State of the Art: Praxistheorien
Die Wissenschaftslandschaften der Geistes- und Sozialwissenschaften sind seit jeher schwer zu kartieren, ohne die zu bestimmenden Felder zu durchkreuzen. Eine der neuesten interdisziplinären Bewegungen stellen Praxistheorien dar, unter deren Einfluss Methoden, Theorien und Fragestellungen nicht nur neue Ausrichtungen erhalten, sondern auch das wissenschaftliche Feld selbst neu vermessen wird.
In dieser Ausgabe haben Hilmar Schäfer und Sabine Kyora die Fragen unseres Redakteurs Matthias Lüthjohann zu Begriff und Auswirkungen der Praxistheorie beantwortet. Die doppelte Perspektive auf die Frage nach der Praxis erlaubt es, auch unter Berücksichtigung des individuellen Forschungsschwerpunktes und der fachlichen Ausrichtung, Schnittmenge sichtbar zu machen, die den State of the Art beschreiben.
Interview mit Hilmar Schäfer
In der letzten Zeit sind einige Einführungen in die Praxistheorien erschienen und Sie selbst geben einen Sammelband heraus, der wichtige deutsche und internationale Vertreter der Praxistheorie beinhaltet. Obwohl es den Begriff der Praxistheorie durchaus schon etwas länger gibt – der vielzitierte Sammelband The Practice Turn in Contemporary Theory erschien 2001 –, scheinen diese Ansätze im Moment besonders intensiv rezipiert zu werden. Wie würden Sie die gegenwärtige Popularität der Praxistheorien in den Geistes- und Sozialwissenschaften erklären?
Zunächst ist es schön, dass dieses große Interesse besteht. Ich würde es darauf zurückführen, dass die Praxistheorie in der Lage ist, Perspektiven zu verbinden, die vorher unvereinbar erschienen: Die Mikro- bzw. Makroperspektive etwa, die eine zentrale Unterscheidung in der Soziologie ist, wird aus praxistheoretischer Perspektive nicht als Gegensatzpaar gelesen. Der Praxisbegriff stellt außerdem, mit Andreas Reckwitz gesprochen, ein ‚dünnes‘ Vokabular bereit, das heißt, einen relativ fundamentalen Begriff, der aber breit anwendbar ist und sich für vielerlei Studien eignet. Deswegen ist er meiner Meinung nach auch in der Lage, viele gegenwärtige Forschungsinteressen, etwa die jüngsten ‚turns‘, zu bündeln: den body turn, den material turn oder, ganz aktuell, Fragen nach der Affektivität und Sinnlichkeit des Sozialen.
Können Sie den Begriff der Praxis kurz skizzieren? Was genau meint die Rede von Praxis oder Praktiken?
Im Unterschied zum Handlungsbegriff, mit dem er zunächst verwechselt werden könnte, wird eine Praxis nicht isoliert betrachtet, also als einzelner intentionaler und begründeter Handlungsakt, sondern steht stets in verschiedenen Relationen zu anderen Praktiken. Das Soziale besteht dieser Perspektive zufolge aus Wiederholungen. Das meint zweierlei: dass Praktiken körperlich aus- und aufgeführt werden und dass sie zirkulieren, dass sie vor uns existieren und den Kontext für unser Handeln bilden. In diesem prozessualen und relationalen Denken ist immer eine Zeitdimension enthalten. Die Praktiken sind der Ort des Sozialen, wo sich sowohl Gesellschaft als auch Individualität konstituieren. Die Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft und die Vorstellung, dass es eine äußere Gesellschaft und die Innerlichkeit des Individuums gibt, werden von der Praxistheorie überwunden. Zentral ist auch die Auffassung, dass es ein alltägliches Verstehen der Handlungen anderer gibt und eine angeeignete Kompetenz in sozialen Situationen klarzukommen, das richtige zu tun: ein implizites Wissen, das Pierre Bourdieu den ‚Habitus‘ nennt.
Wenn ich eben von Wiederholungen gesprochen habe, dann verweist das darauf, dass das Soziale von Regelmäßigkeiten gekennzeichnet ist, ohne dass wir expliziten Regeln folgen. Diese Wiederholungen, die wir immer wieder neu aufführen, um das Soziale aufrechtzuerhalten, und die sich auch immer wieder ereignen – im Sozialen um uns herum –, sorgen einerseits für die Stabilität des Sozialen. Andererseits sind sie aber auch immer von Verschiebungen gekennzeichnet und sie können auch scheitern. Das ist ein weiterer Grundgedanke, dass es eine Doppelfigur von Stabilität und Instabilität der Praxis gibt.
