Carolin Pape: Zum Verhältnis von Beyspiel, Exempel und Warnung in der Historia von D. Johann Fausten (1587).
Ein Wesenszug, der wohl am häufigsten mit der Figur des D. Johann Fausten assoziiert wird, scheint der Erkenntnisdrang zu sein, der den „weitbeschreyten Zauberer vnnd Schwartzkünstler“[1] über die Grenzen dessen, was er hätte wissen dürfen, hinausgetrieben hat. Das Streben nach Erkenntnis, auch bekannt als curiositas,[2] galt als sündhaft, da mit ihr nach Meinung der Kirche eine Entfernung von Gott einherging. Der im Faustbuch dominierende Erkenntnisdrang und der christliche Entstehungskontext des Werks legen den Gedanken an Genesis 2-3, der Geschichte der Schöpfung und des Sündenfalls, nahe. Im Garten Eden ist es der Baum der Erkenntnis, dessen Früchte der Mensch nicht kosten darf. Verstößt er gegen diese Regel, soll dieses Vergehen mit dem Tod bestraft werden. Die Schlange aber überzeugt Eva davon, dass das Verzehren der verbotenen Früchte vielmehr dazu führt, dass sie und Adam dann wie Gott werden und erkennen können, was Gut und Böse ist. Die List gelingt und das Fehlverhalten wird unverzüglich bestraft. Zwar muss das Vergehen nicht mit dem Leben bezahlt werden, jedoch führt es zum Ausschluss aus dem Paradies. Auch wird der Ackerboden verflucht und Adam zu harter körperlicher, wenig ertragreicher Arbeit verdammt. Durch das schon bei Adam verankerte Streben nach Erkenntnis und dem Wunsch der Überwindung der von Gott gesetzten Grenzen des menschlich Möglichen entsteht eine Parallele zwischen dem Faustbuch und dem Sündenfall, die ich gerne näher beleuchten möchte. Der von curiositas angetriebene und sich nach erfarung[3] der Welt sehnende Faustus befindet sich in einem ähnlichen Spannungsverhältnis zwischen Neugier und Glaube wie Adam. Fausts Erkenntnisstreben gilt als überwiegend von Vernunft, nicht aber von Glaube geprägt, wodurch ein zeithistorischer Konflikt entsteht. Im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit klaffen die Interessen der aufstrebenden Wissenschaften und der an Machtverlust leidenden Kirche immer weiter auseinander. Vergleicht man nun Faust mit dem biblischen Adam, kann die Faustfigur als Allegorie auf die Figur des Adam betrachtet werden. Die Überschreitung des menschlich Möglichen wird bei Faustus hingegen, wie auch im Sündenfall angedroht, mit dem Tod bestraft, also tatsächlich vollzogen. In ihrem Aufsatz über den Sündenfall als Fallstudie wirft Anita Traninger die Frage auf, ob der Sündenfall als Warnung gelesen werden sollte.[4] Auch das Faustbuch legt den Gedanken nahe, dass es sich hierbei um eine Warnung handelt. Anders als in der biblischen Geschichte ist die Warnung an die Lesenden jedoch nicht nur implizit, sondern auch explizit ausgedrückt und bereits dem Titelblatt zu entnehmen. Dort heißt es, die Historia solle allen „hochtragenden/fuerwitzigen und gottlosen Menschen zum Schrecklichen Beyspiel/ abscheulichen Exempel/ und treuwhertziger Warnung“ (HF, S. 3) dienen. Diese drei Worte: „Beyspiel“, „Exempel“, und „Warnung“ erscheinen mir als Begriffe, die für bestimmte Abschnitte des Textes als paradigmatisch gelten und durch die sich eine Struktur des Textes herausarbeiten lässt, die den warnenden Charakter besonders hervorhebt. Gewiss ist von einer starken didaktischen Funktionalisierung des Textes auszugehen, was bereits dem Vorwort sowie dem Kommentar des Druckers zu entnehmen ist. Im Folgenden möchte ich untersuchen, wie sich anhand einer Gelehrtenkritik eines nach Erkenntnis strebenden Individuums gleichzeitig eine Didaxe herausbildet, die sich vom Beginn bis zum Ende des Textes zunehmend ausweitet.
Das Streben nach Erkenntnis
Wie alt die Thematik des Strebens nach Erkenntnis ist, wird bereits durch die stete Rezeption des Sündenfallberichts in der Literaturgeschichte deutlich. Bezüglich der Rezeption biblischer Texte zeigt Traninger auf, dass die in Genesis 3 dargestellten Mühen, unter denen Adam nach dem Sündenfall leiden sollte, in der christlichen Rezeption bereits mehrfach metaphorisch und allegorisch gedeutet wurden. In seinem ersten Genesis-Kommentar habe Augustinus sie zur Allegorie umgedeutet und sah die Strafe Gottes vor allem als intellektuelle Erschwernis die Welt zu interpretieren.[5] Auch wenn die Bibel sich bis heute in einem steten, unvollendeten Deutungsprozess befindet, galt aber das Streben nach Allwissenheit, oder hier auch curiositas, zur Entstehungszeit des Faustbuchs insofern als negativ konnotiert, als es ein „Denkverbot mittelalterlicher Theologie“[6] darstellte. Der Erkenntnisdrang richtet sich demzufolge gegen das, was in der von Gott geschaffenen Welt als nicht-hinterfragbar gilt und verstößt somit gegen die mittelalterliche Hierarchisierung von Wissen.[7]
Ich möchte nun näher auf die drei Begriffe „Beyspiel“, „Exempel“ und „Warnung“ eingehen, die mir erstens durch ihr gemeinsames Auftreten auf dem Titelblatt der Historia eine Klimax und somit eine Zuspitzung auf das schicksalhafte Ende zu bilden scheinen, und zweitens dem Text eine andere Struktur geben, als es bisher der Fall gewesen ist.[8]
