Julian Lauer: Neuer Staatsfeminismus – gleiches Muster? Eine Analyse staatsfeministischer Maßnahmen im prä- und post-revolutionären Tunesien.
-
Begrifflichkeiten
Ich werde in dieser Arbeit die Begriffe ‚Feminismus‘ und ‚Women Empowerment‘ verwenden, um das Konzept ‚Staatsfeminismus‘ zu evaluieren. Dafür werde ich die sozialwissenschaftliche Diskussion um diese Begriffe nachvollziehen, an einer Definition festhalten und sie im Laufe dieser Arbeit verwenden. Ich begreife ein Verständnis dieser Begriffe als essenziell, um Staatsfeminismus und seine möglichen Folgen zu verstehen.
Feminismus
Feminismus wird in dieser Arbeit als emanzipatorische Agenda von Akteur_innen in der Gesellschaft verstanden, die die Aufgabe hat, gegebene Geschlechterverhältnisse zu transformieren und das Ziel hat, den Stand der als Frauen*[1] identifizierten Personen in der Gesellschaft auszubalancieren bzw. zu verbessern.[2] Sich als Feminist_innen bezeichnende Akteur_innen setzen sich eine solche Agenda.
Women Empowerment
In der sozialwissenschaftlichen Diskussion wird Women Empowerment als Handlung, manchmal auch in Form eines Ereignisses oder eines Mediums, verstanden. Sie hat das Ziel, Frauen autonomes Handeln zu ermöglichen, also Entscheidungen, die ihr eigenes Leben betreffen, selbst fällen zu können.[3] Im Detail bedeutet dies, dass Frauen in Zukunft gleiche Privilegien wie der Rest der Gesellschaft besitzen sollen und individuelle Vorstellungen vom Leben verwirklichen können.[4]
Empowerment findet noch nicht statt, wenn zum Beispiel Frauen* die staatliche Infrastruktur betreten können, um ihre Forderungen zu äußern, sondern erst dann, wenn in diesem Zuge ihre Forderungen Wirklichkeit werden.
Wichtig ist dabei, dass Women Empowerment in sowohl Konnotation als auch Denotation in verschiedenen soziokulturellen Kontexten stark variiert. Diese Arbeitsdefinition bietet flexible Anwendungsmöglichkeiten, z.B. im Hinblick auf die Identifikation von staatsfeministischen Momenten, auf welche genauer in Kapitel 3 eingegangen wird.
-
Einführung
In den letzten Jahren wurden viele Behauptungen über den Staatsfeminismus aufgestellt: „Staatsfeminismus ist reaktionär“[5] oder „Staatsfeminismus ist anti-progressiv“[6]. Historisch wurde der tunesische Staat oft mit Staatsfeminismus in Verbindung gebracht.[7] Doch selten wurden sowohl positive als auch negative Argumente für einen solchen gegenübergestellt. Tunesien hat außerdem kürzlich revolutionäre Umstürze erlebt. Aus diesen Gründen bietet Tunesien ein gutes Untersuchungsobjekt, um Staatsfeminismus zu betrachten.
Das Ziel dieser Arbeit ist, die Geschichte der tunesischen Staatsfeminismen zu erörtern, um herauszuarbeiten, was diese für verschiedene Akteur_innen im Bereich der Frauen*bewegungen und des tunesischen Staates bedeuteten. Zudem wird der Versuch unternommen, herauszufinden, ob ein Staatsfeminismus auch im post-revolutionären Tunesien noch einmal auftreten kann. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auf die neue tunesische Verfassung gelegt werden.
Wenn man erkennen will, ob Staatsfeminismus eine empowernde Wirkung für Frauen* zeigt, dann müssen Fallstudien analysiert und verglichen werden, wie ich es sowohl für das prä- als auch das post-revolutionäre Tunesien tun werde. Außerdem stelle ich die These auf, dass Tunesien trotz demokratischerem System vor der Gefahr eines reaktionären Staatsfeminismus steht, welcher die Autonomie der tunesischen Frauen* stark bedrohen könnte.
-
Was ist Staatsfeminismus?
In den Sozialwissenschaften wird seit geraumer Zeit um eine allgemeine Definition des Konzepts ‚Staatsfeminismus‘ diskutiert.[8] Ich werde für diese Arbeit mit der Definition von Mazur und McBride[9] arbeiten, die sie in einem Aufsatz einführten, der die Entwicklung des Begriffs seit den 1980er Jahren nachverfolgt und dann eine überarbeitete Definition vorschlägt.
Mazur and McBride stellten schon 1995 fest, dass das Phänomen Staatsfeminismus nicht klar zu definieren ist. In „Comparative State Feminism“ machen sie deutlich, dass die Konzepte ‚Staat‘ und ‚Feminismus‘ Objekte für eine Forschung sind, die verschiedene nationale oder regionale Phänomene vergleicht. Staatsfeminismen sind abhängig von nationalen und regionalen Kontexten. Deswegen kann keine universale Definition gefunden werden. Mazur und McBride bemühen sich deshalb um eine Definition mit dynamischen Faktoren.[10] Nach Mazur und McBride wurde der Begriff ‚Staatsfeminismus‘ erstmalig von Helga Hernes 1987 verwendet. Sie benutzte den Begriff hauptsächlich, um Maßnahmen und Politikentwürfe des Staates zu beschreiben, welche als Antwort auf Probleme oder Forderungen von Frauen*bewegungen [Women‘s Movements[11]] folgten. Das nannte sie „feminism from above“[12]. Bis in die frühen 1990er Jahre wurde Hernes’ Begriff in der sozialwissenschaftlichen Diskussion um Staatsfeminismus verwendet, jedoch wurde dann, maßgeblich durch Forschung aus Australien, dem Begriff eine neue Dimension hinzugefügt.[13] Es wurde festgestellt, dass Individuen auch den Staat (dort verstanden als Arenamodell) betreten können. Dort konnten Sie als staatliche Akteur_innen Maßnahmen und Politikentwürfe beeinflussen. Diese Akteur_innen erhielten den Begriff „femocrats“[14], „Feminism from above“ wurde zu „official feminism“[15] oder auch „femocracy“[16]. Die dritte Phase der Begriffsentwicklung, die Mazur und McBride beschreiben, ist vor allem von den Bestrebungen des Research Network on Gender Politics and the State[17] beeinflusst. Eine breit angelegte Studie dieses Netzwerks versucht Staatsfeminismus in einem transnationalen Kontext besser zu verstehen. In dieser wird ein komparativer Ansatz mit einer neuen Methode kombiniert, die einen quantitativen Vergleich von Staatsfeminismen ermöglichen soll.[18] Diese Phase in der Entwicklung des Begriffs ‚Staatsfeminismus‘ ist durch einen Wechsel der Fokussierungen innerhalb des Forschungsfeldes charakterisiert, z.B. beschrieben von Krook.[19] Wurden in der letzten Dekade hautpsächlich WMAs als Analyseeinheit verwendet, so werden nun auch politische Systeme und andere Akteur_innen miteinbezogen.[20]
Damit rückte die zunehmende Komplexität der Systematik und dynamischen Interaktionen zwischen einzelnen Akteur_innen innerhalb und außerhalb des Staates in den Vordergrund. Das bewegte Mazur und McBride dazu, eine neue Definition zu entwickeln. Hier ist Staatsfeminismus nunmehr nicht die „institutionalization of feminist interests“[21]. Die neuere Forschung auf dem Feld des Staatsfeminismus setzt den Fokus „on interactions between individual feminists inside and outside of the state and their connection to women-friendly/ feminist organization“[22]. Das Ausmaß an Staatsfeminismus manifestiert sich folglich in „the extent to which policy agencies and policy actions respond to women’s movement actors“[23].
