1. Einleitung
Sucht man im Neuen Pauly nach einem Artikel zu Lucretia, stößt man auf folgende Darstellung: „[…] [2] Gattin des Collatinus; von dem röm. Königssohn Sex. Tarquinius vergewaltigt, verpflichtet sie ihren Gatten sowie L.Iunius […] Brutus und P.Valerius zur Rache und tötet sich selbst. Dieser Vorfall leitet die Vertreibung der Tarquinier aus Rom und damit den Sturz der Königsherrschaft ein […]“[1].
Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Lexikonartikel dem Leser lediglich einen ersten Überblick zu einer bestimmten Thematik verschafft. Dennoch ist dieser Artikel derart knapp gehalten, dass grundlegende Hintergründe zur Vergewaltigung Lucretias im Dunkeln bleiben, sodass sich hier dem Leser gar nicht die Frage stellt, ob man bei der Tat tatsächlich von einer Vergewaltigung sprechen kann; jedoch lassen sowohl die geschilderten Umstände der Tat als auch die Art und Weise, wie Schuld bzw. Unschuld Lucretias zumindest in der livianischen Version immer wieder zwischen den Zeilen erörtert wird, daran Zweifel aufkommen. Dass außerdem die Vorstellungen darüber, was eine Vergewaltigung ausmacht, zwischen heute und damals weit auseinandergehen, wird in vielen Interpretationen der Lucretia-Erzählung vernachlässigt. Zweifelsohne wird das, was sich zwischen Lu-cretia und Sextus Tarquinius Superbus zugetragen haben soll, als verbrecherische Tat des Königssohnes verurteilt. Livius gibt allerdings in seinem Text Hinweise darauf, dass sich seine Version der Lucretia-Erzählung auch mit der Frage nach einem möglichen Schuldanteil Lucretias befasst.
Um ein umfassendes Bild vom Umgang der römischen Gesellschaft mit Ver gewaltigung bzw. Ehebruch gewinnen zu können, ist es ratsam, sich mit den geltenden Gesetzen der damaligen Zeit auseinanderzusetzen. Wenn man also die zu Livius’ Lebzeiten aktuelle Justizreform des Augustus, unter die auch die Lex Iulia de adulteriis coercendis[2] fällt, in derartige Überlegungen einbezieht, gewinnt man einen veränderten Blick darauf, was Livius mit seiner Darstellung der Lucretia-Geschichte intendiert haben könnte.
Im Folgenden soll nach einer Übersetzung der Textstelle Liv I, 58.7-10[3] die livianische Version der Lucretia-Erzählung beschrieben werden. Daraufhin wird erläutert, inwieweit die übersetzte Textstelle einem Gerichtsverfahren ähnelt und welche Erklärungen es für diese Analogie gibt. In einem weiteren Komplex soll die Lex Iulia de adulteriis coercendis kurz vorgestellt werden und des Weiteren die Aspekte, die für eine Einordnung Lucretias als adultera[4] bzw. per vim stuprata[5] relevant sind, eingehender betrachtet werden. Dazu wird in einem Exkurs auf das Thema ‚Vergewaltigung‘ aus römischer Sicht eingegangen, was in besagtem Gesetz nicht behandelt wird. Nach einer Einordnung Lucretias als adultera aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse wird abschließend die Problematik erörtert, wie Lucretia, wenn sie zur Ehebrecherin erklärt wird, gleichzeitig ihrer Vorbildfunktion als exemplum pudicitiae[6] gerecht werden kann.
2. Übersetzung (Liv I, 58.7 – 58.10)
(7) […] „Bist du wohlauf?“ „Keineswegs!“, sagt sie; „denn wie kann eine Frau wohlauf sein, wenn sie ihre Tugendhaftigkeit verloren hat? Die Spuren eines fremden Mannes, Collatinus, sind in deinem Bett! Doch ist nur mein Körper befleckt, mein Geist ist unschuldig; der Tod wird mein Zeuge sein. Aber gebt mir eure Rechte und euer Wort, dass der Ehebrecher nicht ungestraft davonkommen wird![7] (8) Sex.Tarquinius ist es, der sich statt als Gastfreund als Feind vergangene Nacht eine mir und ihm – wenn ihr richtige Männer seid – Unheil bringende Freude genommen hat.“[8] (9) Alle geben sie der Reihe nach ihr Wort; sie trösten die im tiefsten Inneren Leidende, indem sie die Schuld von der Genötigten auf den Urheber des Verbrechens abwälzen: Es sündige der Geist, nicht der Körper, und wo die Absicht gefehlt habe, gebe es keine Schuld.[9] (10) „Ihr“, sagt sie, „habt hoffentlich gesehen, was jener verdient. Ich aber erlasse mir, auch wenn ich mich von Schuld freispreche, nicht die Strafe. Und von nun an soll keine Schamlose unter Berufung auf das Beispiel der Lucretia weiterleben können.“10
3. Livius’ Version der Lucretia-Geschichte
Im Folgenden wird die Lucretia-Geschichte des Livius[10] zu wiederholtem Male dargestellt, auch wenn die Grundzüge des Geschehens allgemein bekannt sein dürften. Der Fokus liegt dabei auf der Art und Weise, wie Livius was erzählt. Außerdem werden vor allem die Textstellen behandelt, die eine Bewertung der Lucretia als adultera oder per vim stuprata ermöglichen.
Die Erzählung beginnt und endet mit Taten von Männern, wobei das Ende durch die Abschaffung des Königtums und den gleichzeitigen Beginn der Republik – maßgeblich von L.Iunius Brutus herbeigeführt – eine entscheidende Wende in der römischen Geschichte markiert. Die anfänglichen Taten erscheinen dagegen weniger heroisch: Die Römer belagern auf Befehl ihres Königs L.Tarquinius Superbus die Stadt Ardea. Da dieser Krieg „eher langwierig als heftig“ (longo magis quam acri[11]) ist, vertreiben sich die jungen vornehmen Männer ihre lange Zeit bei gemeinsamen Gelagen. Bei dieser Gelegenheit entbrennt zwischen den Männern – unter ihnen der Königssohn Sextus Tarquinius Superbus, seine Brüder und Collatinus – ein Streit darüber, wer die bessere Frau habe, und sie schließen daraufhin eine Wet te ab. Um eine Siegerin ermitteln zu können, reiten sie schließlich auf Collatinus’ Vorschlag zurück nach Rom bzw. Collatia, um die Frauen inmitten ihrer jeweiligen Beschäftigung zu überraschen und dementsprechend zu beurteilen.