Wenn das Faustbuch ein „abscheuliches Exempel“ darstellen soll, ist der Blick zunächst auf die Bedeutung des „Exempels“ zu richten und dieser Begriff in ein Differenzverhältnis zum bloßen „Beyspiel“ zu setzen. Traninger definiert letzteres als Illustration eines theoretischen Konstrukts, das nur dahingehend erläuternd ist, dass man weiß, wofür es ein Beispiel ist. Das „Exempel“[9] hingegen definiert sie als Darstellung mit Didaxe, die mitunter auf eine außerhalb des Textes stattfindende Situation referiert und folglich als Handlungsanleitung dienen soll.[10] Ein solches Exempel verfolge zudem immer eine Argumentationsabsicht,[11] womit sich auch das Faustbuch im Allgemeinen als didaktisch-funktionalisierter Text rezipieren lässt. Diese Funktionalisierung ist es auch, auf die Annette Gerok-Reiter referiert, wenn sie die These aufstellt, dass die „narrative Darstellungsform des Wissens eine eigene literarisch geprägte Wissensfiguration bildet, die unterschiedliche Relationen zum inhaltlich verhandelten Wissen der Fausthandlung oder zum Erzählerkommentar ausprägen kann“.[12] Mit diesen Begriffen des Titelblatts kann die Historia auf andere Art und Weise strukturiert werden. Der erste Teil, umfassend Kap. 1 – 22, markiert dabei das Beyspiel und enthält die Disputationen und Colloquien mit Mephostophiles. Diese Disputationen finden auf einer abstrakten und theoretischen Ebene statt, wobei, wie Jan-Dirk Müller zeigt, von der Disputation als Methode der Scholastik nicht mehr übrig geblieben ist als ein „Frage- und Antwortspiel“,[13] in dem Wissen lediglich angehäuft wird. Den zweiten Teil, der das „Exempel“ darstellt, würde ich mit Kapitel 23 beginnen lassen. Das erscheint auf den ersten Blick ungewöhnlich, da weder der Autor selbst noch der bisherige Forschungskonsens hier eine explizite Teilung vornehmen. Dennoch lässt sich eine Zäsur feststellen, die dadurch markiert wird, dass ab diesem Zeitpunkt das Wissen nicht mehr anhand abstrakter Disputation erzeugt, beziehungsweise zu Faust transferiert wird, sondern durch eigene Erfahrungen auf eine empirisch-induktive Weise generiert wird. Die „treuwhertzige Warnung“ (HF, S. 3) bildet folglich den letzten Teil des Faustbuchs und beginnt mit Kapitel 28. Auch hier zeigt sich eine starke Zäsur, die vor allem durch den letzten Satz des 27. Kapitels verdeutlicht wird. Die Unterteilung erscheint mir hier sinnvoll, weil Faust ab Kapitel 28 beginnt, das Wissen aus den ersten beiden Teilen zu reproduzieren und an Freunde oder Schüler weiterzutragen. Wird die Beziehung zwischen Faustus und Mephostophiles als Meister-Schüler-Beziehung gedacht, ist die These zulässig, dass nun Faust selbst zu einer „Quelle der Inspiration“[14] wird. Das Ende des Werks ist vor allem von den Konsequenzen des Pakts und dem damit einhergehenden Tod Fausts geprägt. Wie aber lässt sich dieser letzte Teil als „Warnung“ sehen? Die Warnung wird implizit, indem Faust nun selbst über das ‚teuflische‘ Wissen, das eigentlich ein antiquiertes ist,[15] verfügt. Mit seinem Tun und Handeln statuiert er in diesem letzten Teil ein Negativexempel, dessen warnende Wirkung durch die Drastik seines tragischen Todes eine Verstärkung erfährt. So kann bereits das Vorwort des Druckers eine methodisch orientierte Lesart nahelegen, die eine didaktische Funktionalisierung des Textes bekräftigt. Auf die paränetische Funktion des Titelblatts macht auch Marina Münkler aufmerksam.[16] Im Hinblick auf die didaktische Funktion des Textes ist eine Aufteilung in diese drei Teile[17] dahingehend sinnvoll, dass somit einerseits die Prozesshaftigkeit expliziter dargestellt, und andererseits gezeigt werden kann, dass das Wissen in den jeweiligen Partien anderen epistemologischen Gerüsten aufsitzt.
Beyspiel
Die oft kongruent verwendeten Begriffe „Beispiel“ und „Exempel“ sind, wie bereits erwähnt, in ein Differenzverhältnis zueinander zu setzen. Sie unterscheiden sich dahingehend, dass ein Beispiel eine abstrakte und „bloß theoretische Darstellung eines Begriffes“[18] markiert, wohingegen ein „Exempel“ mit einer außerreferentiellen Funktion versehen ist.[19] Jemandes Beispiel folgen sei unverbindlicher, als sich jemanden zum Vorbild zu nehmen,[20] definiert Hans Lipps. Damit wird ein Verhalten als empfehlenswert dargelegt, jedoch nicht zum absoluten Handlungsmuster stilisiert. Durch ein Beispiel solle etwas eingeleitet und eine Blickrichtung aufgezeigt werden; eine direkte didaktische Funktion ist dem Beispiel somit aber nicht zuzuordnen. Lipps hebt die Funktion des veranschaulichenden Charakters eines Beispiels hervor, die bestimmte Begriffe zueinander ins Verhältnis setzt. Dabei sei ein Beispiel aber immer mit einer konkreten Funktion versehen. Es soll demzufolge nicht nur ein Begriff dargestellt und erklärt, sondern vielmehr eine Verknüpfung von Situation und Ort des Funktionsraumes geschaffen werden, in dem dieser Begriff wirkt. Dieser Ansatz der Begriffserklärungen Lipps lässt sich auch auf Figuren und Handlungsräume narrativer Texte übertragen und eröffnet bereits einige Parallelen zu Aufbau und Wirkung der Historia, wenn vor das Beispiel ein negatives Vorzeichen gesetzt wird. Diese Definition impliziert somit eine Lesart, die dem ersten Teil (Kap. 1 – 23) einen beispielhaften Charakter zukommen lässt.