Sie haben angesprochen, dass die Praxistheorien verschiedene ‚turns‘, die alle nach dem linguistic turn aufgetreten sind, bündeln. Die Praxistheorien scheinen einen Paradigmenwechsel des Verständnisses von ‚Kultur‘ zu forcieren und eine Kritik oder Überwindung des linguistic turns und dem damit einhergehenden Primat der Sprache zu versuchen. Wie würden Sie das Verhältnis von Praxistheorie und sozialem Konstruktivismus als hegemonialem Paradigma der humanities charakterisieren?
Das kommt erst einmal darauf an, was unter Konstruktivismus verstanden wird. Da gibt es sehr viele Varianten und Spielarten, aber wenn es darum geht, mit Konstruktivismus darauf hinzuweisen, dass soziale Regelmäßigkeit und Stabilität einer Konstruktionsarbeit bedarf, also dass das Soziale immer wieder neu hergestellt werden muss und dass daran Körper und Materialitäten beteiligt sind, dann würde ich durchaus Überschneidungen zwischen Konstruktivismus und Praxistheorien sehen. Karin Knorr Cetina hat etwa vom empirischen Konstruktivismus gesprochen: In den Studien des sogenannten ‚Laborkonstruktivismus‘ geht es darum, zu untersuchen, wie in meist naturwissenschaftlichen Laboren ein wissenschaftliches Wissen oder die Vorstellung von wissenschaftlicher Wahrheit hergestellt wird, mit ganz konkreten Praktiken, mit ganz konkreten Handlungsabläufen und unter Zuhilfenahme von Instrumenten wie zum Beispiel dem Mikroskop oder bestimmten physikalischen Versuchsanordnungen. Wenn man also diese Art des Konstruktivismus meint, dann ist man schon sehr nahe an der Praxistheorie.
Dagegen ist der Begriff des Konstruktivismus nicht so hilfreich, wenn er so verstanden wird, dass das, was konstruiert wird, nicht real ist. Genau dagegen wendet sich Praxistheorie. Dass man die Mechanismen einer Konstruktion aufdeckt, heißt nicht, dass sie damit nicht mehr wirksam ist. Sondern man will ja gerade zeigen wie diese Konstruktion funktioniert und sich auch weiterhin reproduziert. Das ist immer auch eine Frage von Machtverhältnissen.
Viele Theoretikerinnen und Theoretiker, auf die in der Rede vom practical turn Bezug genommen wird, haben sich selbst nicht unbedingt das Label der Praxistheorie gegeben (z.B. Foucault, Butler, Science and Technology Studies). Wie kommt es zu einer solchen ‚Re-Lektüre‘ poststrukturalistischer Theorie?
Ich würde eine enge Verwandtschaft zwischen Praxistheorie und Poststrukturalismus sehen, die darin besteht, ein eingeschränktes Verständnis von Struktur zu hinterfragen und zu überwinden. Darin treffen sich, denke ich, Praxistheorie und Poststrukturalismus: Strukturen weder mentalistisch zu denken, also im Geist situiert, noch als ein starres, fixes Regelsystem. Bei Anthony Giddens als einem der zentralen Vertreter der Praxistheorie finden Sie zum Beispiel einen starken Strukturbegriff, er spricht von der ‚Dualität der Struktur‘ und meint damit, dass die Akteure die Bedingungen für ihr Handeln in ihrer Praxis reproduzieren. Die Gemeinsamkeit liegt meines Erachtens nach darin, die Ereignishaftigkeit und die Verschiebung der Struktur in die Perspektive einzubringen. Deswegen ist der Poststrukturalismus sehr nah an der Praxistheorie und ein wichtiger Impulsgeber für die theoretische Debatte. Dass sie sich nicht selber dieses Label gegeben haben, hindert nicht daran, diese Theorien mit einzubeziehen. Michel Foucault hat zum Beispiel durchaus von ‚Praktiken‘ gesprochen und hat insbesondere in seinem Spätwerk die historische Transformation von Praktiken beleuchtet. Er hat ganz konkrete, gesellschaftlich zirkulierende Verhaltensweisen betrachtet, wenn er sich etwa mit der Sexualmoral der Griechen oder mit den Technologien des Selbst beschäftigt hat. Das ist ein sehr praxeologisches Denken, das sich aus seiner poststrukturalistischen Perspektive entwickelt hat.