Während die Schwiegertöchter des Königs sich wie die Männer bei Gelagen vergnügen, spinnt Lucretia im Kreise ihrer Dienerinnen noch in später Nacht Wolle, weshalb sie von allen als mustergültige Ehefrau anerkannt wird. Bei dieser Gelegenheit erwacht in Tarquinius Superbus eine „üble Lust, Lucretia mit Gewalt zu schänden“ (mala libido Lucretiae per vim stuprandae[12]). Also kehrt Tarquinius, nachdem sie wieder nach Ardea geritten sind, bei nächster Gelegenheit nach Collatia zurück, um seinen Plan, Lucretia zu vergewaltigen, umzusetzen. Indem er sich zunächst als Gastfreund ausgibt – schließlich ist er ein Verwandter des Collatinus – wird er freundlich aufgenommen; erst mitten in der Nacht schleicht er sich in Lucretias Schlafzimmer, wo er sie mit einem Schwert bedroht. Tarquinius vergewaltigt sie allerdings nicht, nachdem er ihr das Schwert an die Brust gehalten hat, sondern „gesteht ihr […] seine Liebe, trägt seine Bitte vor, mischt Drohungen mit Bitten und lässt den Geist der Frau von einem Entschluss zum anderen eilen“[13].
Weit präsenter als die Todesdrohung sind hier offenbar Tarquinius’ Bemühungen, Lucretia zu einem einvernehmlichen Geschlechtsakt zu bringen. Auch die Drohung, sie werde sterben, wenn sie auch nur einen Laut von sich gebe (moriere, si emiseris vocem[15]) ist nicht nur als Druckmittel von Seiten des Königssohnes zu sehen. Vielmehr setzt Tarquinius das Schwert ein, um Zeit für seine Überzeugungsversuche zu gewinnen. Dennoch droht er ihr schließlich auch den Tod an, sollte sie sich nicht willig zeigen, und, als auch das nicht reicht, die Schande: Er werde sie und einen Sklaven töten, den er nackt neben sie legen werde, um hinterher behaupten zu können, er habe beide beim Ehebruch entdeckt und deshalb getötet. Erst die im folgenden Satz auftretende Formulierung „nach der Eroberung des weiblichen Schmuckes“ (expugnato decore muliebri[14]) macht deutlich, dass Tarquinius sich durchgesetzt hat, da Livius die Beschreibung des Aktes selbst ausspart.
Obwohl Tarquinius Superbus mit einem Schwert bewaffnet ist, erscheint er bei seinen Versuchen, sich der schwachen, eben erst aus dem Schlaf gerissenen Frau zu bemächtigen, erstaunlich hilflos. Zwar klingt die wörtliche Rede noch ziemlich verwegen, doch wirken das Liebesgeständnis und die offenbar zahlreichen Bitten (orare, miscere precibus[17]) weniger einschüchternd, da er nun als Bittsteller auftritt.
Auch wenn er seine Druckmittel steigert (Liebe – Bitte – Drohung – Todesdrohung – zusätzliche Androhung der Schande[15]), scheint er nicht Ernst machen zu wollen, da er offenbar auf ein „Ja“ Lucretias hofft und bereit ist, solange zu warten, bis sie zustimmt. Also muss trotz der darauf folgenden Leerstelle von einer – wenn auch durch Erpressung erzwungenen – Zustimmung Lucretias ausgegangen werden, da sie sich offenbar dafür entscheidet, die angedrohte Inszenierung ihres Ehebruchs mit einem Sklaven nicht zuzulassen.
Im weiteren Verlauf lässt Lucretia ihren Vater und Ehemann mit jeweils einem Freund – unter ihnen der spätere Revolutionsheld L.Iunius Brutus – kommen. Die Frage ihres Mannes, ob sie wohlbehalten sei, verneint sie nachdrücklich und führt aus, was geschehen ist: Sie beschreibt sich als eine Frau, die ihre pudicitia verloren habe, allerdings nicht freiwillig: „Doch ist nur mein Körper befleckt, mein Geist ist unschuldig.“ (ceterum corpus est tantum violatum, animus insons.[16]). Ohne auf den genaueren Tathergang einzugehen, erwähnt sie die Spuren des fremden Mannes im Bett ihres Gattens (vestigia viri alieni, Collatine, in lecto sunt tuo[17]) und hebt damit hervor, dass das eigentlich Skandalöse, was sich ereignet hat, nicht ihre Schändung an sich ist, sondern der damit verbundene Ehebruch.
Bevor Lucretia die Männer schließlich auffordert, Rache an Tarquinius Superbus zu üben, kündigt sie lakonisch und fast nebenbei ihren Selbstmord an: mors testis erit.[18] Diese Aussage scheinen die Männer geradezu überhört zu haben; sie rechnen nämlich offenbar nicht mit dem Selbstmord oder zumindest nicht so schnell, was ihr plötzlicher Aufschrei als Reaktion auf Lucretias Selbsttötung (conclamat vir paterque[19]) verdeutlicht. Dass die Männer dagegen Lucretias Selbstmord von vornherein begrüßen und unterstützen, geht aus der livianischen Version nicht hervor. Lucretias Andeutung gerät vielmehr gegenüber ihrer feierlichen Aufforderung zur Rache an Tarquinius Superbus in den Hintergrund.
Nachdem die Männer ihr diese Rache zugesichert haben, sprechen sie ihr Trost zu und stellen ihre Bewertung der Tat dar: „Es sündige der Geist, nicht der Körper, und wo die Absicht gefehlt habe, gebe es keine Schuld“ (mentem peccare, non corpus, et unde consilium afuerit culpam abesse[20]). Dennoch beharrt Lucretia im Folgenden darauf, dass ihnen die Aufgabe der Rache zukomme, sie selbst sich aber – obwohl schuldlos – die Strafe nicht erlasse. Die emphatische Wortstellung[21] jeweils am Satzanfang (vos – ego) verdeutlicht die stark voneinander abweichende Aufgabenvertei lung, indem Lucretia den Männern den Auftrag zur Rache gibt, sich selbst aber eine völlig andere Pflicht auferlegt.