Inhaltlich werden in diesem ersten Textabschnitt sowohl der Werdegang Fausts, der Teufelspakt, als auch die Disputationen mit dem Teufel thematisiert. Der beispielhafte Charakter wird vor allem in den Disputationen mit Mephostophiles (HF, Kap. 3 – 23) deutlich und auch sonst wirkt gerade dieser Teil des Gesamtwerks als theoretische Darstellung der Persona und der Entwicklung Fausts. Dieser wird dem Leser als „Speculierer“ mit einem „thummen […] vnnd hoffertigen Kopff“ (HF, S. 14) vorgestellt, dessen Hang zur „boesen Gesellschaft“ (HF, S. 14) und zum Teufel dem Leser nicht lange verborgen bleibt. Durch die zwar knappe, aber dennoch detaillierte Schilderung der Vita Fausts, ergibt sich ein Erklärungsversuch für die Abtrünnigkeit vom christlichen Glauben. Im Folgenden werden die Beschwörung des Teufels sowie einige Fragen Fausts an diesen dargestellt. Auch wenn bereits in Kapitel drei von einer Disputation die Rede ist (HF, S. 17), bildet hier vielmehr die Verhandlung über die Rahmenbedingungen des Pakts das zentrale Thema, mit „Disputation“ ist folglich keine Gelehrtendebatte im eigentlichen Sinn gemeint. Bis zu dieser, in Kapitel 11, manifestiert sich das Beispielhafte in diesem Teil der Historia vor allem durch die Täuschung Fausts durch Mephostophiles.
Darauff erschiene in D. Fausti Stu[25]ben ein Loewe vnd Drach / die stritten mit einander / wiewol sich der Loeuw tapffer wehrete / ward er dannoch vberwunden vnd vom Drachen verschlungen. (HF, S. 24)
Mephostophiles lässt hier auf magische Weise Tiere und Fabelwesen entstehen, wodurch eine reine Demonstration seiner Fähigkeiten markiert wird. Er bedient sich also eines Beispiels, um Faust in seinem Entschluss zum Pakt zu bestätigen. Auch wenn Faust die Wesen vor sich sieht, sind sie doch imaginierte und somit abstrakte, wenngleich „konkrete“[21] Darstellungen des Möglichen. Was den beispielhaften Charakter der Lesart betrifft, befinden wir uns hier jedoch auf einer anderen Ebene. Nicht das Kapitel wirkt auf diese Weise beispielhaft, sondern vielmehr ist es ein Beispiel, dessen sich Mephisto bedient, um wiederum Faust zu einem Beispiel unter negativen Vorzeichen werden zu lassen. Diese Manifestationen des Unvorstellbaren erfreuen den Protagonisten zunächst, befriedigen jedoch nicht sein Erkenntnisstreben und sein Verlangen, mehr über die Beschaffenheit der Hölle zu erfahren. Die daraufhin einsetzenden Disputationen in Kapitel 11 stehen als scholastische Methode implizit für eine Form der Erkenntnisgenerierung, die vor allem auf einer theoretischen Ebene fungiert und sich vor allem Deduktionsformen wie Syllogismen o. Ä. bedient.[22] Damit beginnt die eigentliche paränetische Funktionalisierung dieses Teils, die eine Lesart als Beyspiel zulässt. Faust fragt nach „Substantz, Ort vnnd Erschaffung“ (HF, S. 30) sowie nach „Wohnung, Regiment vnd Macht“ (HF, S. 31) der Hölle. Er stellt also empirische Fragen, die mittels der abstrakten Disputation scheinbar nicht zu beantworten sind. Die Antworten auf seine Fragen bezüglich der Hölle bleibt Mephostophiles ihm daher vorerst schuldig; Faust erhält lediglich vage, unbefriedigende „Berichte“ (HF, S. 30ff.), die zudem aus einem zu dieser Zeit bereits als antiquiert geltenden Wissen bestehen.[23] Der Prozess der Disputationen verläuft auf einer „vertikalen Ebene“[24] vom Wissen über den Engelssturz bis zur Beschaffenheit der Hölle. Durch die Unbeantwortbarkeit seiner empirisch ausgerichteten Fragen im Rahmen der Methode der scholastischen Disputation erfährt hier die Empirie eine Entwertung. Wissenschaftlich hinterfragbar scheint also nur das zu sein, was im Rahmen einer Disputation beantwortet werden kann.
Neben der Diskreditierung der Empirie zeichnen sich weitere Stellen der Funktionalisierung der Person Faust als (Negativ-)Beispiel ab. Die „Frag/ in was Gestalt die verstossenen Engel gewest“ (HF, S. 32) im 14. Kapitel thematisiert den Engelssturz. Wenn Mephostophiles Faust hier „auff dißmal vmb drey Tag auffzug“ (HF, S. 32) bittet, um die Frage beantworten zu können, eröffnet dies eine interessante Parallele, wenn man einen weiteren Blick in die Bibel wirft. Im Schöpfungsbericht trennt Gott am dritten Tag das Licht von der Dunkelheit (Gen, 1,13), und auch Jesu Auferstehung findet drei Tage nach der Kreuzigung statt (Luk 24, 1). Durch den Engelssturz wird Luzifer aus dem hellen Licht des Himmels verstoßen und kann, im Gegensatz zu Christus und der Menschheit, nicht auferstehen und keine Gnade mehr erfahren. Nachdem Mephostophiles von diesem Sturz Luzifers berichtete, scheint Faust sich ebenfalls als gefallenen Engel zu sehen: „D. Faustus / als er den Geist von disen dingen hatte gehoert […] gieng auch also darauff stillschweigendt vom Geist in seine Kammer / leget sich auff sein Beth / hub an bitterlich zu weinen“ (HF, S. 32). Folglich dient nicht nur der Bericht des Geistes, sondern ganz besonders die Identifikation Fausts mit Luzifer, dem die Gnade Gottes für immer verwehrt bleiben wird, als „schrecklich Beyspiel“ (HF, S. 8). Die didaktische Funktionalisierung erfährt durch Fausts Reue (HF, S. 33) dahingehend eine enorme Verstärkung, als dass diese Reue zu keiner Gnade führt. Verschärft wird diese noch durch die Mitteilung Mephostophiles, er habe Fausts Herz und seine Gedanken besehen können und ihm den Erkenntnisdrang, der ihn dann zum Teufel geführt habe „ins Hertz [ge]pflantzt“ (HF, S. 35, Anm. C. P.). Darin wird ein Aufruf an den „Christlichen Leser“ (HF, S. 8) realisiert, nicht nur in Worten, sondern auch in den Gedanken fromm zu bleiben.