Es ist deswegen wichtig, die Offenheit des Konzepts zu betonen. Staatsfeminismen können für den Stand der Frau in der Gesellschaft grundsätzlich weder als positiv noch als negativ bewertet werden, sondern müssen am konkreten Untersuchungsobjekt herausgearbeitet werden. Nicht zuletzt die von globalen ökonomischen, ökologischen und sozialen Faktoren abhängigen Politiken eines Staates bestimmen die Möglichkeit empowernder Ergebnisse. Auch staatliche Handlungen allein erzielen in seltenen Fällen ein Women Empowerment. Zeitgleich wirken beispielsweise kulturelle Barrieren oder intersektionale Unterdrückungsmechanismen. Etabliert sich beispielsweise eine neue Frauen*-Bewegung, kann diese trotz staatlicher Duldung noch Ziel von Rassismus werden.
-
Methodik
Um neben der Beobachtung eine Beurteilung der Staatsfeminismen in Tunesien möglich zu machen, werden ich meine Analyse durch historische Informationen zum Stand der Frau in Tunesien ergänzen. Hierbei werfe ich zunächst einen Blick auf Tunesiens staatliche Aktivitäten und Geschichte, die in dieser als Teil eines Staatsfeminismus bewertet werden können. Bezüglich der staatlichen Maßnahmen, welche sich unter die Definition von Mazur und McBride fassen lassen, werde ich mich an Hester Eisensteins „feminist interventions“ orientieren. Dieses Konzept stellt ein Set von Kategorien bereit, das Indikatoren für einen staatsfeministischen Ansatz staatlicher Aktivitäten beinhaltet. Ich erachte diesen Ansatz als sinnvoll für die Analyse von kulturellen, ökonomischen und politischen Vorkommnissen, da die dort vorhandenen Kategorien sich auf konkrete historische Ereignisse anwenden lassen. Eisensteins Kategorien lassen sich außerdem auf sich selbst als Feminist_innen betitelnde Individuen, oder sich als feministische Organisationen betitelnde Organisationen anwenden:
Category 1. Bureaucratic-individual: entering the bureaucracy of state or national government at a policy-making level as a self-identified feminist.
Category 2. Bureaucratic-structural: creating new structures within government or university administrations to benefit women (for example, women‘s policy units; Women‘s Studies programs; Ministries for Women‘s Affairs).
Category 3. Legal reform: introducing new legislation or revising existing legislation to benefit women (for example, anti-discrimination laws; changes to the law governing rape).
Category 4. Political participation in a leadership role: running for some form of political office (broadly defined) as a self-proclaimed feminist (for example, the Ferraro vice-presidential candidacy; seeking to become a mayor or member of a legislature; seeking to run for office in a labor union).
Category 5. Alternative structures: creating a feminist organization outside of the mainstream of existing political and administrative structures (for example, women‘s refuges or rape crisis centers).[24]
-
Prä-revolutionärer Staatsfeminismus in Tunesien
Tunesien wurde seit längerem als eines der entwickeltesten Länder im arabischen Raum betrachtet. Besonders im Hinblick auf Frauenrechte gab es einige Entwicklungen in Richtung Gleichheit der Geschlechter.[25] Zeiten, in denen eine klare Trennung zwischen den Geschlechtern vorherrschte,[26] schienen vorüber zu sein – gemessen an Reformen wie der Parität, die 2011 eingeführt wurde.[27] Doch rechtliche Reformen gehen nicht immer mit sich verändernden Werten in der Gesellschaft einher. Deshalb werde ich zunächst eine historische Perspektive auf Frauenrechte in Tunesien einnehmen, um Entwicklungen nicht nur aus einer rechtlichen, sondern auch aus einer kulturellen Perspektive zu verstehen. Ich werde dabei in dieser Arbeit die Regime von Bourguiba und Ben Ali betrachten. Beide führten eine Reihe rechtlicher Reformen durch, welche als modern und auf die Bestätigung und Einhaltung westlicher Werte abzielend eingestuft wurden. Frauenrechte nahmen oft eine zentrale Rolle ein.[28] Zunächst sollen die beiden Regime dargestellt werden, um dann im Hinblick auf die Entwicklung der Frauenrechte die Definition von Mazur und McBride sowie Eisensteins Konzept der „feminist interventions“ anzuwenden.
5.1 Frauenrechte unter Bourguiba
Frauenrechte begannen schon vor der tunesischen Unabhängigkeit in den tunesischen Diskurs einzufließen. In den 1930ern waren Frauenrechte in aller Munde, als Tahar Haddad seine Arbeiten über den Status der Frauen* in der tunesischen Gesellschaft veröffentlichte.[29] Er brachte nicht nur zentrale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern auf den Punkt, sondern machte auch aus einer anderen Perspektive auf deren Gründe aufmerksam. Anstatt die damaligen traditionellen islamischen Werte anzuprangern, deutete er den theoretischen Hintergrund dieser um und erläuterte, warum die Grundzüge des Islams nicht die weibliche Natur als solche kritisierten.[30] Seine Arbeiten stießen einen öffentlichen Diskurs an und führten zu der Gründung mehrerer Frauen*bewegungen. Dazu zählten unter anderem die Union Musulmane des Femmes de Tunisie[31] oder die Union des Femmes de Tunisie[32], die mit der kommunistischen Partei Tunesiens in Verbindung gebracht wurde.[33] Als 1956 dann die Unabhängigkeit erreicht war, wollte Tunesiens erster Präsident Habib Bourguiba nach dem Vorbild der Reformen von Kemal Atatürk den Staat so schnell wie möglich „modernisieren“.[34] Den Kern seiner Geschlechterpolitik bildete das Personenstandsrecht (code statut personnel[35]), welches mehrere rechtliche Änderungen mit sich brachte, die Schritte in Richtung Gleichberechtigung darstellten.