Bevor sie sich das unter ihrem Gewand verborgene Messer ins Herz stößt, spricht sie folgende Worte: „Und von nun an soll keine Schamlose unter Berufung auf das Beispiel der Lucretia weiterleben können.“ (nec ulla deinde impudica Lucretiae exemplo vivet.[22]). Damit drückt sie ihre Furcht aus, dass sich irgendwelche schamlosen Frauen auf ihr Beispiel berufen und damit ihrer gerechten Strafe entgehen könnten, sollte sie sich nicht das Leben nehmen. Lucretias letzte Worte verweisen damit nicht nur auf einen weiteren Grund für den in ihren Augen unausweichlichen Selbstmord, sondern auch auf die Zukunft, in der es ihrer Meinung nach immer wieder schamlose Frauen geben wird. Dass dieser Gedanke an zukünftig zu bestrafende impudicae[23] nicht zufällig am Ende der eigentlichen Lucretia-Geschichte steht und als letzte nachdrückliche Stellungnahme Lucretias zum Umgang mit Ehebrecherinnen zu verstehen ist, wird im Folgenden genauer darzulegen sein.
4. Lucretia vor dem iudicium domesticum: Abbildung eines Gerichtsverfahrens
Die Art und Weise, wie Livius seine Version der Lucretia-Geschichte in 58.7-10 erzählt, erinnert sehr stark an ein Gerichtsverfahren, wie es sich vor einem iudicium domesticum[24] auch zu Lucretias „Lebzeiten“ durchaus abgespielt haben könnte. Dies liegt zum einen am juristisch gefärbten Vokabular,[25] zum anderen an der Gliederung der Stelle in vier Abschnitte, die übliche Redeteile eines Prozesses abbilden. Den Beginn macht die Zeugenbefragung des Ehemanns Collatinus (Satin salve?[26]), der die weinende Lucretia nur vordergründig nach ihrem Befinden fragt, obwohl offenkundig ist, dass es ihr nicht gut geht. Vielmehr ahnt er, dass etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein muss – schließlich hatte der Bote schon einen schwerwiegenden Vorfall (rem atrocem[27]) angekündigt – und möchte sie durch diese Frage ermuntern, zu berichten, was geschehen ist. Dieser Teil kann als Zeugenaussage verstanden werden, auch wenn Lucretia darauf verzichtet, den detaillierten Tathergang zu beschreiben, da sie mit dem Tod einen äußerst glaubwürdigen Zeugen aufruft, der weitere Aussagen überflüssig macht. Es folgt der Richterspruch der Männer, die Lucretia von jeglicher Schuld freisprechen, da es ihr an Vorsatz (consilium[28]) gemangelt habe, was in deren Augen offenbar die Voraussetzung für Schuld ist.[29]
Lucretia hält daraufhin ihr Schlussplädoyer, in dem sie zu wiederholtem Male ihre Racheforderung formuliert. Daraufhin folgt der Satz „Ich aber erlasse mir, auch wenn ich mich von der Schuld freispreche, nicht die Strafe“ (ego me etsi peccato absolvo, supplicio non libero[30]), der eine paradoxe Aussage enthält. Parallel aufgebaut, nicht nur syntaktisch (peccato absolvo, supplicio […] libero), sondern auch semantisch (absolvo-libero, peccato-supplicio), finden sich dort irritierende Elemente: Zunächst zerstört das unerwartet auftretende non die parallele Form. Darüber hinaus sorgt auch das Hyperbaton etsi peccato absolvo für ein Überraschungsmoment, welches die paradoxe Aussage Lucretias, dass für sie auf Unschuld Strafe folge, noch stärker hervortreten lässt, indem der Satzteil mit dem unerwarteten Element an das Ende des Satzes gerückt wird.[31]
Schon durch die rein formale Konstruktion dieses Satzes wird der Leser also überrascht und vor den Kopf gestoßen. Auf semantischer Ebene gibt allein die konzessive Subjunktion etsi zu erkennen, dass die Aussage des anderen Satzteils durchaus nicht zu erwarten wäre. Insofern erscheint es mir gerade an dieser Stelle falsch, darauf zu verweisen, dass einer Frau, die Ehebruch begangen hatte, nichts anderes übrig geblieben wäre, als sich umzubringen, da sie und ihre eventuellen Nachkommen nach öffentlicher Meinung als derart beschmutzt gegolten hätten, dass deren moralische Reinheit nur durch Tod der geschändeten Frau wiederhergestellt hätte werden können.[32] Schließlich wird der Entschluss Lucretias, dass in ihrem Fall auf Unschuld Strafe folgen müsse, bei Livius durch eine Kombination von Semantik und Syntax als paradox und überraschend dargestellt.
5. Lex Iulia de adulteriis coercendis
Livius’ Imitation eines gerichtlichen Verfahrens mag zum einen, wie bereits erwähnt, daran liegen, dass in Rom lange Zeit vermutlich das iudicium domesticum für die Untersuchung und Ahndung mutmaßlicher Ehebrüche zuständig war.[33]
Eine weitere Erklärung dafür bietet allerdings die zu Livius’ Lebzeiten aktuelle augusteische Justizreform, die unter anderem moralische Zwecke verfolgte, indem eheliche Rechte und Pflichten gesetzlich erfasst wurden. Die darunter fallende Lex Iulia de adulteriis coercendis schränkte unter anderem die patria potestas[34] bezüglich der Beurteilung und Ahndung mutmaßlicher Ehebrüche eigener Töchter bzw. vor allem der Ehefrauen stark ein.[35] Das Gewohnheitsrecht in Bezug auf Ehebrüche (adulterium) und „Unzucht“ (stuprum) wurde somit wahrscheinlich erstmals von positivem Recht abgelöst,[36] sodass man davon ausgehen kann, dass zu dieser Zeit heftig debattiert wurde, was nun allgemeingültig strafrechtlich verfolgt werden sollte. Vor allem unter Beachtung der außerordentlich machtvollen Stellung des pater familias – auch im Vergleich zu anderen Kulturkreisen der damaligen Zeit –[37] muss von einem gewissen Widerstand vonseiten der jeweiligen patres familias ausgegangen werde. Insofern ist es durchaus wahrscheinlich, dass Livius die aktuelle Debatte seiner Zeit über die Bewertung und Bestrafung mutmaßlicher Ehebrecher in seine Darstellung römischer Geschichte – und speziell die Darstellung seiner LucretiaGeschichte – integriert, selbst wenn es sich dabei um Anachronismen handelt. Dass Livius bei seiner Lucretia-Erzählung dagegen sicherlich nicht auf die gesetzliche Situation der Königszeit verweist, hat bereits Ogilvie festgestellt.[41]
5.1 Entstehung und historische Hintergründe[42]
Die Lex Iulia de adulteriis coercendis wurde auf Betreiben des Princeps Augustus 18 v. Chr. erlassen,[38] wohingegen Livius zwischen 27 und 25 v.Chr. an der ersten Pentade seines Werkes ab urbe condita[39] arbeitete.[40] Die Bewertung der livianischen Lucretia scheint unter Berücksichtigung der Lex de adulteriis coercendis insofern unsinnig zu sein, als Livius seine Lucretia-Version mindestens sieben Jahre vor dem Erlass des besagten Gesetzes verfasst hat und sich somit unmöglich auf dieses Gesetz bezogen haben kann. Dennoch gibt es gute Gründe, die Lex Iulia de adulteriis coercendis in die Interpretation der Lucretia-Geschichte einzubeziehen: Bereits 28 v.Chr. soll Octavian[41] einen Versuch unternommen haben, Gesetze zur Kontrolle der Moral zu erlassen, was allerdings fehlschlug.[42]
Insofern kann man davon ausgehen, dass die Lex Iulia de adulteriis coercendis, die die Kontrolle der Sexualität inner- und außerhalb der Ehe durch strafrechtliche Mittel ermöglichte, eine Antwort auf die damals aktuelle Diskussion zum Thema Strafbarkeit von Ehebruch und „Unzucht“ gab. Im Gegensatz zum bis in den frühen Prinzipat angenommenen amtierenden iudicium domesticum, innerhalb dessen der pater familias in innerfamiliären Angelegenheiten höchste Autorität und alleinige Entscheidungsgewalt besaß, sollte nun eine für alle – sofern sie gesetzlich erfasst waren – gleichermaßen geltende Regelung gefunden werden. Die Machtverschiebung von den Familienoberhäuptern auf die Judikative hat verständlicherweise rege Diskussionen und Proteste[43] vonseiten der patres familias nach sich gezogen.