Ein direkter Vergleich mit Kain und Judas (Vgl. HF. S. 36) stellt Faust in diesem Kontext zwei großen Sündern der Bibel gegenüber, was seine Situation noch dramatischer erscheinen lässt. Insgesamt drei Mal erkundigt er sich nach einer Möglichkeit auf Gottes Gnade (Vgl. HF, S. 37 ff.), die von Mephostophiles scharf verneint wird (Vgl. HF, S. 40). Im Hinblick auf die „Didaxe ex negativo“[25] des Textes trägt vor allem die omnipräsente Darstellung der Hoffnungslosigkeit auf eine Erlösung durch Gott dazu bei, dass Fausts Lebensweg als explizites Negativbeispiel gesehen werden kann, an dem die Unverbindlichkeit des Teufels „gezeigt“[26] wird, der ihm ein Wissen verspricht, das er jedoch nie erhalten wird.
Im 18. Kapitel lässt der Autor einen zweiten Teil der Erzählung beginnen, der von der Tätigkeit Fausts als Kalendermacher berichtet. Diese Kapitel 18-22 ordne ich in meiner dreigliedrigen Unterteilung auch dem Teil des Beyspiels zu, zumal in Kapitel 22 eine weitere Disputation mit dem Geist stattfindet und sich Faust noch immer in seiner geschlossenen Studierstube aufhält. Zwar wendet Faust das Wissen, das ihm durch den Pakt zuteil geworden ist, hier bereits an (HF, S. 44), die Art seiner Erkenntnisgenerierung unterliegt in diesen Kapiteln jedoch keinem Wandel. Die Veranschaulichung durch ein Beispiel bezieht sich auf ein bestimmtes Verhältnis, in das man zu dem gebracht wird, beziehungsweise gebracht werden soll, was einem an dem Beispiel vorgeführt wird.[27]
Nach dieser Definition Lipps gilt Faust in diesem ersten Teil der Historia als Negativbeispiel für ein Verhalten, das auf direktem Wege zum Teufel und zu einer damit einhergehenden Gottesferne führt. Ein Beispiel soll außerdem eine „Blickrichtung“[28] aufweisen. Wenn nun der erste Teil des Textes als Beyspiel klassifiziert werden kann, eröffnet dies eine Blickrichtung auf den weiteren Verlauf des Lebens und Schicksals des Protagonisten. Diese Strukturierung deckt so die klare Zuspitzung auf das Ende der Historia auf, ohne narrativ zu stark vorzugreifen.
Exempel
Wenn von einem „Exempel“ die Rede ist, lässt etwa der feststehende Ausdruck ‚ein Exempel statuieren’ bereits eine Semantik dieses Begriffs vermuten, die eine deutlichere Handlungsanleitung vorgibt als ein Beispiel. „Man lernt aus dem, was man sich zum Exempel nimmt, wie es zugeht, wie es einem ergeht oder ergehen kann, wenn…“,[29] definiert Lipps. Auch wenn das Beispiel ebenfalls das Ziel verfolgt lehrhaft zu wirken, unterscheiden sich beide Begriffe jedoch dadurch voneinander, dass das Exempel eine konkrete Handlungsanleitung vorgibt, das Beispiel hingegen lediglich eine Veranschaulichung, in diesem Fall eines Verhaltens, abbildet.[30] Wie das Beispiel auch, hat das Exempel einen persuasorischen Antrieb. Dabei involviert es aber den Rezipienten stärker in seine Intention, das Handeln anzuleiten und vorbildhaft zu steuern.[31]
Wenn auch im negativen Sinn, lässt sich genau diese Handlungsanleitung in Teil II der Historia nachvollziehen. Sie wird konkreter und auch die Denkform Fausts verändert sich. Nach den nicht zufriedenstellenden Disputationen mit Mephostophiles über die Hölle macht Faust diese nun selbst „empirisch zum Gegenstand seiner Autopsie“[32] und distanziert sich somit weiter vom antiquierten „Papierwissen“[33] des Mittelalters. Diese Entfernung markiert nur einen weiteren Meilenstein auf seinem Weg, der ihn direkt in die Hölle führt und impliziert so ebenfalls eine Kritik am aufstrebenden Empirismus. Dass jedoch das Wissen, das er durch diese vermeintlich empirisch-induktive Form der Erkenntnisgenerierung erhält, ein Überholtes ist, depraviert nicht nur die Persona Faust, sondern auch die neue Denkform. Dem Leser wird auf diese Weise vermittelt, dass auch der Empirismus keine neuen Erkenntnisse liefert und der ‚fromme Christ‘ sich davon besser distanzieren sollte.
Bei Fausts Gestirnsfahrt in Kap. 25, die als Kompilation aus Elias’ gottgefälliger Auffahrt in den Himmel und der Luftfahrt des romanesken Alexanders gesehen werden kann,[34] wechselt die Erzählinstanz von einer auktorialen zu einer personalen Haltung. Der Erzähler informiert im Vorfeld darüber, dass diese Art „Gedächtnisprotokoll“[35] „bey jm funden / so mit seiner eygen Handt concipiert vnd auffgezeichnet“ (HF, S.56) wurde. Damit wird Faust, ganz im Sinne des Exempels, zum handelnden Subjekt. Auch gibt nicht mehr Mephostophiles die Berichte ab, wie in Teil I, sondern als Dokument aus seinem Nachlass ist dies ein Bericht Fausts selbst. Dies trägt als weitere Funktion die Diskreditierung Fausts Forschen und Wissen, da auf diese Weise alle wissenschaftlich anfechtbaren Resultate auf Faust allein und seine Denkform zurückfallen.[36] Wie Ruberg anmerkt, und die historische Forschung bisher zeigen konnte,[37] setzt sich Fausts Wissen primär aus zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Historia bereits überholtem Wissen aus Enzyklopädien des Spätmittelalters zusammen. Dabei wird entweder von bewusstem Handeln oder Fahrlässigkeit des Autors bei der Integration dieser Texte ausgegangen.[38] Im Hinblick auf die Interpretation dieses Teils der Historia sind beide Ansätze möglich. Das Ziel der Diskreditierung des Wissens erreichen sie jedoch beide.