Das Personenstandsrecht nahm einige Gebiete in Angriff, in welchen Ungleichheit vorherrschte, wie etwa die damaligen Familienstrukturen. Polygamie wurde verboten und mit harten Sanktionen bestraft und Vätern war es – zumindest rechtlich – nicht mehr erlaubt, ihre Töchter ohne deren Einverständnis zu verheiraten. Die Einführung des Personenstandsrechts ermöglichte es außerdem, dass Frauen* ohne weiteres Einverständnis unter dem „angemessenen Alter“ heiraten konnten, d.h. ab dem 17. Lebensjahr. Zudem gab es Änderungen des Vertragsrechts und des Adoptionsrechts für tunesische Frauen*. All diese Veränderungen hatten über die vergangenen Jahre hinweg einen signifikanten Einfluss auf Familienstrukturen in Tunesien.[36]
Die Abhängigkeit der Frauen* von Männern* wurden in einem gewissen Maße reduziert. Frauen* hatten nun das Recht, ohne Einverständnis des Ehemannes zu reisen und ihr eigenes Bankkonto zu eröffnen[37], was in größerer sozialer Mobilität resultieren sollte. Diese und andere Änderungen des Personenstandsrecht sollten Bourguibas Politik der „Modernisierung“ betonen, da sie mit den Werten vieler Muslime und Muslima zu dieser Zeit nicht übereinstimmten.[38] Das Personenstandsrecht stellte sich als ein top-down Ansatz heraus, der von einem Teil der Zivilbevölkerung nicht gut angenommen wurde.[39] Dies könnte einer der Gründe sein, weshalb die praktische Umsetzung des Gesetzes vielerorts scheiterte.[40] Weber argumentiert, dass es nicht zu der Gleichberechtigung der Geschlechter beitrug, sondern eher zum Erhalt eines patriarchalen Systems mit weniger offensiven Ansatz.[41]
Bourguibas Geschlechterpolitik mag zunächst befreiend erscheinen – betrachtet man sie genauer, stellt sie jedoch eher einen taktischen Ansatz dar. Sein Versuch, feministische Forderungen und den Erhalt der Staatsidentität zu vereinen, führte zwar zu einem höheren Anteil an Arbeitnehmerinnen, konservierte jedoch zugleich das konservative Familienmodell.[42]
Staatsfeministische Maßnahmen
Der Staatsfeminismus, den Bourguiba vertrat, zeigte sich vor allem in den rechtlichen Änderungen. Die Einführung des Personenstandsrechts war ein wichtiger Moment in der Entwicklung von Frauenrechten im arabischen Raum und wird immer noch als solcher dargestellt.[43] Trotzdem gibt es wenige Indikatoren für als „bureaucratic-individual“ oder „bureaucratic-structural“ bezeichnete Interventionen, was darauf zurückzuführen ist, dass die Forschung rund um den Staatsfeminismus zu dieser Zeit noch maßgeblich auf der Arbeit von Helga Hernes[44] beruhte und die Beobachtung von „femocrats“ noch einen eher neuen Ansatz darstellte. Deshalb ist die Literatur, die andere feministische Interventionen nach Eisenstein zu dieser Zeit beschreiben könnte, und so ein genaueres Bild vom Staatsfeminismus unter Bourguiba zeichnen würde, nicht besonders umfangreich.Weitere Forschung im nicht-deutschen Raum wäre hier interessant.
5.2 Staatsfeminismus unter Ben Ali
Ces réformes visent à liberer la femme et à l‘émanciper, conformément à une aspiration fort ancienne dans notre pays se fondant sur une règle solide de l’„Ijtihad“ et sur les objectifs de la „Chariaâ“ et constituent une prevue de la vitalité de l’Islam et de son ouverture aux exigencies de l’époque et de l’évolution.[45]
Diese Reformen haben das Ziel, die Frau zu befreien und zu emanzipieren, wie es einer starken, alten Anstrengung in unserem Land entspricht, sich stützend auf die Regeln des „Idschtihād“ und die Ziele der „Scharia“. Sie stellen einen Beweis für die Lebendigkeit des Islams und seiner Öffnung gegenüber den Forderungen der Zeit und der Evolution dar.
Dieses Zitat aus einem 1988 geschlossenen Nationalpakt zwischen der Regierung Ben Alis sowie feministischer und islamistischer Organisationen verdeutlicht Ben Alis frühen Versuch, traditionell-muslimische und feministische Politik zu vereinen. Um beide Interessengruppen zufriedenzustellen, begann er bald nach seiner Machtergreifung im Jahr 1987 enge Bindungen zu Anhänger*innen des politischen Islams aufzubauen.[46] Er versuchte, die nationale Identität mit den muslimischen Werten der Gesellschaft zu verbinden, was sich vor allem im Nationalvertrag von November 1988 manifestierte.[47] Um diesen Vertrag zu ermöglichen und die Anhänger*innen des politischen Islam positiv zu stimmen, ließ er die konfligierenden Interessen der tunesischen Frauen* unkommentiert. Die aktiven Frauen*bewegungen fürchteten deswegen eine Revision des gerade erst errungenen CSP.[48] Ben Ali machte deshalb im März 1988 deutlich, dass die Errungenschaften der Frauenrechte, besonders der CSP, zwar nicht unangetastet bleiben, aber auch keiner größeren Reform unterzogen werden würden.[49] Dies ermöglichte erst den Nationalvertrag, dem Frauen*organisationen wie die Union Nationale des Femmes de Tunisie[50] zustimmten, die aus UFMT und UFT entstanden war und nunmehr die größte WMA Tunesiens darstellte.[51] Während Ben Ali die konfligierenden Interessengruppen zu Beginn nah an sich gebunden hatte, kam es im Wahljahr 1989 zu einer Verschiebung der Gleichgewichte, als die Ennahda Frauenpolitik als eigenes Wahlkampffeld entdeckte.[52] Ben Ali war deswegen faktisch gezwungen, den emanzipatorischen Fortschritt vor den reaktionären Forderungen muslimisch-politischer Gruppen in Schutz zu nehmen. Dies endete in einer Erklärung, die vorsah, dass muslimisch-politische Organisationen nur gegründet werden durften, wenn sie die Gleichheit von Mann und Frau vorsahen.[53] Als sich seine Machtpolitik als Fehlkalkulation erwies und sich der Erfolg der traditionell-muslimischen Ennahda in Wählerstimmen auszudrücken begann, zeigte Ben Ali gegenüber den Anhänger*innen des politischen Islam harte autoritäre Hand, indem er die Partei verbot, ihre Mitglieder verfolgen ließ und anderen Repressionen aussetzte.[54]
Ab dem Jahr 1993 lancierte Ben Ali diverse Teilreformierungen des CSP, um sich die Sympathie der Frauen*bewegung zu erhalten.[55] Darunter fielen härtere Maßnahmen gegen häusliche Gewalt, gegen Diskriminierung und gegen sexuellen Missbrauch am Arbeitsplatz. Frauen* erhielten außerdem das Recht, ihrem Ehemann nicht gehorchen zu müssen.[56] Da dies bereits traditionellen muslimischen Wertvorstellungen diametral entgegenlief, wuchs der Zorn, als der Hijab, der Schleier, im öffentlichen Dienst verboten wurde.[57] Einige Wissenschaftler_innen betrachten dies sogar als eine der Hauptursachen für die nachfolgenden revolutionären Bewegungen, da sich muslimische Frauen* durch diese Gesetzgebung stark diskriminiert fühlten.[58] Die öffentlichen Stimmen gegen Ben Ali wurden in den kommenden Monaten immer lauter, was schließlich im Jahr 2010 zu einer hauptsächlich durch die Anhänger*innen des politischen Islam getragenen Revolution wurde.[59] Ben Alis Regierung endete, als er nach Protesten von gigantischem Ausmaße gegen sein korruptes Regime im Jahr 2011 nach Saudi-Arabien flüchtete.[60]
Staatsfeministische Maßnahmen
Will man den tunesischen Staatsfeminismus untersuchen, so müssen zunächst die Women’s Policy Agencies[61], die Ben Ali einführte, betrachtet werden. Schon 1991 wurde in Vorbereitung auf die Weltfrauenkonferenz im Jahr 1995 das Center for Research Studies, Documentation and Information on Women[62] gegründet. Daneben entstand 1992 das Staatssekretariat für Frauen und Familie, das 1993 zum Ministerium für Frauen, Familie, Kinder und ältere Menschen wurde.[63] Die Bildung von WPAs kann als erster Schritt in Richtung eines Staatsfeminismus‘ gewertet werden, da es für die Staatsorganisation die erste Möglichkeit ist, auf die Forderungen von Frauen*bewegungen zu reagieren oder feministische Akteur_innen in das politische Geschäft zu integrieren. Beides gilt nach Eisensteins Konzept als „feminist intervention“.[64] Nach der Definition von Mazur und McBride handelt es sich dabei um vorbereitende Maßnahmen zur Etablierung von Staatsfeminismus.