Vergegenwärtigt man sich vor diesem Hintergrund, dass vor allem die Behandlung von Fällen, die sich nach gesellschaftlicher Meinung in einer Grauzone zwischen Recht und Unrecht bewegt haben, für Diskussionen gesorgt haben dürfte, erscheint die Lucretia-Geschichte als äußerst geeignetes Sujet, um die Bewertung eines solchen Zweifelfalles anschaulich darzustellen.
5.2 Begriffsklärung: adulterium und stuprum
Die beiden Begriffe adulterium und stuprum lassen sich innerhalb der Lex Iulia de adulteriis coercendis voneinander abgrenzen, indem man den Personenstand der Frau bzw. das Geschlecht betrachtet:[44] Während adulterium den Ehebruch bezeichnet, versteht man unter stuprum, dass mit einer ehelosen und ehrbar lebenden Frau, also einer noch nicht verheirateten Frau (virgo) oder Witwe (vidua), „Unzucht“ getrieben wird.[45]
Sowohl adulterium als auch stuprum waren seit dem Erlass der Lex Iulia de adulteriis coercendis im Jahre 18 v. Chr. strafrechtlich zu verfolgende Delikte. Die Tatsache, dass auch von ehelosen Frauen erwartet wurde, ihre Sexualität nicht auszuleben, zeigt deutlich, dass Frauen im Fokus der moralischen Reform des Augustus standen. Im Gegensatz dazu durften selbst verheiratete Männer außereheliche Affären pflegen, sofern sie damit keine andere Ehe „brachen“.[46] Von dieser gesetzlichen Normierung waren allerdings nicht alle Frauen erfasst, da manche Frauen (wie beispielsweise Schauspielerinnen und Kellnerinnen) aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit als so unmoralisch galten, dass sie sich für eine mögliche Strafbarkeit durch die Lex Iulia de adulteriis coercendis durch ihre Berufswahl von vornherein disqualifiziert hatten.[47] Dies verdeutlicht, dass je nach sozialem Stand auch die Erwartungshaltung gegenüber einer Frau bezüglich ihrer moralischen Integrität zu- bzw. abnahm.
Im Gegensatz zur juristischen Terminologie unterscheiden die literarischen Quellen der augusteischen Zeit häufig nicht zwischen adulterium und stuprum, sondern verwenden vielmehr stuprum als Oberbegriff der „Unzucht“, worunter adulterium fällt.[48]
5.3 Vergewaltigung unter historischen und gesetzlichen Gesichtspunkten
Dass nun bei einer Untersuchung der Lucretia-Geschichte die Begrifflichkeiten des Ehebruchs und der „Unzucht“ behandelt werden, mag verwundern, da Lucretia doch als eines der Vergewaltigungsopfer der antiken Historiographie schlechthin gilt. Im Lateinischen gibt es jedoch kein entsprechendes Wort für „Vergewaltigung“,[49] was nicht nur Übersetzungsprobleme nach sich zieht, sondern auch zu der grundsätzlichen Frage führt, was im antiken Rom als Vergewaltigung galt. Die entsprechende juristische Terminologie von „Vergewaltigung“ lautet „durch Gewalt geschändet“ (per vim stuprum) und beschreibt eine Straftat[50], die allerdings nicht von der Lex Iulia de adulteriis coercendis, sondern den leges de vi erfasst wird, also den Gesetzen, durch die Gewaltanwendung geahndet werden konnte.[51] Daneben wurden die lateinischen Wörter flagitium („Schande“) und vitium („Makel, Laster“) als (nichtjuristische) Äquivalente gebraucht, die allerdings die kriminellen Intentionen des Täters vollkommen aussparen.[52]
Die Tatsache, dass für die Umschreibung per vim stuprum der Oberbegriff stuprum verwendet wird, auch wenn die Straftaten durch unterschiedliche Gesetze erfasst waren, dürfte erklären, warum im Zusammenhang mit der Lucretia-Geschichte die Straftat „Unzucht“ dargestellt wurde. Zieht man zum juristischen Terminus einen Lexikoneintrag aus dem Neuen Pauly hinzu, wird deutlich, dass der Begriff stuprum bereits vor seinem juristischen Gebrauch negativ konnotiert war: „Urspr. war s[tuprum, T.L.] gleichbedeutend mit turpitudo („Sittenwidrigkeit“), später eingeengt auf die geschlechtliche Beziehung zw. einem Mann und einer freien, anständigen, unverheirateten […] Frau.“[53]
Interessant ist nun, dass durch die Wahl des gleichen Begriffs (stuprum – per vim stuprum) zwei unterschiedlich zu bewertende Straftaten auch in eine semantische Nähe gerückt werden: Beim stuprum machen sich beide Beteiligte schuldig und strafbar, wohingegen beim per vim stuprum eine Person Täter, die andere Opfer ist. Überträgt man diese sprachliche Besonderheit ins Deutsche, hätte man einerseits die „Unzucht“, andererseits die „Unzucht durch Gewalt“. Trotz der Qualifikation per vim haftet dem letzten Ausdruck eine moralische Verwerflichkeit an, die sich auch auf das Opfer überträgt. Darüber hinaus stellt sich nach wie vor die grundsätzliche Frage, wie der Fall Lucretias im gesetzlichen Rahmen der augusteischen Justizreform bewertet worden wäre.