Ein bedeutender Punkt bezüglich der Transformation Fausts und seiner Genese zu einem Negativexempel, auf den auch Annette Gerok-Reiter hinweist, ist das Verlassen der Studierstube[39] im zweiten Teil. Im Unterschied zum geschlossenen Raum, der eine Art Referenzrahmen bildet, in dem das narrative Zentrum des Beyspiels fungiert, befindet sich die exemplarische Erzählung nun außerhalb jeglicher institutioneller Bindung. Demnach müssten sich dem Protagonisten die Geheimnisse des Universums offenbaren, die er empirisch untersuchen könnte. Bezüglich der Höllenfahrt ist dies allerdings weit gefehlt, denn „es war nur eine lauter Phantasey oder Traum“ (HF, S. 53). Faust ist geblendet worden und so gelten die gewonnen Erkenntnisse als scheinbar nichtig. Auch wenn die Höllenfahrt nur ein „Gauckelwerk“ (HF, S. 54) ist, unterliegt dieses Kapitel dennoch einem exemplarischen Charakter und deutet auf eine Prozesshaftigkeit hin, die sowohl die Persönlichkeitsentwicklung Fausts manifestiert, als auch durch den unbedingten Wahrheitsanspruch eine scheinbare Realität erzeugt, die für eine paränetische Lektüre der Rezipienten sorgt. Für Faust hat die Höllenfahrt damit die Funktion eines ‚abscheulich Exempel‘, das ihn derartig von der Hölle abzuschrecken versucht, dass sein Erkenntnisstreben dadurch versiegt. Er „werde mehr gesehen haben dann jm lieb sey“ (HF, S. 55). Tatsächlich generiert die Hölle eine gewisse Angst des Protagonisten, die bereits als richtungsweisend für seine melancholische Verfassung in Teil III gedeutet werden kann. Diese manifestiere sich, nach Gerok-Reiter, vor allem in der Lexik. So finden sich neben Verben des Sehens ebenso Verben des Fühlens und Empfindens, wie zum Beispiel das Fühlen von Angst, Kälte oder Hitze während der Höllenfahrt und Begehren während der Gestirnsfahrt.[40] Doch ein Begehren Fausts, die Welt und was in ihr ist zu erfahren, besteht weiterhin. Die nach der „Fahrt ins Gestirn“ im 26. Kapitel folgende „Pilgramfahrt“ (HF, S. 60) führt ihn, auf einem ‚Dromedari’, das als Figur der superbia[41] klassifiziert wird, durch die verschiedensten Länder Europas. Doch halten sich die Möglichkeiten seiner Autopsie, ob der Vogelperspektive, in Grenzen „[W]ar 25. Tag aussen / darinnen er nit viel sehen kondte / darzu er Lust hette.“ (HF, S. 60)
Die Fortbewegungsart wechselt daraufhin. Faust ist nun zu Pferde unterwegs und erlebt eine Reise durch die Städte aus der ‚Froschperspektive‘. Die scheinbar wahllos aneinandergereihten Städte entsprechen der Schedelschen Weltchronik, deren Ordnung nach dem Alter und damit einhergehendem Rang[42] der Städte festgelegt ist. Ab dem Besuch der Stadt Basel hebt sich die Anordnung nach der Schedelschen Weltchronik auf und wechselt ins Beliebige.[43] Es folgen „Costnitz“, „Vlm“ und „Wirtzburg“ (HF, S. 65). Die Städte wirken exemplarisch als Orte des Wissens beziehungsweise als Orte, an denen empirisches Wissen erfahrbar wird. Daher geht es mir, trotz des Bezugs auf eine im 16. Jahrhundert bereits als veraltet geltende Quelle, um die Art der Erkenntnisprozesse des Protagonisten. Faust wird hier zum handelnden, erfahrenden und vor allem sehenden Subjekt stilisiert.
Im letzten Kapitel der Historia, in dem der Pakt seinen Tribut fordert, wird eindringlich beschrieben, wie Fausts Augen, getrennt von seinem Körper, neben den Zähnen auf dem Tisch liegen (HF. S. 123). Wird nun, in Rückbezug auf den eingangs angeführten Sündenfall, Faust als Adam gedacht, bildet sich eine beträchtliche Parallele. Im 17. Jahrhundert und Kontext des entstehenden Empirismus wurde Adam als allwissender Philosoph charakterisiert, der über ebenso übernatürliche physische Kräfte verfügte.[44] Traninger verweist hier auf Samuel Pordages Epos Mundorum explicatio in dem Adam sogar fliegen kann.[45] Interessanter noch werden diese physischen Kräfte aber, wenn es um das Sehen geht. Nach Joseph Glanvill habe Adam bereits ohne Galileis Fernrohr die Dinge und auch ihr Wesen sehen und erkennen können.[46] Frühneuzeitliche wissenschaftliche Instrumentarien, wie Teleskop und Brille klassifiziert Traninger als „optische Krücken des gefallenen Menschen“,[47] die Adam vor dem Sündenfall noch nicht gebraucht habe, als Konsequenz daraus aber verloren hat. Anstelle der empirischen Instrumentarien tritt in Fausts Fall der Teufel, der ihn die Welt in Teil II sehend erfahren lässt. Wenn aber in Kapitel 68 „seine Augen vnd etliche Zaen allda“ (HF, S. 123) liegen, ist das ein Zeichen der Bestrafung des Sünders, der diese Augen dazu missbraucht hat, etwas zu sehen, das er nicht sehen sollte. Auch ist es eine Bestrafung im zweifachen Sinn, denn der ohnehin schon durch den Sündenfall um seine uneingeschränkte Weltsicht gebrachte Faust verliert nicht nur seine ‚optischen Krücken‘, die Kraft des Sehens, die ihm durch Mephostophiles zuteil wird, sondern ganz konkret seine eigenen Augen. Jan-Dirk Müller stilisiert das „Selbst-Sehen“ im Kontext der erfarung als „Sackgasse der Erkenntnis“,[48] da verkannt werde, was man selbst sieht und wenn es endlich erkannt wird, trage es keinen Nutzen mehr in sich, da die heilspraktische Wirkung ausbleibe. So wird beispielsweise das Paradies von Faust während seiner Fahrt ins Gestirn nur aus der Ferne gesehen. Laut Jan-Dirk Müller könne er dorthin auch nicht gelangen, da dies eine Form der inneren Umkehr voraussetzen würde. Auch erscheint das Paradies hier nicht in einem religiös motivierten Kontext, sondern scheint im Kontext empirischer Erfahrungen zu stehen. Die heilsgeschichtliche Bedeutung des Paradieses befindet sich jedoch nicht im Erreichbaren einer Empirie.[49] Somit wird gleichermaßen die Handlungsmöglichkeit des Teufels diskreditiert, denn so wie wissenschaftlich experimentelle Instrumentarien nur zu einer Verbesserung der Sinnesschärfe führen können, hat auch die Kraft des Teufels ihre Grenzen.