Dennoch sollte das Augenmerk auch auf die Behandlung des UNFT durch Ben Ali gerichtet werden, da es sich dabei um eine selbsterklärte feministische Organisation handelte.[65] Ben Ali sorgte dafür, dass der Staat Einfluss auf die UNFT hatte, indem er Postionen innerhalb der neuen staatlichen Institutionen an zentrale Akteure der UNFT vergab.[66] Ein anderer Beweis für seine Einflussnahme ist die finanzielle Unterstützung, die die UNFT vom Premierminister sowie von den Ministerien für Gesundheit und Soziales erhielt.[67]
Die legislativen Bemühungen unter dem Regime von Ben Ali können ebenfalls als Teil des tunesischen Staatsfeminismus‘ betrachtet werden, wenn man Eisensteins „feminist interventions“ im „offiziellen Feminismus“ zugrundelegt.[68] Jedoch können alle als ‚feministisch‘ deklarierte Maßnahmen eines Regimes und auch diejenigen Maßnahmen, die zumindest als ‚fortschrittlich‘ bezüglich der Frauenrechte bezeichnet werden, nur Gewicht erhalten, wenn sich auch in der Mentalität der Bevölkerung etwas ändert. Deswegen werde ich im Folgenden die empirisch messbaren Folgen der Gesetze auswerten, um bewerten zu können, ob und wie die Gesetzesreformen von Bourguiba und Ben Ali in der Praxis umgesetzt wurden.
5.3 Auswirkungen der Staatsfeminismen auf die Gesellschaft
Zur Bewertung der feministischen Auswirkungen des Staatsfeminismus‘ werde ich zunächst Statistiken nutzen, die die Forderungen der Frauen*bewegung zum damaligen Zeitpunkt reflektieren. Die hier verwendeten Statistiken sind von 2001 und deshalb nur als erster Versuch zu verstehen, die Auswirkungen zu skizzieren. Als Erstes will ich die Rechte der Arbeitnehmerinnen betrachten, sowie die Rolle von Frauen* in Familie und Bildung, die zentraler Bestandteil der Forderungen der größten Frauen*bewegung UNFT zu jener Zeit waren.[69] Während der Regime Bourguibas und Ben Alis waren nur 23 % der Frauen* im „arbeitsfähigen“ Alter beschäftigt, während die Beschäftigungsrate der Männer* sich auf 74 % belief. Diese Diskrepanz betraf jedoch nicht nur die Quantität, sondern auch die Qualität, die durch die Arbeitsrechtsreformen und das Personenstandsrecht angeglichen werden sollte. Die meisten Frauen* arbeiteten in der Textil- und Kleidungsindustrie oder gingen anderer Niedriglohnarbeit nach.[70] In der Politik hatten Frauen* kaum Exekutivposten inne und es waren große Differenzen in Quantität und Qualität der administrativen Posten zu verzeichnen, die von Frauen* besetzt waren.[71] Zwar bekamen Frauen* also durchaus Zugang zur staatlichen Entscheidungsfindung, zum Beispiel durch die Bildung staatlicher Agenturen für Frauen* (WPAs). Jedoch hatten sie nur selten die Möglichkeit echte Entscheidungen zu treffen, weshalb Weber annimmt, die „feministischen“ Posten seien nur geschaffen worden, um die Frauen*bewegungen zu beschwichtigen.[72]
Die „Feminist_innen“ im Staatsapparat bzw. die neue „feministische Infrastruktur“ des Staates half außerdem nicht dabei, tief wurzelnde Themen wie häusliche Gewalt und sexuellen Missbrauch anzugehen. Diese Themen waren weiterhin Tabu.[73] Bezüglich der Rolle der Frau in der Familie zeigt eine Studie, dass nur 38 % der Frauen* ihre Ehemänner* selbst ausgesucht hatten, während es auf Männer*seite 60 % waren, die ihre Ehefrau selbst ausgesucht hatten, bei 600 befragten Personen.[74] Außerdem glaubten immer noch 47 % der tunesischen Männer*, der Platz der Frau sei eher im Haushalt als in der Politik.[75] Der Bildungssektor war der einzige Sektor, auf dem Gleichheit zwischen den Geschlechtern herrschte, wofür die Studierendenzahlen Anhaltspunkte geben.[76] Wie schon beim Familienbild gibt es jedoch auch im Bildungssektor Indikatoren, die zeigen, dass die Einstellung von Männern* gegenüber Frauen* noch keine größere Transformation während der Regime von Bourguiba und Ben Ali durchgemacht hatte. Selbst vor Gericht, wo eigentlich eine gesetzliche Grundlage für die Gleichheit der Geschlechter bestand, herrschte in der Praxis weiter Ungleichheit. In Scheidungsfällen entschieden die Gerichte selten zum Vorteil der Frau.[77]
Die Auswertung der Daten ergibt demnach Folgendes: Der Staatsfemnismus von Bourguiba und Ben Ali führte zu einer Gesetzgebung zum Vorteil der Frauen*. Dies ist jedoch nicht mit einer Änderung der gesellschaftlichen Mentalität oder der direkten Umsetzung der Gesetze gleichzusetzen. Mazur und McBride zeigen auf, dass Forschungen ergeben haben, dass Staatsfeminismus in autoritären Regimen nur solange positive Resultate für Frauen* produziert, wie die autoritären Regime an der Macht sind.[78]
Deswegen muss in einem nächsten Schritt evaluiert werden, inwiefern die Errungenschaften im post-revolutionären Tunesien fortbestehen und wie sie reformiert wurden oder werden könnten. Außerdem muss hinterfragt werden, ob und inwiefern die neue Verfassung dem Staat Maßnahmen gestattet, die als Indikatoren für Staatsfeminismus gelten können, um sodann eine Aussage über die Entwicklung des Staatsfeminismus‘ und sein Verhältnis zum realen Empowerment von Frauen* in Tunesien treffen zu können.