6. Lucretia: adultera oder per vim stuprata im Kontext der augusteischen Zeit?
Wenn man sich nun die Kriterien für eine Vergewaltigung gemäß dem römischen Recht der frühen Kaiserzeit vergegenwärtigt, wird deutlich, dass ein per vim stuprum im Falle der Lucretia nicht vorliegt. Erstens ist vis nicht mit psychischer Erpressung gleichzusetzen, die Tarquinius Superbus ohne Frage anwendet, um Lucretia zu einem einvernehmlichen Geschlechtsakt zu bringen. Zweitens droht Tarquinius Lucretia zwar tatsächlich den Tod (in Kombination mit der Schande) an, der in diesem Fall nur per vim herbeigeführt werden kann; allerdings muss die Drohung von einer tatsächlichen Gewaltanwendung unterschieden werden, welche in der livianischen Version nicht vorliegt.
Bezeichnenderweise wird der Wunsch des Tarquinius Superbus als mala libido Lucretiae per vim stuprandae [Hervorhebungen von T.L.][54] („üble Lust, Lucretia mit Gewalt zu schänden“) beschrieben, eben dem juristischen Äquivalent des deutschen Begriffs „Vergewaltigung“ in den leges de vi; abschließend wird die Tat von Brutus als „abscheuliche Schändung Lucretias“ (stupro infando Lucretiae[55]) beschrieben. Damit wird die Tat zwar durchaus als moralisch verwerflich bewertet, ohne dabei jedoch auf den Gewaltaspekt zu verweisen. Dass Tarquinius Superbus von Livius als Schurke durch und durch dargestellt wird, steht außer Frage. Die Komposition der Geschichte deutet jedoch an, dass er seinen grausamen Vergewaltigungsplan, den ihm seine Begierde eingegeben hat, in der Situation selbst verwirft. Als er Lucretia tatsächlich gegenübersteht, versucht er, sie zu einem einvernehmlichen Geschlechtsakt zu bringen, was sein perfides Vorgehen einschließlich der psychischen Erpressung keineswegs entschuldigt. Insofern trifft Brutus’ Beschreibung des stuprum den Kern des Problems: Obwohl stuprum auf frevelhafte Weise erfolgt ist, nämlich erst durch eine erpresste Zustimmung Lucretias, wurde körperliche Gewalt nicht angewendet.[56]
Weitere Hinweise für eine subjektive Bewertung der Tat aus Lucretias Sicht gibt Livius in 58.7: Neben Sed date dexteras fidemque haud impune adultero fore macht auch die Textstelle Vestigia viri alieni, Collatine, in lecto sunt tuo [Hervorhebungen von T.L.] deutlich, dass für sie in erster Linie ein adulterium vorliegt, für das sie sich selbst mit dem Tod bestraft[57].
Einen erzwungenen Geschlechtsakt als Ehebruch zu bezeichnen, mag uns heute verwunderlich erscheinen. Nach dem heutigen deutschen Strafrecht würde Lucretias Fall mit Sicherheit als Vergewaltigung bewertet werden: nach § 177 I Nr. 2, II StGB liegt bei einem durch eine Drohung mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben erzwungenem Beischlaf eine Vergewaltigung vor.
Eine Vergewaltigung nach heutigen Maßstäben wurde in der Antike weniger wegen der – auch psychischen – Gewaltanwendung gegenüber dem Opfer missbilligt, sondern vielmehr deshalb, „weil der Täter sich im Rahmen der gewaltsamen sexuellen Vereinnahmung seines Opfers den Status und das Recht eines Ehemannes anmaßte, ohne dazu legitimiert zu sein. Dies ist u.a. daran ablesbar, dass die V[ergewaltigung, Anmerkung T.L.] einer verheirateten Frau meist als […] Ehebruch ( adulterium […]) wahrgenommen wurde“[58][59].
Fasst man all diese Hinweise, die der Text gibt, zusammen, wird Lucretia – durch ihre erpresste Zustimmung – nicht nur eine Teilschuld am Ehebruch gegeben, sondern sie hätte damit zu Livius’ Lebzeiten als eine strafrechtlich zu verfolgende adultera gegolten, da ihre Zustimmung eine Vergewaltigung unter Berufung auf die leges de vi ausschließt.
7. Relevanz der juristischen Gesichtspunkte für eine Bewertung der livianischen Version der Lucretia-Geschichte
Lucretia nun als Ehebrecherin und gleichzeitiges exemplum pudicitiae in die römische Geschichte eingehen zu lassen, ist mit Sicherheit nicht die Intention des Livius gewesen. Dennoch zielt seine Version der Geschichte offenbar darauf ab, die Aufmerksamkeit des Lesers auf Lucretias Zustimmung zum adulterium zu lenken,[65] die sie am Ende der Erpressungsversuche des Königssohnes Tarquinius Superbus offenbar gibt. Wie kann nun Lucretias Schuld als adultera mit ihrer offensichtlichen Unschuld zusammengebracht werden?
Nach den gesetzlichen Verhältnissen unter Augustus hätte sie zur Gruppe der Ehebrecherinnen gezählt, wobei die besonderen Umstände dieses speziellen adulterium von den Zeitgenossen sicherlich berücksichtigt worden wären und sie wahrscheinlich vom Princeps selbst begnadigt worden wäre. Denn schließlich liegt die besondere Tragik der Geschichte darin, dass Lucretia in eine unsittliche Tat einwilligt, um ihren offenbar nach allgemeinen Maßstäben wertvolleren sittlichen Ruf bewahren zu können. Damit verteidigt sie paradoxerweise den gleichen Wert der Sittlichkeit, indem sie ihn opfert.
Die Sittlichkeit wird dabei aber inhaltlich differenziert: Lucretia behält ihre moralische Reinheit (castitas) als individuelle Eigenschaft,[60] die ihre geistige Integrität trotz der Einwilligung bezeichnet, während sie der gesellschaftlichen Erwartung von tatsächlicher Keuschheit (pudicitia[61]) durch den erfolgten Ehebruch, dessen Umstände nicht berücksichtigt werden, nicht gerecht werden kann. Dies zeigt sich deutlich daran, dass Lucretia von „verlorener Keuschheit“ (amissa pudicitia[62]) spricht, wohingegen Brutus beim „reinsten Blut“ (castissimum […] sanguinem[63]) der Toten Rache schwört.