In vielen Forschungsrichtungen, die an den Poststrukturalismus anschließen, gibt es einen kritischen politischen Einsatz, etwa in der feministischen Theorie oder den postcolonial studies. Inwiefern trifft das für die Ansätze der Praxistheorie auch zu? Haben sie eine politische Stoßrichtung?
Es gibt auf jeden Fall einen politischen Impuls. Wenn man sich zum Beispiel Pierre Bourdieu als einen Vertreter der Praxistheorie anschaut, ist ja seine Grundfrage, wie die Reproduktion sozialer Differenz funktioniert und warum sich Klassenverhältnisse eigentlich reproduzieren. Und da verweist er auf die Implizitheit des Habitus. Ich denke, dass ähnliche Fragen die Praxistheorie insgesamt beschäftigen, auch wenn sie nicht unbedingt immer an Bourdieu anschließt. Die Untersuchung der Reproduktion sozialer Differenz ist an sich eine eminent politische Perspektive. Das wird in der Praxistheorie noch erweitert, zum Beispiel indem sie Materialität in die Analyse miteinbezieht. Die Frage, wie das Soziale stabil gehalten wird und an welchen Punkten eine Dynamik, eine Veränderung möglich ist oder wie sie durch entgegengesetzte Praktiken verhindert wird, ist eine eminent politische Frage. Ich würde es mit Foucault halten und unter Macht mehr als nur ein persönliches Abhängigkeitsverhältnis verstehen, nämlich ein strukturelles Phänomen – Struktur hier mit der Praxistheorie als Wiederholung gedacht. Das heißt, dass man nach den Mechanismen der Wiederholung schaut und fragt, wie das Soziale stabil gehalten wird. Dann sieht man etwa, dass Macht etwa aus Normalisierungspraktiken besteht, zum Beispiel der Vermessung und Subjektivierung von Individuen. Ein aktuelles Thema ist hier ja im Moment die so genannte quantified self-Bewegung, die mittels Hard- und Software Selbstüberwachung und -optimierung betreibt. Macht liegt aber auch schon in der Verwendung bestimmter Klassifikationen, mit denen Individuen klassifiziert werden oder mit denen etwa Kulturen bewertet werden. In ihrer Heterogenität sind das alles Machtverhältnisse und die Untersuchung der Reproduktion dieser Machtverhältnisse ist der politische Einsatz der Praxistheorie. Ich würde sagen, die kritische Perspektive liegt in der Distanzierung, in der Befremdung des vermeintlich Normalen, des vermeintlich Natürlichen. Die wissenschaftliche Beschreibung ist eine Distanzierung von der, mit Bourdieu gesprochen, ‚natürlichen Einstellung‘ gegenüber dem Sozialen, also von dem, wofür die Dinge gewöhnlich gehalten werden. Darin liegt eine Distanzierung, aber keine Handlungsanweisung.
Zu soziologischen Fragestellungen gehört auch der Versuch, die ‚ganze Gesellschaft‘ auf einer abstrakteren Ebene zu beschreiben, zum Beispiel indem verschiedene soziale Bereiche oder, je nach Vokabular, ausdifferenzierte Systeme wie das Recht, die Erziehung oder die Kunst unterschieden werden. Wie würden Sie das Verhältnis des Praxisbegriffs zu solchen soziologischen Makrotheorien bestimmen?