-
Stand der Frauen* in Tunesien während des arabischen Frühlings und danach
Um Aussagen darüber treffen zu können, ob ein Staatsfeminismus, wie er im prä-revolutionären Tunesien existierte, noch einmal auftreten kann, werde ich auf neuere historische Entwicklungen in Tunesien schauen. Da es nicht viele Entwicklungen gibt, die mithilfe von Eisensteins Konzept beschrieben werden können, werde ich zunächst eine kurze Einführung in die Ereignisse in Tunesien während des arabischen Frühlings geben und die neue Verfassung betrachten. Daraufhin will ich versuchen zu erklären, was diese Gegebenheiten für tunesische Frauen* und ihren Stand in der tunesischen Gesellschaft bedeuten können. Danach will ich die Funde analysieren und sie in Beziehung zu den Staatsfeminismen unter Ben Ali und Bourguiba setzen, um Voraussagen darüber treffen zu können, ob sich Grundzüge dieses Staatsfeminismus‘ im post-revolutionären Tunesien wiederholen könnten.
6.1 Die Revolution und die neue Verfassung
Es wird oft argumentiert, dass Frauen* eine entscheidende Rolle im arabischen Frühling gespielt haben.[79] Trotzdem erfuhren Frauen* viele verschiedene Formen an patriarchaler Repression während und nach der Revolution. In der Anfangsphase gab es viele Fälle von sexuellen Übergriffen, die strukturell verankert waren, z.B. von Polizeikräften.[80] Als Ben Ali die Flucht antrat und der Polizeistaat an Organisation verlor, konnten sich Anhänger_innen des politischen Islam sich schlussendlich aus ihrer Unterdrückung befreien und setzten von da an den Akzent in der Revolution. Dies führte unter anderem dazu, dass tunesische Frauen* aus Entscheidungsprozessen ausgeschlossen wurden, zumal es für Frauen* zunehmend gefährlicher wurde, ihre Stimme zu erheben, da sie mit Reaktionen wie sexueller Übergriffigkeit oder physischen Attacken von islamistisch-salafistischen Gruppen rechnen mussten.[81] Feminist_innen des RCD oder der UNFT wurden für ihre Zusammenarbeit mit dem korrupten Regime Ben Alis kritisiert; viele der Mitglieder mussten fliehen.[82] Die Ennahda gewann durch das liberalere Staatssystem immer weiter an Macht, was Bürger_innen wieder erlaubte, beispielsweise der Ennahda öffentlich den Rücken zu stärken.[83]
Damals versprach der ehemalige Vorsitzende der Ennahda, Rachid al-Ghannouchi, dass es keine Rückschritte im Hinblick auf die Rechte der tunesischen Frauen* geben sollte.[84] Viele Frauen* fürchteten trotzdem die Annullierung der erkämpften Rechte durch traditionell-muslimische Parteien.[85] Besonders groß war die Angst vor einem Verlust des Personenstandsrechts, jedoch betonte die Ennahda gleich zu Beginn, dass das Personenstandsrecht auf der Sharia beruhen würde und deshalb beibehalten werden würde.[86]
Dann im Mai 2011, kurz bevor die konstituierende Nationalversammlung (National Constituent Assembly[87]) sich für die Erarbeitung einer neuen Verfassung gründete, folgte ein weiterer Schritt für die tunesischen Frauenrechte. Das neue Paritätsgesetz sollte dafür sorgen, dass Parteien nur Wahllisten mit genau so vielen männlichen wie weiblichen Kandidat_innen einreichen durften. Diese Listen sollten im Reißverschlussverfahren erstellt werden.[88] Das Gesetz wurde von der Ennahda sofort angenommen, da sie die einzige Partei waren, die keine Probleme haben würde, diese Vorgaben zu erfüllen.[89] Viele der kleineren Parteien hatten jedoch nicht genug Kandidat_innen, um die 50%-Regelung erfüllen zu können.[90] Die NCA bestand schlussendlich nur zu 24% aus Frauen*, wobei ein Großteil dieser von der Ennahda stammte.[91]
Die Folgen dessen wurde sichtbar, als Artikel 28 des ersten Entwurfs der neuen Verfassung geleakt wurde. Dieser besagte, dass „die Rollen, die Männer* und Frauen* in der Familie einnehmen, sich komplementieren sollen“[92], was eine Welle an Kontroversen und Protesten in der Zivilbevölkerung Tunesiens auslöste.[93] Sadiki argumentiert, dass komplementäre Rollen in vielfacher Form interpretiert werden können, aber mit Hinblick auf die oftmals konservativ-religiöse nationale Ausrichtung von Tunesier_innen könnte diese Formulierung ein Problem für einen emanzipativen Progress des Standes der tunesischen Frau werden. Deshalb kamen sehr schnell viele kritische Stimmen auf.[94] Die Zivilbevölkerung setzte alles daran, den Artikel zu bekämpfen[95]; er wurde schlussendlich zurückgezogen und überarbeitet für neue Entwürfe.[96]
6.2 Die neue Verfassung
Nach einigen weiteren Entwürfen wurde die neue Verfassung im Januar 2014 in ihrer endgültigen Form beschlossen und trat im Februar 2014 in Kraft.[97] Sie wird als ein Produkt vieler Kompromisse zwischen traditionell-muslimischen und liberalen oder linken Parteien gesehen. Dies spiegelt sich auch im Bezug auf Frauenrechte wieder. Ostry bemerkt, dass die Gleichheit vor dem Gesetz in Artikel 20 und die Tatsache, dass nach Artikel 45 der Staat Errungenschaften der Frauen*bewegung garantieren muss, einen positiven Einfluss auf Diskussionen rund um das Erbrecht haben könnten. Dieses wurde in der Vergangenheit schon vielfach diskutiert und war in vorherigen Entwürfen meist unvorteilhaft für tunesische Frauen* ausgelegt worden.[98] Auf der anderen Seite gibt es Artikel 7, welcher die Familie als den Kern der Gesellschaft definiert oder Artikel 21, welcher den Schutz und die Heiligkeit des Lebens betont. Beide Artikel weisen Tendenzen auf, in reaktionärer Weise ausgelegt zu werden, zum Beispiel mit Hinblick auf auf ein mögliches Verbot von Abtreibungen.[99] Die Verfassung weist noch andere Artikel auf, die Frauenrechte in intersektionalen Zusammenhängen betreffen könnte, doch die genannten sind, im Kontext der Geschichte der tunesischen Frauenrechte betrachtet, die wichtigsten.