Vergegenwärtigt man sich die besonderen Umstände, die auch heute noch Vergewaltigungsprozesse mit sich bringen, stellt man fest, dass die Beweisgrundlage in solchen Fällen meist sehr schlecht ist. Oft steht Aussage gegen Aussage und aufgrund der besonderen Tatumstände gibt es in den seltensten Fällen andere Zeugen als die beiden Beteiligten. Wenn man von einem „typischen“ Fall ausgeht, in dem eine Frau gegen einen mutmaßlichen Vergewaltiger Anklage erhebt, besteht immer auch die Möglichkeit, dass der Geschlechtsakt einvernehmlich stattfand und die Frau den Mann zu Unrecht anklagt.
Lucretia ist sich darüber im Klaren, dass man ihr eine solche Falschaussage unterstellen könnte, weshalb ihr der Tod als Zeuge unausweichlich erscheint. Indem sie mit ihren letzten Worten auf zukünftige impudicae verweist, bezieht sie Stellung zu der juristischen Frage, wie in solch unsicheren Fällen wie dem ihren verfahren werden soll. Die Vorstellung, dass Frauen straflos bleiben könnten, die einvernehmlichen Ehebruch begangen hätten, ist ihr unerträglich, sodass sie selbst ihrer Meinung nach sterben muss, damit keine solche impudica unter Berufung auf ihr Beispiel ihrer gerechten Strafe entgehen kann. Somit plädiert sie dafür, die Beschuldigten in allen Fällen von adulterium oder stuprum ausnahmslos bestrafen zu lassen.[64] „[T]he law must be stricter than the moral code“[65], da die moralische Unschuld eines Beteiligten gerade in solchen Fällen niemals mit Sicherheit bewiesen werden kann.
Livius geht also mit seiner Darstellung der Lucretia-Geschichte auf die damals aktuelle Diskussion der moralischen Reformen des Augustus ein. Aus seiner Sicht sind Ausnahmen, die das consilium[66] der Beschuldigten berücksichtigen, gefährlich, da eventuelle Schuldige unter Berufung auf ihre geistige Schuldlosigkeit somit ihrer gerechten Strafe entgehen könnten.[67] Demgegenüber machen es sich die Männer aus Lucretias Sicht zu leicht, die von einem fehlenden consilium auf Schuldlosigkeit schließen. Diese werden implizit kritisiert, indem sie so dargestellt werden, als nähmen sie den komplexen vorliegenden Fall auf die leichte Schulter: Ohne nach weiteren Details zu fragen, nehmen sie Lucretias Aussage als wahr hin und geben sich mit ihrer Behauptung, geistig unschuldig zu sein (animus insons[68]), als Beweis der Schuldlosigkeit zufrieden. Die Männer sollen damit wohl die liberale Meinung der augusteischen Zeit in der Debatte um die Berücksichtigung der Umstände und dem nicht vorhandenen consilium einer Genötigten bei einem Ehebruch vertreten; bezeichnenderweise behalten sie mit ihrem schnell herbeigeführten Freispruch nicht das letzte Wort.
Abschließend kann die paradoxe Aussage ego me etsi peccato absolvo, supplicio non libero[69] aufgelöst werden: Für unschuldig hält sich Lucretia im moralischen Sinne, juristisch müsste ihrer Meinung nach aber dennoch eine Strafe erfolgen, da außer ihr selbst niemand mit Sicherheit von ihrer moralischen Integrität überzeugt sein kann. Deutlich wird ihre Überzeugung daran, dass sie den Freispruch des iudicium domesticum nicht hinnimmt. Durch ihren Selbstmord wird die Kompetenz des Hausgerichtes in Frage gestellt und die Institution selbst als überholt dargestellt. Somit erscheint eine gesetzliche Maßnahme anstelle des Hausgerichtes unausweichlich, da das nach römischen Vorstellungen hochmoralische Verhalten Lucretias, das bis zur Selbstaufopferung geht, eine absolute Ausnahme gegenüber der römischen Durchschnittsbürgerin darstellt.
Nur eine strikte Auslegung des Gesetzes, das Lucretia als eine – wenn auch ge zwungene – adultera bestrafen und keine mildernden Umstände berücksichtigen würde, kann die hohe (Sexual-)Moral in ehelichen Beziehungen hochhalten. Dass diese Sexualmoral ein so wertvolles Gut nicht nur der römischen Antike war und der Frau dabei eine tragende Rolle zukam, lässt sich damit erklären, dass die Ehefrau als Gebärende unbedingt treu sein musste, um die Legitimität ihrer Kinder gewährleisten zu können.
Lucretias letzte Worte geben unter Bezugnahme auf zukünftige impudicae ihr Vermächtnis wieder: Wenn sie als moralisch integre Frau freiwillig Selbstmord begeht, will sie damit nicht nur ihre Unschuld beweisen, sondern auch – im Sinne der eben beschriebenen gesellschaftlichen Vorstellungen – ein Beispiel der weiblichen Tugendhaftigkeit geben. Demgegenüber sollen moralisch verwerfliche Frauen ihrer gerechten Strafe nicht entgehen dürfen. Um dies zu verhindern, muss das Gesetz strenge Regeln enthalten und jeden mutmaßlichen Ehebruch ahnden, da aus Lucretias Sicht schamlose Frauen jede Möglichkeit – sogar die Berufung auf ein moralisch untadeliges Vorbild wie das ihre – nutzen würden, um ungestraft davonzukommen.
Freie Universität Berlin, Wintersemester 2013/2014
[1] Lutz Käppel: „Lucretia.“ In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 7. Hrsg. von Hubert Cancik/ Helmuth Schneider/ Manfred Landfester. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 1999. S. 469.
[2] Gesetz zur Verhinderung von Ehebrüchen.
[3] Titi Livi: Ab urbe condita: Libri I-V. Hrsg. von Robert Maxwell Ogilvie. Oxford/ New York: Oxford University Press 1974. Hier und im Folgenden abgekürzt unter der Sigle: Liv, [Band] [Buch. Seiten].
[4] „Ehebrecherin“.
[5] „Durch Gewalt Geschändete“.
[6] „Beispiel der Sittsamkeit“.