Das sind Fragen, mit denen sich auch Ted Schatzki in jüngerer Zeit beschäftigt hat. Das wäre zunächst natürlich praxeologisch als Handlungsketten, also als Verkettung von Praktiken zu verstehen, die aber in unterschiedlichen sozialen Sphären unterschiedliche Charakteristika haben. Was in der Systemtheorie abgeschlossene soziale Systeme sind, sind in Bourdieus Feldtheorie zwar auch begrenzte soziale Räume, aber mit unscharfen Grenzen. Meiner Meinung nach müsste es darum gehen, welche Praktiken in einer Gesellschaft zirkulieren. Was sind fundamentale soziale Praktiken? Zum Beispiel Darstellen, Klassifizieren, Bewerten, Dokumentieren als ganz basale Praktiken, die breit zirkulieren – und im Gegensatz dazu: relativ spezifische soziale Praktiken, die in unterschiedlichen sozialen Feldern vorherrschen, zum Beispiel das Diagnostizieren einer Krankheit in der Medizin. Diese spezifischen Praktiken in den Feldern beziehen sich aber auch wiederum teilweise auf allgemeine Praktiken oder sind Modifikationen davon. Das heißt, wenn man von der Perspektive auf einzelne Praktiken zu einer Perspektive auf die Verkettung von Praktiken kommt, dann kann man auch größere Bereiche des Sozialen beschreiben und in ihrem Verhältnis zueinander charakterisieren und kartographieren. Ich glaube, das ist der Weg, den die Praxistheorie gehen muss.
Wie würde eine solche Forschung empirisch vorgehen? Haben Sie ein konkretes Beispiel für eine soziologische Fragestellung?
Ich beschäftige mich zum Beispiel im Moment mit dem Komplex des kulturellen Erbes, insbesondere mit der Vorstellung von Welterbe, wie sie von der UNESCO vertreten wird. Da versuche ich die Verbindung zwischen einerseits den konkreten Orten herzustellen, also zum Beispiel der Museumsinsel in Berlin als Welterbe, und andererseits den Praktiken der Bewertung durch die UNESCO oder durch die allgemeine Öffentlichkeit. In die institutionelle Deklaration einer Stätte als Welterbe ist ein heterogener Komplex von Experten, Gutachten, Bewertungen, von diplomatischen Verhandlungen zwischen Nationalstaaten einbezogen. Dann ändert sich der Status dieses Ortes und allein die Vorstellung, dass etwas ein Welterbe ist, hat wieder Konsequenzen dafür, wie mit dem kulturellen Erbe dieses Ortes umgegangen wird. Ein Welterbe ist zwar nationalstaatlich verortet, aber es gehört, von der Vorstellung her, der gesamten Menschheit. Was bedeutet das in einem System, in dem die Bewertung dieses Welterbes trotzdem nationalstaatlich organisiert ist, nämlich über zwischenstaatliche Verhandlungen, die von der UNESCO-Kommission geführt werden?
Es geht darum, diesen heterogenen Verbindungen zu folgen. Wenn man Praktiken verfolgt und von der Relationalität von Praktiken ausgeht, dann muss man eigentlich immer sozusagen ‚den Praktiken hinterherreisen‘ und untersuchen, wie Praktiken an andere Orte gelangen. Welche Verbindungen bestehen zum Beispiel zwischen einer Liste, die online geführt wird, dann irgendwo auf einer Konferenz debattiert wird, dann wieder umgeschrieben wird, und anderen sozialen Praktiken? Das muss man verfolgen: sowohl konkreten Praktiken nachspüren, Praktiken des Bewertens, des Klassifizierens, als auch untersuchen, wie Dokumente zirkulieren, wie sich eine Expertenkultur aufrechterhält oder auch wie konkrete Instrumente eingesetzt werden, um eine bestimmte Stätte zu restaurieren oder ein kulturelles Artefakt für die Zukunft zu konservieren. Oder wie dieses Artefakt dann im Museum präsentiert wird. Man kann eigentlich nie das gesamte Netzwerk untersuchen, aber die utopische Vorstellung, dass man es könnte, leitet das Projekt an. Das gelingt aus forschungspraktischen Gründen natürlich nicht. Aber die Idee ist, diesen heterogenen Verbindungen zwischen unterschiedlichen Orten und unterschiedlichen Zeiten nachzugehen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Hilmar Schäfer hat über Praxistheorie promoviert und verschiedene praxeologische Ansätze besonders in Hinblick auf ihre Konzeption von Stabilität und Instabilität untersucht. Er arbeitet an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Vergleichende Kultursoziologie und forscht im Moment zu Praktiken des kulturellen Erbes, besonders des UNESCO-Welterbes. Er ist Herausgeber des Sammelbandes Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm, der demnächst im transcript Verlag erscheinen wird.