6.3 Der Stand der Frau im derzeitigen Tunesien
Obwohl Tunesien in Hinsicht auf Frauenrechte oft als Vorbild gesehen wird,[100],erfahren tunesische Frauen* noch alltäglich Diskriminierung.[101] Chambers argumentiert, dass soziale Normen in der tunesischen Gesellschaft noch weitestgehend konservativer Natur sind. Der Mann* wird immer noch als das Oberhaupt der Familie begriffen, während Frauen* aussagten, sich von vielen Teilen der Gesellschaft unterdrückt und nicht respektiert zu fühlen. Frauen* werden in der Öffentlichkeit auch stärker das Ziel von Übergriffen als vor der Revolution[102] und fühlen sich nicht sicher, alleine nachts auf die Straße zu gehen.[103] In der Politik lassen sich Frauen* oftmals noch in niedrigen Positionen in vielen Parteien vorfinden und wenn Frauen* in höheren Gremien präsent sind, so wie der NCA, dann oftmals aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit und weniger aufgrund ihrer Berufserfahrung.[104] Der Einfluss der Zivilgesellschaft scheint limitiert, viele der WMAs sind heute eher unbekannt. Und sogar vor dem Gesetz gibt es einige Ungereimtheiten, z.B. mit Blick auf die Wiederverheiratung. Trotz Artikel 20, bedeutet diese für Frauen* den Verlust des Sorgerechts für ihr Kind.[105]
Marks weist auf eine Reihe von institutionellen Problemen hin, welche zu diesen Ungleichheiten führen. Zum Beispiel ist Tunesiens Rechtssystem immer noch maßgeblich von der Exekutive beeinflusst, was eine neutrale Rechtsprechung verhindert. Das ist ein Phänomen, das aus den Zeiten Ben Alis übernommen wurde.[106] Problematisch ist außerdem die Regulierung der Exekutivkräfte, vor allem der inneren Sicherheit, welche immer noch nicht innerhalb eines gesetzlichen Rahmens handeln. Dies führt zu willkürlichen Handlungen der staatlichen Exekutive, oftmals zu Ungunsten der tunesischen Frauen*.[107]
Marks kritisiert außerdem die Organisation der Frauenrechtsbewegung. Die Polarisierung der Werte innerhalb der feministisch-aktivistischen Szene, motiviert durch Konflikte zwischen traditionell-muslimischen und links-liberalen Aktivist_innen, verhindere die Formation von größeren zivilgesellschaftlichen Kräften. Diese Kräfte können jedoch, wie die Proteste rund um Artikel 28 zeigten, ein wichtiges Medium für das Empowerment der tunesischen Frauen* sein.[108]
-
Neuer Staatsfeminismus – gleiches Muster?
Da Staatsfeminismus nicht von vornherein als anti-progressiv bewertet werden kann, stellen transnationale, transkulturelle oder historische Analysen wichtige Methoden dar, um reaktionäre oder progressive Muster in Staatsfeminismen zu bestimmen. Unter den autoritären Regimen von Ben Ali und Bourguiba gab es in Tunesien eine Reihe von Veränderungen, die Progress für den Stand der Frau in der tunesischen Gesellschaft und der Autonomie der tunesischen Frau bedeuteten. Diese Errungenschaften schienen bedroht, als traditionelle Wertvorstellungen während der Revolution einen Aufschwung erlebten. 2015 hat die Partei Nidaa Tounes, beschrieben als „self-styled, secular, modernist party“[109], die meisten Sitze im Parlament erhalten, und die Repression, die tunesische Frauen* mit dem Aufstieg Ennahdas fürchteten, scheinen erstmalig ein Ende zu haben.
Tunesien wurde allerdings schon einmal von „modernists“ regiert, welche einen Staatsfeminismus mit sich brachten, der nicht nur instabile Ergebnisse produzierte, sondern außerdem autonome Frauen*bewegungen zu Fall brachte. Heute gibt es in Tunesien viele neue Frauenrechtsbewegungen, die sich nach der Revolution gegründet haben.[110] Aber wie schon angedeutet, sind diese oft stark polarisiert[111] und streben keine gemeinsamen Kämpfe für Gleichheit und gegen soziale Probleme an.[112] Es ist zu früh, um die Frage zu beantworten, ob dies einen signifikanten Effekt auf den Einfluss autonomer Frauen*rechtsbewegungen auf die Zivilgesellschaft hat. Aber ein Staatsfeminismus, welcher die Stimmen der neuen Frauen*rechtsbewegungen unterdrücken möchte, wie er in den früheren Regimen existierte, könnte einen empowernden Progress für tunesische Frauen* verhindern. Deshalb ist es wichtig, im Blick zu behalten, wie sich ein Staatsfeminismus in Zukunft entwickeln könnte.
Features of regime feminism that long characterized the state’s approach to women’s rights – including political opportunism, stereotyped renderings of an over-simplified ‚Islamists vs. women’s rights‘ conflict, and tensions between paternalistic leadership and the critical forces of civil society, may resurface in the future.[113]
Die neue Verfassung bietet umfassende Möglichkeiten für den Staat, autonome Frauenrechtsgruppen zu kontrollieren. Dies wird besonders deutlich, wenn man einen Blick auf Artikel 46 wirft, welcher weiter unten zu finden ist. Der Artikel besagt, dass der Staat die Verantwortung hat, Fortschritt für Frauenrechte und den Stand der Frau in der tunesischen Gesellschaft zu garantieren. Wenn man jedoch die Definition von Women Empowerment betrachtet, bemerkt man, dass Artikel 46 dieses nicht wirklich fördert. Richtig ausgelegt, kann der Artikel ermöglichen, dass der Staat und somit auch Männer* entscheiden können, welcher Fortschritt für Frauen* notwendig ist und nicht die Frauen selber. Dies raubt den tunesischen Frauen so gut wie jegliche Autonomie im Bezug auf einen eigenen politischen Werdegang. Es wird sich zeigen, ob die tunesische Judikative in alte Verhaltensweisen zurückfällt.
Wie weiter oben bereits erwähnt sieht Marks dies als eines der entscheidenden institutionellen Probleme für den Fortschritt von Frauenrechten in Tunesien.[114] Die tunesische Judikative ist hochgradig korrupt und es mangelt ihr an Unabhängigkeit. Dies könnte für einen Staatsfeminismus wieder Anti-Progressivität bedeuten, bedarf allerdings weiterführender Forschung, zum Beispiel im Bereich der tunesischen Medien- und Kulturlandschaft, um Stereotype über Frauen* in der tunesischen Kultur aufzuzeigen. Dasselbe Problem findet sich in der Kontrolle der Exekutive.[115] Wenn für diese kein regulativer Rahmen gefunden wird, könnte diese wieder willkürlich handeln können, vor allem, wenn die Forderungen von Frauen*rechtsgruppen problematisch für die regierenden Parteien werden. Viele der Probleme von tunesischen Frauen* gehen außerdem mit ökonomischen und sozialen Problem einher.[116] Schäfer ist der Ansicht, dass Ennahda diese Probleme nicht lösen konnte.[117] Nun wird sich zeigen, ob Nidaa Tounes diese bewältigen kann.