[7] Liv I, 58.7: Collatinus verwendet die archaisierende Grußformel Satin salve (vgl. Robert Maxwell: Ogilvie: A commentary on Livy. Books I-IV. Oxford: Clarendon Press 1965. S. 224. Im Folgenden abgekürzt unter der Sigle: Ogilvie, [Seitenzahl]), die Lucretia mit quid […] salvi wiederaufnimmt. Um dieses wiederaufgenommene salve-salvi auch in der deutschen Übersetzung berücksichtigen zu können, musste freier übersetzt werden. Auch der Ablativus absolutus amissa pudicitia wurde freier (Lucretia als Subjekt) übersetzt.
corpus violatum – animus insons: Antithese, wodurch Lucretia erstmals ihre (geistige) Unschuld beteuert. date dexteras: Der Plural wurde durch den im Deutschen üblichen Singular ersetzt.
[8] Liv I, 58.8: hostis pro hospite: Durch die Paronomasie wird auch auf der lautlichen Ebene verdeutlicht, wie klein der Schritt (des Tarquinius) vom Gastfreund zum Feind ist. hinc bleibt unübersetzt, da aus Lucretias Aufforderung zur Rache bereits deutlich wird, dass sich Tarquinius’ Freude infolge der Rache ins Unglück verkehren wird.
[9] Liv I, 58.9: mentem peccare, non corpus, et unde consilium afuerit culpam abesse: Die indirekte Rede der Männer vermittelt einen Eindruck von Objektivität, was ihre Aussage in unmittelbare Nähe zu einem fiktiven, allerdings denkbaren Gesetzestext rückt. Auch die prägnanten, kurzen Satzteile, die die Argumentation der Männer äußerst knapp wiedergeben, verstärken diesen Eindruck.
[10] Liv I, 58.10: videritis: Übersetzung als Optativ (erfüllbarer Wunsch der Vergangenheit).
vos – ego: emphatische Wortstellung (Ogilvie, S. 225), siehe Abschnitt 3.
ego me etsi peccato absolvo, supplicio non libero: Parallelismus und Hyperbaton, siehe v.a.Abschnitt4. vivet: imperativisch gebrauchtes Futur. Vgl. Hermann Menge: Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik. Völlig neu bearbeitet von Thorsten Burkard/ Markus Schauer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000. S. 183, § 133.5.
[10] Vgl. Liv I, 57-59.
[11] Liv I, 57.4.
[12] Liv I, 57.10.
[13] Liv I, 58.3.
[15] Ebd.
[14] Liv I, 58.5.
[17] Liv I, 58.3.
[15] Vgl. Harald Geldner: Lucretia und Verginia. Studien zur Virtus der Frau in der römischen und griechischen Literatur. Mainz: Univ.-Diss. 1977. S. 51.
[16] Liv I, 58.7.
[17] Ebd.
[18] Ebd.
[19] Liv I, 58.12.
[20] Liv I, 58.9.
[21] Vgl. Ogilvie, S. 225.
[22] Liv I, 58.10.
[23] Vgl. Diana C. Moses: „Livy‘s Lucretia and the Validity of Coerced Consent in Roman Law.“ In: Consent and Coercion to Sex and Marriage in Ancient and Medieval Societies. Hrsg. von Angeliki E. Laiou.
Washington, D.C.: Dumbarton Oaks Research Library and Collection 1993. S. 39-82. Hier: S. 78f.
[24] Hausgericht, bei dem der pater familias (Herr des Hauses) als Richter fungierte.
[25] Liv I, 58.7: ceterum corpus est tantum violatum, animus insons, mors testis erit. Sed date dexteras fidemque haud impune adultero fore. 58.8: Sex. est Tarquinius qui hostis pro hospite priore nocte vi armatus mihi sibique, si vos viris estis, pestiferum hinc abstulit gaudium.. 58.9: […] consolantur aegram animi avertendo noxam ab coacta in auctorem delicti: mentem peccare, non corpus, et unde consilium afuerit culpam abesse. 58.10 : Vos […] videritis quid illi debeatur : ego me etsi peccato absolvo, supplicio non libero; nec ulla deinde impudica Lucretiae exemplo vivet [Hervorhebungen von T.L.].
[26] Liv I, 58.7.
[27] Liv I, 58.5.
[28] Liv. I, 58.9.
[29] Vgl. Liv I, 58.9.
[30] Liv I, 58.10.
[31] Die übliche Satzstellung ohne Hyperbaton wäre folgende: ego supplicio non libero, etsi peccato absolvo.
[32] Vgl. Ogilvie, S. 225.
[33] Vgl. Gottfried Schiemann: „Adulterium.“ In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 1. A.a.O. S. 134-135. Hier: S. 135.
[34] väterliche Gewalt des pater familias.
[35] Vgl. Angelika Mette-Dittmann: Die Ehegesetze des Augustus. Eine Untersuchung im Rahmen der Gesellschaftspolitik des Princeps. Stuttgart: F. Steiner 1991. S. 81f.
[36] Vgl. Artur Völkl: „Stuprum.“ In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 11. A.a.O. S. 10601061. Hier: S. 1060. Die moralische Bewertung von stuprum war ähnlich wie beim adulterium, sodass auch die Bestrafung durch ein iudicium domesticum bis in die späte Republik in beiden Fällen üblich gewesen sein dürfte. Siehe hierzu: 5.2.
[37] Vgl. Antonie Wlosok: „Vater und Vatervorstellung in der römischen Kultur.“ In: Das Vaterbild im Abendland. Hrsg. von Hubertus Tellenbach. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1978. S. 18-54.
[41] Vgl. Ogilvie, S. 225.
[38] Vgl. Angelika Mette-Dittmann: Die Ehegesetze des Augustus. S. 14f.
[39] „Von der Gründung der Stadt.“
[40] Vgl. Ronald Syme: „Livy and Augustus.“ In: Harvard Studies in Classical Philology. Nr. 64 (1959). S.27-87. Hier: S. 42.
[41] Der spätere Princeps Augustus.