Warnung
Im Unterschied zu Teil I und II wird im letzten Teil (Kap. 28 – 65) das Beispielhafte und Exemplarische zu einer tatsächlichen Manifestation der sich daraus ergebenden Konsequenzen. Von abstrakten, theoretischen Disputationen über die Hölle bis hin zu empirischen Erfahrungen zwischen Himmel und Erde, stellt sich nun eine neue Form der didaktischen Gestaltung dar: die Warnung. Der Übergang von Teil II zu Teil III wird durch eine starke Zäsur markiert. Am Ende des 27. Kapitels geht es um die Unmöglichkeit einer Autopsie des Paradieses: „Aber weder du / ich / noch kein Mensch kann dazu kommen.“ (HF, S. 72). Der Punkt, an dem keine Empirie mehr weiterführt ist erreicht, denn die tiefsten Gründe der Religion werden hier explizit geschützt.
Ab Kapitel 28 findet zudem eine weitere Transformation statt, die eine Zäsur markiert und eine Unterteilung meinerseits rechtfertigt. Nachdem Faust in Teil I eine Art Schüler von Mephostophiles darstellt, der in einem „asymmetrischen“[50] Lehrverhältnis zu ihm steht, in Teil II die Welt und das Universum selbst erfährt, wandelt sich seine Rolle in Teil III zu der des Wissensvermittlers, indem er beispielsweise in Kap. 28 seine „etliche gute Freund“ (HF, S. 73) an seinem astrologischen Wissen, das ihm durch Mephostophiles zugänglich gemacht worden ist, teilhaben lässt. Faust, der nun selbst als Instanz der Wissensvermittlung gilt, lässt sich durch den Transfer des ‚teuflischen Wissens‘ von hier an selbst den Geistern der Hölle zuordnen. Jedoch markiert der dritte Teil der Historia nicht nur einen Wissenstransfer, sondern auch eigenes magisches Handeln Fausts.
Mit dem Ansatz, der sich aus Lipps Definition „Man statuiert ein Exempel, damit sich der andere etwas zur Warnung dienen läßt“[51] ergibt, werden Teil II und III auch kausal miteinander verbunden und der prozesshafte Charakter der Historia hervorgehoben. So führt der exemplarische Teil zwangsläufig zu einer Warnung, die zweifelsohne lehrhaft wirken soll. Diese manifestiert sich durch Fausts buntes Treiben im Schwankteil, indem sein Wirken und Handeln durch verschiedene bösartige Zaubereien vollkommen lächerlich gemacht wird. Etwas stärker verdeutlicht sich die Warnung in Kapitel 67 und 68, wenn Faust sich des Ablaufs der Zeit des Paktes bewusst und zunehmend melancholischer wird. Faust steht, laut der Definition von Kraß, der sich in seiner Argumentation auf Georg Lukács bezieht, in einem Differenzverhältnis zwischen Romanheld und epischem Held.[52] Die Persona ‚Faust‘ unterscheide sich im Schwankteil kategorisch von der des Romanteils. Diese Form eines zwiespältigen Charakters werde hier vor allem durch den bibliothekarischen Code untermalt, der sich aus zwei Arten von Quellen zusammenfügt. Einerseits den theologischen, kosmologischen und geographischen im Romanteil und andererseits der karnevalesken Literatur im Schwankteil.[53] Da beide Sorten von Quellen während der Entstehung des Texts im 16. Jahrhundert bereits als antiquierte, aus dem Mittelalter stammende Stoffe gelten, vertritt Kraß die These, dass somit dieses ‚alte’ Wissen in der Historia zu depravieren versucht wurde.[54] Ruberg geht hier von zwei verschiedenen Möglichkeiten aus: Einerseits, einer bereits oben genannten „Fahrlässigkeit“ des Autors, andererseits bestehe die Möglichkeit einer bewussten Entscheidung, altes Wissen einzuarbeiten,[55] um somit nicht das Wissen des Spätmittelalters zu diskreditieren, sondern aufzuzeigen, dass sich das Einlassen mit dem Teufel schlicht nicht lohnt. Ich schließe mich der These an, dass die Kompilation des alten Wissens aus einer bewussten moral-didaktischen Intention heraus motiviert ist. Faust soll aus seinem Teufelspakt ganz bewusst keinen direkten Wissensfortschritt gewinnen.
Die Warnung zeigt sich an dieser Stelle durch eben jenes Verhältnis von Einsatz und Nutzen und wirkt auf diese Weise sehr rational. Doch wenn auf dem Titelblatt von einer „treuwhertzig Warnung“ die Rede ist, eröffnet sich die Frage nach der Treuherzigkeit, die darin impliziert wird. Freilich gibt sich der Erzähler durchweg als absolut moralisch-wertende Instanz, was sich besonders an der Akkumulation pejorativer Adjektive festmachen lässt, die vor allem in Teil I und II sowie im Schwankteil auftreten; folglich immer wenn das Handeln Fausts zu kritisieren versucht wird. In einem Oppositionsverhältnis zur rationalen Intention des Erzählers, die Zweckmäßigkeit des Paktes betreffend, steht Fausts Ende. Dieses ist im Unterschied zum „schrecklichen Beyspiel“ in Teil I und dem „abscheulichen Exempel“ in Teil II von einer erstaunlichen Empathie für den Protagonisten geprägt, was vor allem durch das Hervortreten Fausts Innensicht durch die direkte Rede (HF, S. 119) entsteht, die durch die Gattung der Nachlassschrift ermöglicht wird.