Interview mit Sabine Kyora
Wenn es um neue Trends in den Geistes- und Sozialwissenschaften geht, stehen Ansätze, die sich um Praktiken drehen, im Moment ziemlich im Fokus. Dabei handelt es sich um eine theoretische Diskussion, die sich über viele Disziplinen erstreckt: Von Soziologie und Sozialwissenschaften, über Ethnologie und Science and Technology Studies bis zu den Literaturwissenschaften. Wie würden Sie diese momentane Popularität der Praxistheorien erklären?
Ich denke, das hat etwas zu tun mit dem Begriff der Praktik, wie man ihn zum Beispiel bei Theodore Schatzki finden kann: Praktik ist ein Zusammenhang von ‚doings and sayings‘, also subjektive Routinen des Handelns, und gleichzeitig etwas, das sozial geregelt ist. Eine Form des routinisierten Verhaltens in sozialen Zusammenhängen und das heißt, man kann nicht nur eine Sprachkomponente, sondern auch eine Handlungskomponente untersuchen. Der Ansatz ist relativ kleinteilig, es geht nicht um große Prozesse, wie etwa ‚Was ist Bildung?‘, sondern es geht um etwas, das in der einzelnen Handlung beobachtet werden kann. Ich finde diese Perspektive reizvoll, weil sie eine Mikroebene eröffnet, an die man sonst nicht rankommt. Auch in den Literaturwissenschaften eröffnet sich eine Mikroebene: In Bezug auf Texte oder in Bezug auf Autoren und ihr Verhalten im literarischen Feld. Ich kann mir vorstellen, dass diese Mikroebene für viele Disziplinen reizvoll ist. Genauso wie die Abkehr vom Diskurs, die die Praxistheorien implizieren: Dass man sich bei der Forschung nicht nur auf diskursive Zusammenhänge bezieht, sondern eben auch den Körper, Gestik, Mimik und bestimmte Arten des körperlichen Verhaltens und des impliziten Wissens miteinbezieht. Implizites Wissen besteht nicht in einer Reflexion, sondern darin, dass ich zum Beispiel weiß, wie man Auto fährt. Das macht eine Praxis aus: ein typisiertes, routinisiertes Verhalten, das wiederholt wird und ‚eingeschliffen‘ ist. Es ist ein Begriff für etwas, das sonst schwer zu fassen ist.
Wie würden Sie das Verhältnis von Praktiken und literarischen Texten fassen? Was ist eine Praktik aus literaturwissenschaftlicher Perspektive?
Der Begriff kann hier ganz unterschiedliche Ebenen haben. Erst einmal ist literarisches Schreiben auch eine Praxis, das heißt, wenn jemand ein Tagebuch schreibt oder Briefe schreibt, dann kann man das Schreiben dieser Texte als Praxis ansehen und man kann versuchen diese Schreibakte zu rekonstruieren.
Darüber hinaus sind bestimmte Praktiken innerhalb des Literaturbetriebs zu beobachten. Etwa wenn ein Autor sich auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert oder jemand am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teilnimmt. Das sind Praktiken in sozialen Zusammenhängen, wo es auch ganz bestimmte routinisierte Verhaltenstypen gibt: Wie verhält sich zum Beispiel ein Autor der ‚Hochliteratur‘? Und wenn man sich das anschaut, nicht nur im Text, sondern auch auf Videoaufzeichnungen, dann sieht man, dass es bestimmte Standards gibt, ebenso wie Versuche dagegen zu verstoßen. Also eine Mischung aus Routine und dem Versuch des Autors, sich so zu verhalten, dass er als handelndes Subjekt erkennbar wird.
Die dritte Ebene wären soziale Praktiken in Texten. Auch innerhalb literarischer Texte kann man soziale Praktiken beobachten. Das funktioniert natürlich besonders gut in realistischen Texten, bei denen man von sozialen Praktiken des Kontextes, also der jeweiligen Gegenwartsgesellschaft, ausgehen kann und diese auch in bestimmten Abwandlungen im Text wiederfinden kann. Eine solche Perspektive wäre eine Art der Neukonzeption der Sozialgeschichte der Literatur. Es gibt allerdings immer ein Problem bezüglich der Methodik, wenn man gewissermaßen von der Gesellschaft auf literarische Konstrukte schaut. Eine Möglichkeit wäre, die sozialen Praktiken einer Gesellschaft zu beobachten und zu analysieren, wie sie in literarischen Texten auftauchen. Das funktioniert am besten in realistischen Texten, etwa von Fontane; experimentelle Textformen stellen dagegen eine Herausforderung dar. Da müsste man sich dann wieder andere Methoden überlegen. Darüber hinaus ist Autorschaft natürlich eine Praxis. Autorschaftskonzepte, Autorschaftsentwürfe, Autorschaftsinszenierungen, all das würde ich auch als eine Praxis im literarischen Feld fassen.