[42] Vgl. Diana C. Moses: „Livy‘s Lucretia and the Validity of Coerced Consent in Roman Law.“ S. 54: „So also it seems that an attempt in 28 B.C. to expand the law’s involvement in regulating the morality of behaviour failed. Augustus apparently attempted unsuccessfully to introduce legislation to implement his program of moral reform in 28 B.C.“
Verschiedene Vorhaben, Sexualität zu kontrollieren, gab es allerdings schon vor Augustus, wie beispielhaft Caesars Versuch zeigt, die Geburtenrate durch Anreize zu erhöhen (Angelika Mette-Dittmann: Die Ehegesetze des Augustus. S. 19f.; Diana C. Moses: „Livy‘s Lucretia and the Validity of Coerced Consent in Roman Law.“ S. 55.). Dass dabei nicht nur praktische, sondern auch moralische Überlegungen eine Rolle spielten, zeigt Ciceros Unterstützung Caesars in seinem Werk Pro Marcello, worin er auch die Beherrschung sexueller Begierden als Teil einer solchen Reform propagierte (ebd.; Marci Tulli Ciceronis: Orationes. Bd. 2. Hrsg. Albertus Curtis Clark. Oxford²1918 [Nd. 1956]. S. 23: Omnia sunt excitanda tibi, C.Caesar […]: costituenda iudicia, revocanda fides, comprimendae libidines […]“ [Hervorhebung von T.L.]).
[42] Da die augusteischen Ehegesetze, wozu auch die Lex Iulia de adulteriis coercendis gehört, nicht in geschlossener Form erhalten sind, mussten sie „aus verschiedenen literarischen Quellengattungen sowie epigraphischem Material“ (Angelika Mette-Dittmann: Die Ehegesetze des Augustus. S.15) rekonstruiert werden, wobei die Kommentare – nur in wenigen Fällen liegen wörtliche Gesetzeszitate vor – später lebender Juristen als wichtigste Quellen gelten. Problematisch für die Forschung ist einerseits der Verlust des originalen Gesetzestextes und andererseits die durch die vorliegenden Quellen nur unvollständig rekonstruierbare Überlieferung des Gesetzes. In diesem Kontext muss beachtet werden, dass die Überlieferung der augusteischen Ehegesetze größtenteils aus Quellen stammt, die Jahrhunderte nach Augustus verfasst wurden und die Gesetze in den meisten Fällen nicht direkt zitieren, sondern lediglich kommentieren. In vielen Fällen wurden beispielsweise von den Kommentatoren für augusteisch gehaltene Gesetze von der Forschung als später durch andere Kaiser hinzugefügte Gesetzesteile erkannt (ebd.).
[43] Vgl. Anke Seifert: „Strafbar oder nicht? Sexualdelikte und häusliche Gewalt.“ In: Gefährliches Pflaster. Kriminalität im Römischen Reich. Hrsg. von Marcus Reuter/ Romina Schiavone. Mainz: Verlag Philipp von Zabern 2011. S. 147-162. Hier: S. 153.
[44] Vgl. Angelika Mette-Dittmann: Die Ehegesetze des Augustus. S. 40.
[45] Vgl. Corpus Iuris Civilis. Bd. 1: Institutiones. Digesta. Hrsg. von Paul Krüger. Dublin u.a.: Weidmann20 1968 [Nd.12 1911]. Hier und Folgendem mit der Sigle Inst. Inst. 4, 18, 4: cum quis sine vi vel virginem vel viduam honeste viventem stupraverit.
[46] Vgl. Angelika Mette-Dittmann: Die Ehegesetze des Augustus. S. 78f.
[47] Diana C. Moses: „Livy‘s Lucretia and the Validity of Coerced Consent in Roman Law.“ S. 71.
[48] Angelika Mette-Dittmann: Die Ehegesetze des Augustus. S. 40f.
[49] Vgl. Georg Doblhofer: Vergewaltigung in der Antike. Stuttgart: B.G. Teubner 1994. S. 5-7.
[50] Corpus Iuris Civilis. Bd. 1: Institutiones. Digesta. Hrsg. von Paul Krüger, begründet von Theodor Mommsen. Dublin u.a.: Weidmann 201968 [Nd. 121911]. D. 48, 6, 3, 4: punitur huius legis poena, qui puerum vel feminam vel quemquam per vim stupraverit.
[51] Vgl. Diana C. Moses: „Livy‘s Lucretia and the Validity of Coerced Consent in Roman Law.“ S. 50.
[52] Vgl. Karl-Wilhelm Weeber: „Vergewaltigung.“ In: Ders.: Alltag im Alten Rom. Ein Lexikon. Zürich: Artemis 1995. S. 383-385. Hier: S. 384.
[53] Artur Völkl: „Stuprum.“ S. 1060.
[54] Liv I, 57.10.
[55] Liv I, 59.8.
[56] Zu dem Absatz vergleiche in Teilen abweichend Diana C. Moses: „Livy‘s Lucretia and the Validity of Coerced Consent in Roman Law.“ S. 45f., besonders Fußnote 28.
[57] Vgl. Maike Steenblock: Sexualmoral und politische Stabilität. Zum Vorstellungszusammenhang in der römischen Literatur von Lucilius bis Ovid. Berlin/ New York: De Gruyter 2013. S. 210.
[58] Elke Hartmann: „Vergewaltigung.“ In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 12/2 (Nachträge). A.a.O. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2003. S. 39–41.
[59] Vgl. Diana C. Moses: „Livy‘s Lucretia and the Validity of Coerced Consent in Roman Law.“ S. 43.
[65] Vgl. Stefan Freund: „Pudicitia saltem in tuto sit. Lucretia, Verginia und die Konstruktion eines Wertbegriffs bei Livius.“ In: Hermes. Nr. 3 (2008). S. 308-325. Hier: S. 312.
[60] Freund beschreibt sie als als „überpersonalen Wertbegriff“. Ebd.
[61] Liv I, 58.7.
[62] Liv I, 59.1.
[63] Vgl. Diana C. Moses: „Livy‘s Lucretia and the Validity of Coerced Consent in Roman Law.“ S. 79: „As a paragon of Augustan Roman matronal chastity and morals, Lucretia voices the extreme opinion that society cannot afford to tolerate exceptions to punishment for the commission of stuprum, whatever the circumstances. Lucretia must die so that she cannot be made an accomplice to this avoidance of the law.”
[64] Diana C. Moses: „Livy‘s Lucretia and the Validity of Coerced Consent in Roman Law.“ S. 80.
[65] „Absicht, Vorsatz“
[66] Vgl. Diana C. Moses: „Livy‘s Lucretia and the Validity of Coerced Consent in Roman Law.“ S. 79: „[E]xceptions to punishment for stuprum are dangerous, for the immoral people, including impudicae, targeted by the reform program would not be above hiding behind such exceptions.“
[67] Liv I, 58.7.
[68] Siehe 4.
[69] Vgl. Anke Seifert: „Strafbar oder nicht? Sexualdelikte und häusliche Gewalt.“ S. 149.
Bild © Marie Nicolay