Article 46
Women’s rights
The state commits to protect women’s accrued rights and work to strengthen and develop those rights.
The state guarantees the equality of opportunities between women and men to have access to all levels of responsibility in all domains.
The state works to attain parity between women and men in elected Assemblies.
The state shall take all necessary measures in order to eradicate violence against women.[118]
-
Fazit
Alle Anzeichen deuten auf eine Verwirklichung von Marks Vorhersage. Ein reaktionärer Staatsfeminismus kann im Tunesien der nächsten Jahre erneut Realität werden. Es sollte besonders auf die Entwicklung der Legislationen und die Regulierung von staatlichen Institutionen geachtet werden, besonders mit Hinblick auf deren Fähigkeit, den Einfluss zivilgesellschaftlicher Kräfte einzuschränken. Man kann jedoch schon jetzt feststellen, dass ein Fundament für wiederkehrende reaktionäre Elemente alter Staatsfeminismen schon vorhanden ist. Die tunesische Frauenrechtsbewegung kann immer noch einen großen Rückschlag erfahren, wie den, den sie in der Revolution vermeiden konnten.
Um die Tendenzen für einen solchen Staatsfeminismus weiter analysieren zu können, sollten weiterhin Anzeichen für „feminist interventions“ in Tunesien gesucht werden. Zudem ist es wichtig zu betonen, dass statistische Veränderungen wie die in 5.3 nicht das Resultat von Staatsfeminismen allein sind. Deshalb ist es wichtig, andere Kausalitäten für die Werte in Betracht zu ziehen. Interessant wären ebenfalls die Betrachtung kultureller und medialer Indikatoren in Form von Medienanalysen. Es ist außerdem wichtig, nicht nur religiöse und wertgebundene Kausalitäten für Women Empowerment in Tunesien zu verfolgen, sondern auch institutionelle. Interessant wäre außerdem, über das Konstrukt ‚Staat‘ als Limitierung für Women Empowerment nachzudenken, wie es in Anarcha-feministischen Theorien teils getan wird.
Außerdem wäre eine komparative quantitative Analyse mit der Methode des RNGS interessant. Ein besseres Verständnis würde außerdem eine biografische Arbeit mit tunesischen Frauen* oder Wissenschaftlerinnen, die in Tunesien gearbeitet haben bieten, da diese Arbeit weitestgehend auf weißen, westlichen Wissenschaftler_innen basiert und so eine weiße, westliche Perspektive widerspiegeln kann.
Universität Münster, Wintersemester 2014/2015
[1] Das Trunkierungszeichen (*) wird hinter bestimmten Begriffen verwendet, um auf mehrere Identitäten hinzuweisen, die mit diesem Begriff identifiziert werden können.
[2] Vgl. Ursula Degener und Beate Rosenzweig: „Einleitung: Die Neuverhandlung sozialer Gerechtigkeit – eine kritische Bestandsaufnahme aus feministischer Perspektive.“ In: Die Neuverhandlung sozialer Gerechtigkeit. Feministische Analysen und Perspektiven. Hrsg. von Ursula Degener/ Beate Rosenzweig. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006. S. 11-34. Hier S. 10.
[3] Victoria Chambers/ Clare Cummings: Building Momentum. Women’s Empowerment in Tunisia. London: Overseas Development Institute 2014. http://www.developmentprogress.org http://www.developmentprogress.org/publication/building-momentum-women%E2%80%99s-empowerment-tunisia (besucht am 12.08.2015). S. 10.
[4] Vgl. Rosaling Eyben: Supporting Pathways of Women’s Empowerment. Brighton: Pathways of Women’s Empowerment RPC 2011. citeseerx.ist.psu.edu http://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.371.9554&rep=rep1&type=pdf (besucht am 12.08.2015). S. 2.
[5] Vgl. Helga Hernes: Welfare State and Women Power. Oslo: Universitetsforlaget 1987. S. 153.
[6] Vgl. Anne François Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegungen in Tunesien. Hamburg: Dt. Orient-Insitut 2001. S. 17.
[7] Vgl. Monica Marks: „Women’s rights before and after the Revolution.“ In: The Making of the Tunisian Revolution. Contexts, Architects, Prospects. Hrsg. von Nouri Gana. Edinburgh: Edinburgh University Press 2013. S. 224-252. Hier S. 231ff.
[8] In dieser Arbeit reflektiert werden die Ansätze von Helga Hernes: Welfare State and Women Power. sowie Amy G. Mazur und Dorothy E. McBride: „State Feminism since the 1980s: From Loose Notion to Operationalized Concept.“ In: Politics & Gender. Nr. 3 Jg. 3 S. 501–513. ; Hester Eistenstein: „Femocrats, Official Feminism and the Uses of Power. A Case Study of EEO Implementation in New South Wales, Australia.“ In: Yale Journal of Law and Feminism. Nr. 2. Jg. 51. S. 51-73. und Anne Francois Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegungen in Tunesien. S. 21.
[9] Vgl. Amy G. Mazur/ Dorothy E. McBride: „State Feminism since the 1980s“ S. 3.
[10] Vgl. Dorothy M. Stetson und Amy G. Mazur: „Comparative State Feminism“. Verlagsort: Sage 1995. S. 10.
[11] Im Folgenden mit WMA abgekürzt.
[12] Vgl. Amy G. Mazur/ Dorothy E. McBride: „State Feminism since the 1980s.“ S. 3.
[13] Vgl. ebd. S. 5.
[14] Ebd. S. 6.
[15] Ebd.
[16] Ebd.
[17] Im Folgenden mit RNGS abgekürzt.
[18] Ebd. S. 7.
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Vgl. Dorothy M. Stetson/Amy G. Mazur: „Comparative State Feminism“. S. 6.
[22] Vgl. Amy G. Mazur/ Dorothy E. McBride: „State Feminism since the 1980s.“ S. 4.
[23] Ebd. S. 8.
[24] Hester Eistenstein: „Femocrats, Official Feminism and the Uses of Power.“ S. 52.
[25] Susanne Schröter/ Sonia Zayed: „Vom Staatsfeminismus zum revolutionären Islamismus.“ In: Geschlechtergerechtigkeit durch Demokratisierung? Transformationen und Restaurationen von Geschlechterverhältnissen in der islamischen Welt. Hrsg. von Susanne Schröter. Bielefeld: Transcript 2013. S. 17-44. Hier S. 17.
[26] Ebd. S. 19.
[27] Ebd. S. 30.
[28] Ebd. S. 21-22 sowie S. 24.
[29] Anne Francois Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegungen in Tunesien. S.21.
[30] Ebd.
