebd.

[35] Ebd.

[23] Ebd.

[24] Daniel Lutz: „Alles ist schon da.“ S. 28.

[25] Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen. S. 7.

[26] Gesche Blume: Irmgard Keun. S. 61.

[27] Ebd.

[28] Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989. S. 117f.

[29] Daniel Lutz: „Alles ist schon da.“ S. 26.

[30] Siegfried Kracauer: Die Angestellten. Leipzig/Weimar: Kiepenheuer 1981. S. 16.

[31] Ich verwende den Begriff hier im Sinne Luhmanns: „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (zu Erfahrendes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.“ Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984. S. 152.

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