Von unabdingbarer Bedeutung für die hier implizierte Warnung stellt sich die Schilderung dessen dar, was nach Ablauf der Frist von 24 Jahren mit dem Protagonisten geschieht:
[D]ann die Stuben voller Bluts gespruetzet / Das Hirn klebte an der Wandt / weil jn der Teufel von einer Wandt zur andern geschlagen hatte. Es lagen auch seine Augen vnd etliche Zaen allda / ein greulich vnd erschrecklich Spectackel. […] Letztlich aber funden sie seinen Leib heraussen bey dem Mist ligen / welcher gereuwlich anzusehen war / dann jhme der Kopff und alle Glieder schlotterten. (HF, S. 123)
Das Instrument der Abschreckung erzeugt hier die wohl stärkste Form einer Warnung an den Leser. Diese wird vor allem durch die unverblümte Schilderung und die Häufung der beschreibenden Adjektive und Adverbien des semantischen Felds des Schreckens erreicht. Auf die Bedeutung der Augen bin ich bereits zu sprechen gekommen. Annette Gerok-Reiter weist jedoch auch auf die Funktionalisierung der anderen Körperteile hin, wie beispielsweise das Gehirn als Erkenntnismedium sowie den „planlos“ herumliegenden Leib auf dem Mist.[56] Auch hier werden sowohl Denksysteme dekonstruiert, die dem Seelenheil schaden könnten, als auch eine damit einhergehende Darstellung der Warnung impliziert.
Fazit
Der paränetische Charakter des Textes wird sowohl eingangs im Vorwort der Historia: „Solches will ich zur Warnung vnd Exempel aller frommen Christen melden /damit sie dem Teuffel nicht statt geben.“ (HF, S. 22) als auch im Nachwort mit dem Anspruch „darauß jeder Christ zu lernen“ (HF, S. 123) dargelegt, womit die Intention des Erzählers festgelegt ist.
Mein Ziel war nicht, die vom Autor vorgesehene Gliederung des Textes infrage zu stellen. Vielmehr habe ich zeigen wollen, dass eine Dreiteilung dieser Art den paränetischen Charakter als zentral für das Werk erscheinen lässt und sich dadurch ein stufenhafter Aufbau des Textes bemerkbar macht, der die Didaxe des Textes besonders in den Vordergrund rückt. So fungiert Teil I als Beyspiel im zweifachen Sinn. Erstens wird anhand zahlreicher intertextueller Beispiele das verhandelte Wissen verdeutlicht und zweitens verleiht Faust, als explizites Negativbeispiel, dem gesamten Teil einen beispielhaften Charakter. Ähnlich gestaltet sich Teil II, dessen Abgrenzung zum ersten Teil durch eine Änderung der Form der Erkenntnisgenerierung markiert wird. Zudem stellen die dort verhandelten Elemente Exempel dar. Der dritte Teil bildet die notwendige Konsequenz und zeigt zugleich den paränetisch warnenden Charakter der Historia. Aber was kann der zeitgenössische christliche Leser aus der Historia tatsächlich lernen?
Sowohl Beispiel als auch Exempel sind persuasorische[57] Begriffe, die demnach immer auch das Ziel verfolgen lehrhaft zu wirken. Der Unterschied beider Begriffe soll hier trotzdem deutlich gemacht worden sein. In der Frühen Neuzeit und bis ins 18. Jahrhundert sei der Begriff des exemplum, neben eines Gattungsbegriffs, vor allem ein Funktionsbegriff gewesen.[58] Damit scheint deutlich zu werden, wie sehr die Historia im Sinne einer mahnenden Didaxe fungiert. Durch Fausts Stilisierung zum Negativexempel besteht die Didaxe jedoch lediglich aus Elementen, die demonstrieren, wie etwas nicht zu tun ist. Eine Handlungsanleitung im konkreten Sinn gibt die Historia nicht. Vielmehr scheint sie rückwärtsgewandt die neuen Denkansätze des Humanismus zu dekonstruieren und zeigt, dass daraus scheinbar keine wissenschaftlich haltbaren Erkenntnisse gewonnen werden könnten. Die Verteilung der Wissenssysteme auf zwei verschiedene Denkformen, der deduktiven, abstrakten Form der Scholastik auf der einen und der empirischen auf der anderen Seite, markiert besonders das Sich-Entfernen vom ‚rechten Weg‘ des Protagonisten. Dabei wird immer wieder hervorgehoben, dass Faustus einen ‚schlechten Tausch‘ gemacht hat, denn „Mit der Hilfe des Teufels hätte Faustus mehr von der Welt erfahren müssen“.[59]
FU Berlin, Sommersemester 2015
[1] Historia von D. Johann Fausten, Text des Druckes von 1587. Kritische Ausgabe. Mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke. Hg. v. Stephan Füssel und Joachim Kreutzer. Stuttgart 2006. Im Folgenden im Fließtext als HF und der entsprechenden Seitenzahl zitiert. Hier S. 3.
[2] Jan-Dirk Müller: „‚curiositas‘ und ‚erfarung‘ der Welt im frühen deutschen Prosaroman.“ In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Hrsg. von Ludger Grenzmann und Karl Stackmann. Germanische Symposien. Berichtsbände 5. Stuttgart: Metzler 1984. S. 252-271.
[3] Jan-Dirk Müller: „‚curiositas‘ und ‚erfarung’“ S. 252.
[4] Anita Traninger: „Sündenfallstudie. Zur Interpretation des lapsus hominis im Hinblick auf die Defizite des menschlichen Intellekts und die Grenzen des Wissens in der Frühen Neuzeit mit einem Blick auf das Verhältnis von ‚Fall‘ und ‚Exempel‘.“ In: Fallstudien. Theorie-Geschichte-Methode. Hrsg. von Johannes Süßmann, Susanne Scholz und Gisela Engel. Berlin: Trafo 2007. S. 195-208. Hier S. 197.
[5] Ebd. S. 198.
[6] Jan-Dirk Müller: „curiositas‘ und ‚erfarung‘“ S. 252.
[7] Ebd. S. 252.