[31] Im Folgenden mit UMFT abgekürzt.
[32] Im Folgenden mit UFT abgekürzt.
[33] Ebd. S. 22.
[34] Ebd. S. 23.
[35] Im Folgenden mit CSP abgekürzt.
[36] Ebd. S. 24.
[37] Vgl .Amy G. Mazur/ Dorothy E. McBride: „State Feminism since the 1980s.“ S. 5.
[38] Anne François Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegungen in Tunesien. S. 24.
[39] Vgl. Susanne Schröter/ Sonia Zayed: „Vom Staatsfeminismus zum revolutionären Islamismus.“ S. 23.
[40] Anne François Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegungen in Tunesien. S. 25.
[41] Ebd. S. 26.
[42] Ebd. S. 29.
[43] Vgl. Hardy Ostry: Neue Verfassung für Tunesien tritt in Kraft. Unikat und Kompromiss zugleich. Tunesien: Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V 2014. S. 3.
[44] Vgl. Amy G. Mazur/ Dorothy E. McBride: „State Feminism since the 1980s:“ S. 5.
[45] 1988 geschlossener Nationalpakt zwischen der Regierung Ben Alis sowie feministischen und islamistischen Organisationen, zitiert nach Anne François Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegungen in Tunesien. S. 33.
[46] Vgl. Susanne Schröter/ Sonia Zayed: „Vom Staatsfeminismus zum revolutionären Islamismus.“ S. 23.
[47] Vgl. Anne François Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegungen in Tunesien. S. 33.
[48] Ebd. S. 32.
[49] Ebd. S. 33.
[50] Im Folgenden mit UNFT abgekürzt.
[51] Ebd.
[52] Ebd. S. 34
[53] Vgl. Susanne Schröter/ Sonia Zayed: „Vom Staatsfeminismus zum revolutionären Islamismus.“ S. 23.
[54] Vgl. Anne François Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegungen in Tunesien. S. 35.
[55] Ebd. S. 37.
[56] Ebd.
[57] Vgl. Susanne Schröter/ Sonia Zayed: „Vom Staatsfeminismus zum revolutionären Islamismus.“ S. 24.
[58] Ebd. S. 25.
[59] Ebd. S. 26.
[60] Ebd. S. 27.
[61] Im Folgenden mit WPA abgekürzt.
[62] Im Folgenden mit CREDIF abgekürzt.
[63] Vgl. Anne Francois Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegungen in Tunesien. S. 39.
[64] Vgl. Hester Eistenstein: „Femocrats, Official Feminism and the Uses of Power. “ S. 52.
[65] Vgl. Anne Francois Weber: „Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegungen in Tunesien.“ S. 37.
[66] Vgl. Susanne Schröter/ Sonia Zayed: „Vom Staatsfeminismus zum revolutionären Islamismus.“ S. 24.
[67] Vgl. Anne Francois Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegungen in Tunesien. S. 38.
[68] Vgl. Hester Eistenstein: „Femocrats, Official Feminism and the Uses of Power.“ S. 52.
[69] Vgl. Anne Francois Weber: Staatsfeminismus und autonome Frauenbewegungen in Tunesien. S. 38.
[70] Ebd. S. 40.
[71] Ebd. S. 41.
[72] Ebd.
[73] Ebd.
[74] Ebd.
[75] Ebd.
[76] Ebd. S. 40.
[77] Ebd. S. 41.
[78] Vgl. Amy G. Mazur/ Dorothy E. McBride: „State Feminism since the 1980s.“ S. 6.
[79] Vgl. Elham Manea: „The Arab Popular Uprisings from a Gender Perspective.“ In: Zeitschrift für Politik Jg. 11 (2014) Nr. 1 . S. 81-101. Hier S. 82; Isabel Schäfer: Zur Bedeutung der neuen Verfassung Tunesiens für die Rechte der Frau. Gießen: Arbeitsstelle Gender Studies der Justus-Liebing Universität 2014. S. 1.
[80] Elham Manea: „The Arab Popular Uprisings from a Gender Perspective.“ S.83ff.
[81] Ebd. S. 85.
[82] Vgl. Susanne Schröter/ Sonia Zayed: „Vom Staatsfeminismus zum revolutionären Islamismus.“ S. 27.
[83] Ebd. S. 29.
[84] Ebd. S. 28.
[85] Ebd. S. 30.
[86] Vgl. Monica Marks: „Women’s rights before and after the Revolution.“ S. 239.
[87] Im Folgenden mit NCA abgekürzt.
[88] Ebd. S. 235 sowie Susanne Schröter/ Sonia Zayed: „Vom Staatsfeminismus zum revolutionären Islamismus.“ S. 30.
[89] Vgl. Monica Marks: „Women’s rights before and after the Revolution.“ S. 235.
[90] Ebd.
[91] Ebd.
[92] Ebd. S. 236.
[93] Ebd. S. 236ff.
[94] Vgl. Larbi Sadiki: „Tunisia: Women’s rights and the new constitution.“ http://www.aljazeera.com. http://www.aljazeera.com/indepth/opinion/2012/09/2012918102423227362 (besucht am 13.08.2015.)
[95] Vgl. Monica Marks: „Women’s rights before and after the Revolution.“ S. 237.
[96] Ebd.
[97] Hardy Ostry: Neue Verfassung für Tunesien tritt in Kraft. S. 1.
[98] Ebd. S. 3.
[99] Ebd.
[100] Ebd. S. 1.
[101] Victoria Chambers/ Clare Cummings: „Building Momentum.“ S. 40.
[102] Isabel Schäfer: Zur Bedeutung der neuen Verfassung Tunesiens für die Rechte der Frau. S. 2.
[103] Ebd.
[104] Victoria Chambers/ Clare Cummings: „Building Momentum.“ S. 41.
[105] Ebd. S. 40.
[106] Vgl. Monica Marks: „Women’s rights before and after the Revolution.“ S. 236 ff.
[107] Ebd. S. 240 ff.
[108] Ebd. S. 236ff.
[109] Ebd.
[110] Isabel Schäfer: Zur Bedeutung der neuen Verfassung Tunesiens für die Rechte der Frau. S. 3.
[111] Vgl. Monica Marks: „Women’s rights before and after the Revolution.“ S. 240ff.
[112] Isabel Schäfer: Zur Bedeutung der neuen Verfassung Tunesiens für die Rechte der Frau. S. 3.
[113] Monica Marks: „Women’s rights before and after the Revolution.“ S. 244ff.
[114] Ebd. S. 239f.
[115] Ebd. S. 243f.
[116] Isabel Schäfer: Zur Bedeutung der neuen Verfassung Tunesiens für die Rechte der Frau. S. 2.
[117] Ebd. S. 4.
[118] Vgl. Tunisia: „The Constitution of the Tunisian Republic.“ Tunisia 2014. http://www.constitutionnet.org http://www.constitutionnet.org/files/2014.01.26_-_final_constitution_english_idea_final.pdf (besucht am 12.11.2015). S. 15.