heft 7. frühjahr 2016

Liebe Lesende,

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das frühlingshafte Magenta zeigt die Anwesenheitsnotiz in einem neuen Licht. Die neue Ausgabe beschreitet in einigen Hinsichten neue, kritische, vielleicht auch ein wenig schrille Wege. Nach wie vor ist es fast unmöglich, die Entwicklungen und Trends in der europäischen Hochschullandschaft gegenwartsbezogen darzustellen. Schon unsere erste Begrenzung des Feldes in Geistes- und Kulturwissenschaften kann fundamental kritisiert werden. Doch in der Anwesenheitsnotiz geht es nicht um die Einhegung dieses wunderbar komplexen Feldes; eher um das Bündeln der disparaten Gegenstände, mit denen sich unsere KommilitonInnen der geistes- und kulturwissenschaftlichen Fachgebiete Tag für Tag beschäftigen.

Dazu gehören seit jeher auch politische Arbeiten. Schon in unserer ersten Ausgabe wurde das Politische im Theater René Polleschs untersucht; doch noch nie hatte eine unserer Ausgaben eine so deutliche Schlagseite in Richtung Politikwissenschaft – sei es die Analyse der Frauenrollen im Israelischen Militär, des Staatsfeminismus’ in Tunesien oder, auch formal ein Novum: ein kritischer Essay über ökonometrische Denkmuster. Hier bewegen sich die Beiträge in einem Zwischenfeld, in dem immer wieder der Dialog mit geisteswissenschaftlichen Techniken gesucht und benötigt wird. Nicht im mündlichen Dialog, aber material durch die Klebebindung verbunden, stehen, wie gewohnt, film-, literatur- oder theaterwissenschaftliche Arbeiten.

Neu ist außerdem der Blick auf andere studentische Zeitschriften; statt Konkurrenzdenken wollen wir einander Raum und Diskussion bieten – da es extrem viele ambitionierte studentische Projekte gibt, gestaltet es sich jedoch schwierig, einander präzise sichtbar zu machen. Unser Gespräch mit dem Wiener SYN-Magazin soll hier einen Anfang machen. Gleichzeitig zeigt sich hier eine verstärkte Annäherung an die flüchtige Mündlichkeit in diesem Heft; der Bericht über den State of the Art der Praxistheorien wird ebenfalls im Interview vorgestellt, während alle Illustrationen aus Buchstaben verschiedener Schriftarten entworfen wurden: Auch die Schrift ist der Form nach flüchtig, historisch-ästhetischen Prämissen nach konstruiert und eingesetzt. Wichtig ist uns aber weniger die Vergänglichkeit, als die erhöhte Zugänglichkeit des Flüchtigen.

Wir würden uns also freuen, wenn ihr euch an dem Projekt beteiligt – ob durch das Einreichen von Texten, Mitarbeit in der Redaktion, Kommentar auf Facebook oder finanzielle Unterstützung. Schreibt uns einfach  an anwesenheitsnotizen@gmail.com oder folgt uns in den sozialen Medien.

Wir freuen uns auf eure Rückmeldungen und wünschen viel Spaß beim Lesen dieser Ausgabe!

Zudem möchten wir uns an dieser Stelle bei der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde und Förderer der Freien Universität Berlin, dem Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin sowie der Alumni-Vereinigung des Instituts bedanken, die durch ihre Förderung und Unterstützung das Entstehen dieses Heftes möglich gemacht haben.

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Inhaltliches Vorwort

 

In ihrer Arbeit „about the act of perception itself“, einer Betrachtung von James Nares’ Film „Street“ plausibilisiert Antonia Stichnoth ihre Beobachtung, dass der Film durch seine technische Beschaffenheit eine für das Medium Film ungewöhnliche Plastizität erreicht. Diese ist bislang weder in der Theorie, noch in der Praxis als mögliche und in diesem Fall dominierende Wahrnehmungsweise im Film erkannt worden. Deshalb wird die besondere technische und mediale Beschaffenheit des Film(ens) zum Ausgangspunkt einer Analyse des filmischen Dispositivs. Dessen Wahrnehmungsweise, die zwischen der Räumlichkeitswahrnehmung einer Zugfahrt und einer Fotografie changiert, wird dabei nicht minder plastisch herausgearbeitet.

 

In Die Herbartianische Ästhetik als wissensgeschichtliches Paradigma geht Julia Mierbach dem Verhältnis von Kunst und Wissenschaft in der Mitte des 19. Jahrhundert nach. Aus einer wissenspoetologischen Perspektive bezieht sie die ästhetischen Schriften des böhmischen Philosophen Robert Zimmermann und Adalbert Stifters lange Erzählung Der Nachsommer aufeinander. Dabei kann sie zeigen, dass der Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität und die epistemische Figur des Realen nicht nur zu vielfältigen Widersprüchen führen. Vielmehr lässt der literarische Text diese Aporien hervortreten und unterläuft durchaus im Zeichen des Realismus die moderne Trennung von Wissenschaft und Ästhetik.