[8] Annette Gerok-Reiter unterteilt den Text in vier Teile, wie es auch Grundkonsens der Forschung ist, wobei die ersten drei Kapitel den Wissenserwerb und das letzte die Konsequenzen des Paktes darstellen. Siehe Annette Gerok-Reiter: „Tradition und Transformation in der ‚Historia von D. Johann Fausten’.“ In: Kultur-Poetik, Hrsg. von Manfred Engel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011. S. 1-20.
[9] Traninger definiert ‚exemplum‘, griechisch paradéigma, als Begriff, dessen Bedeutungsunterscheidung sich im Deutschen durch die Termini Beispiel und Exempel manifestiert. Siehe Anita Traninger: „Sündenfallstudie.“ S. 201.
[10] Ebd.
[11] Ebd. S. 202.
[12] Gerok-Reiter, Annette: „Tradition und Transformation.“ S. 5.
[13] Jan-Dirk Müller: „Der Ausverkauf menschlichen Wissens.“ S. 192.
[14] Almut-Barbara Renger: „Imite-moi et ne m’imite pas: Das ‚mimetische Begehren‘ als Ursprung des krisenhaften Verlaufs der Meister-Schüler-Beziehung nach René Girard.“ In: Paragrana. Nr. 23. Jg. 2. 2014. S. 48-62. Hier S. 57.
[15] Andreas Kraß: „Am Scheideweg: Poetik des Wissens in der Historia von D. Johann Fausten.“ In: Frankfurt im Schnittpunkt der Diskurse. Strategien und Institutionen literarischer Kommunikation im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Robert Seidel. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2010. S. 221-234. Hier S. 229.
[16] Marina Münkler: „‚allezeit den Spekulierer genennet‘. Curiositas als identitäres Merkmal in den Faustbüchern.“ In: Faust-Jahrbuch 2. Hrsg. von Tim Lörke und Bernd Mahal. Tübingen: Francke 2006. S. 61-81. Hier S. 67.
[17] Wenn im weiteren Verlauf des Textes von Teil I, II, und III. die Rede ist, wird damit die Unterteilung gemeint, die ich vorgenommen habe.
[18] Hans Lipps: „Beispiel, Exempel, Fall und das Verhältnis des Rechtsfalls zum Gesetz.“ In: Ders.: Die Verbindlichkeit der Sprache. Arbeiten zur Sprachphilosophie und Logik. Hrsg. von Evamaria von Busse. Frankfurt am Main 21958. S. 39-65. Hier S. 39.
[19] Siehe Anita Traninger: „Sündenfallstudie.“ S. 198.
[20] Siehe Hans Lipps: „Beispiel, Exempel, Fall und das Verhältnis des Rechtsfalls zum Gesetz.“ S. 40.
[21] Siehe Hans Lipps: „Beispiel, Exempel, Fall und das Verhältnis des Rechtsfalls zum Gesetz.“ S. 40.
[22] Anita Traninger: Disputation, Deklamation, Dialog. Medien und Gattungen europäischer Wissensverhandlungen zwischen Scholastik und Humanismus. Stuttgart: Steiner 2012. S. 277.
[23] Siehe Andreas Kraß: „Am Scheideweg.“ S. 229.
[24] Annette Gerok-Reiter: „Tradition und Transformation.“ S. 8.
[25] Michael Ott: Fünfzehnhundertsiebeundachtzig. Literatur, Geschichte und die Historia von D. Johann Fausten. Frankfurt am Main: 2014. Hier S. 138.
[26] Lipps stellt den Begriff des Beispiels in Opposition zum Modellbegriff. An einem Modell könne ein Zusammenhang dargestellt werden. Ein Beispiel hingegen diene dazu um ‘daran‘ etwas zu zeigen. Siehe Hans Lipps: „Beispiel, Exempel, Fall und das Verhältnis des Rechtsfalls zum Gesetz.“ S. 40f.
[27] Ebd. S. 40.
[28] Ebd.
[29] Ebd. S. 45.
[30] Ebd. S. 40.
[31] Siehe Anita Traninger: „Sündenfallstudie.“ S. 202.
[32] Uwe Ruberg: „Zur narrativen Integration enzyklopädischer Texte am Beispiel des ‚Faustbuchs’ von 1587.“ In: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung. Hrsg. von Franz M. Eybl und Wolfgang Harms. Tübingen: Niemeyer 1995. S. 64-80. Hier S. 70.
[33] Siehe sowohl Uwe Ruberg: „Zur narrativen Integration enzyklopädischer Texte.“ S. 70, als auch Annette Gerok-Reiter: „Tradition und Transformation.“ S. 8.
[34] Siehe Uwe Ruberg: „Zur narrativen Integration enzyklopädischer Texte.“ S. 71.
[35] Ebd.
[36] Ebd.
[37] Siehe u. a. Jan-Dirk Müller: „Der Ausverkauf menschlichen Wissens.“ S. 178.
[38] Ebd.
[39] Annette Gerok-Reiter: „Tradition und Transformation.“ S. 7.
[40] Ebd. S. 8.
[41] Jan-Dirk Müller: „Der Ausverkauf menschlichen Wissens.“ S. 181.
[42] Ebd.
[43] Ebd. S. 182.
[44] Siehe Anita Traninger: „Sündenfallstudie“ S. 197.
[45] Ebd.
[46] Ebd. S. 198.
[47] Ebd.
[48] Jan-Dirk Müller: „Der Ausverkauf menschlichen Wissens.“ S. 182.
[49] Ebd.
[50] Almut-Barbara Renger: „Imite-moi et ne m’imite pas.“ S. 57.
[51] Hans Lipps: „Beispiel, Exempel, Fall und das Verhältnis des Rechtsfalls zum Gesetz.“ S. 45.
[52] Siehe Andreas Kraß: „Am Scheideweg.“ S. 232
[53] Ebd.
[54] Ebd. S. 234 f.
[55] Siehe Uwe Ruberg: „Zur narrativen Integration enzyklopädischer Texte.“ S. 70.
[56] Annette Gerok-Reiter: „Tradition und Transformation.“ S. 11.
[57] Anita Traninger: „Sündenfallstudie.“ S. 202
[58] Ebd.
[59] Jan-Dirk Müller: „Der Ausverkauf menschlichen Wissens.“ S. 180.