 

Warum die moderne Ökonomie als Wissenschaft und Praxis so zahlenverliebt ist, zeigt Pablo Escrivá Sirera in seinem Essay The sterility of mathematical modelling in the social sciences. The case of Economics auf. Anhand des Begriffs des Modells kann Sirera zum Einen deutlich machen, wie sehr die Ökonomie in ihrem abstrakten Denken den Naturwissenschaften verhaftet ist und zum Anderen, wie ungenau sich mit diesen Modellen soziale Phänomene abbilden lassen, die die Grundlage der ökonomischem Analyse bilden. Diese unverhältnismäßige methodische Unreflektiertheit hinterfragt er aus der Sicht der Sozialwissenschaft, die bereits den methodischen Sprung in die Spekulativität ihrer eigenen Aussagen gewagt hat.

 

Ausgehend von einer konzeptuellen Reflexion des Begriffs ‚Staatsfeminismus‘ analysiert Julian Lauer in Neuer Staatsfeminismus – gleiches Muster? Eine Analyse staatsfeministischer Maßnahmen im prä- und post-revolutionären Tunesien die revolutionären Transformationen des tunesischen Staates im Hinblick auf ‚Women Empowerment‘. Die analytische Linie zieht sich dabei von den historischen Politiken unter den Regimen Bourguibas und Ben Alis hin zu einer kritischen Beobachtung der Umwälzungen während des Arabischen Frühlings. Er arbeitet die indifferenten Rollen des unter allen tunesischen Regierunen erkennbaren Staatsfeminismus auch als diskursive Achse zwischen Islam und Feminismus heraus, die trotz ihrer vielen positiven Möglichkeiten gegenwärtig Gefahr läuft, reaktionär ausgespielt zu werden.

 

Thao Ho beschäftigt sich in der Arbeit Otherside of the Game. Early Feminist Concepts in the Work of Sentimental Novelists (1790-1860) and the Contiguous Question of Empathy mit den weiblichen ‚Sentimental Novelists’ des 18. und 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten. Dabei untersucht Thao Ho zunächst die kulturelle und soziale Bedeutung des Genres sowie den Einfluss, den diese Literatur trotz des Vorwurfs fehlender Intellektualität auf die Gesellschaft ausübte. Überdies werden feministische Ansätze in den Werken von Susanna Rowson, Hannah Webster Foster, Harriet Beecher Stowe und anderen diskutiert. Letztlich wird  auch der gegenwärtig häufig vorgetragene Ruf nach mehr Empathie auf seine literarischen Einflüsse und Notwendigkeiten hin untersucht.

 

Jonathan Hempel thematisiert die Rolle der Soldatinnen in der IDF. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Reproduktion von Geschlechterrollen in der israelischen Armee und untersucht den Fall Alice Millers, die dagegen klagte, dass verschiedene Bereiche des israelischen Militärs Frauen verschlossen blieben. Dabei analysiert Hempel, wie die Situation vor und nach diesem medienwirksamen und veränderungsverursachenden Umdenken aussieht und wodurch sich Missstände begründe(te)n. Zur Illustration der Rezeption der Frauenrolle im Militär zieht Hempel dabei den Spielfilm „Zero Motivation“ (2014) heran, der eine Reflexion der Situation nach der Klage darstellt. Dabei bieten die Querverweise zwischen Film, Gender-Konzepten und geschlechtsspezifischer Praxis im Militär eine komplexe Verwebung mehrerer Analyseebenen.

 

In ihrem Aufsatz Zum Verhältnis von Beyspiel, Exempel und Warnung in der Historia von D. Johann Fausten arbeitet Carolin Pape eine Dreigliedrigkeit des Textes heraus, die aus dem Titelblatt des frühneuhochdeutschen Werks und den dort verorteten Begriffen Beyspiel, Exempel und Warnung hervorgeht. Diese dreigliedrige Struktur des Textes lässt sich durch unterschiedliche Formen der Erkenntnisgenerierung in den jeweiligen Abschnitten aufdecken. Es wird gezeigt, dass sich die Textteile den auf dem Titelblatt verorteten Begriffen zuordnen lassen für die sie als paradigmatisch gelten. Auf diese Weise lässt sich ein stufenhafter Aufbau nachweisen, der den funktionalisiert-didaktischen Charakter des Textes besonders hervorhebt.

 

Daneben finden sich in diesem Heft ein Interview mit dem Wiener Studierendenmagazin SYN, ein State of the Art zum Thema „Praxistheorien“, sowie Rezensionen von Karen Barads Verschränkungen und den Bänden eins, drei, vier, neun, zehn und elf der von Asmus Trautsch herausgegebenen Reihe Edition Poeticon.

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