Da würde ich gerne eine Anschlussfrage stellen, denn in Ihrer Arbeit befassen Sie sich insbesondere mit Fragen der Autorschaft. In der literaturwissenschaftlichen Diskussion gibt es zwar keine klar getrennten Fraktionen mehr; allerdings ist immer noch eine Polarisierung erkennbar zwischen ForscherInnen, die Autorschaftskonzepte behandeln und in ihre Arbeit einbeziehen und jenen, die auf das Konzept im Zuge poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Ansätze lieber gänzlich verzichten würden. Was bedeutet vor diesem Hintergrund eine praxeologische Perspektive auf Autorschaft?
Da würde ich zwei Ebenen unterscheiden: Auf einer eher historischen Ebene kann man mit Praxistheorie Autorschaft untersuchen. Wenn man sich die Literaturgeschichte anschaut, ist es natürlich schon so, dass es bestimmte Autorschaftskonzepte als Teil der Poetologie der Autoren gibt. Ich habe auch Probleme damit, wenn jetzt aus poststrukturalistischer Perspektive gefordert wird, diese Dinge nicht zu untersuchen, weil es sich nicht lohnen würde. Dadurch, dass Autoren mit Beginn der Moderne, also um 1800, angefangen haben, sich zu überlegen, was ein literarischer Autor ist und sich gefragt haben: „Was bin ich für ein literarischer Autor?“ hat sich eine bestimmte Autorschaftspraxis etabliert. In diesem Zusammenhang kann man mit einem praxeologischen Ansatz poetologische Texte – ‚der Autor, der versucht, sich klar zu werden, was er für ein Autor ist‘ – untersuchen und dabei nicht nur auf den reflexiven Teil achten, sondern auch auf die Praktiken, die dort geschildert werden. Ein schönes aktuelles Beispiel wären die Poetikvorlesungen, die in Frankfurt jedes Jahr gehalten werden und in denen die Autoren ihr Selbstverständnis erklären. Da gibt es zum Beispiel die Vorlesung von Sibylle Lewitscharoff Vom Guten, Wahren und Schönen, in der sie beschreibt, dass der Autor, so wie sie ihn versteht oder so wie sie sich als Autor einordnen würde, im Bett liegen muss. Denn nur im Bett kriegt er die Gedanken: Die Gedanken ‚wischen‘ immer knapp über dem Boden und deswegen würde es gar keinen Sinn machen sich hinzusetzen; wenn man sitzt sei der Kopf zu hoch, da fliegen keine Gedanken vorbei. Man könnte jetzt versuchen diese Selbstbeschreibung in andere Konzepte von Autorschaft einzuordnen. Man kann aber auch sagen, dass hier körperliche Elemente benannt werden, die bisher im Konzept von Autorschaft eigentlich keine Rolle spielen: Wo und wie der Autor liegt, sitzt oder steht; diese Fragen nach dem körperlichen Aspekt von Autorschaft werden bisher so gut wie überhaupt nicht berücksichtigt. Dabei sind diese körperlichen Routinen ganz wichtig für die Herstellung von Kunst. Deswegen ist es interessant, auch in historischer Perspektive auf Praktiken zu achten, die nicht nur Praktiken des Schreibens sind oder der Reflexion. Das eröffnet eine neue Perspektive auf den Autor als soziales und körperliches Wesen.
Zu dieser Perspektive kommt noch eine zweite: Das wären cross-mediale Darstellungen oder Vorstellungen von Autorschaft. Das bedeutet, dass nicht nur Texte angeschaut werden können, in denen über Körperroutinen gesprochen wird, sondern eben auch Videos, Talkshowformate. Das ist natürliche gerade für die Gegenwartsliteratur interessant. Eine meiner Doktorandinnen untersucht genau solche Formate, etwa Autoren bei Harald Schmidt. Das ist besonders interessant, weil sich Autoren mittlerweile überall in diesen Formaten präsentieren müssen und nicht mehr einsam an ihren Schreibtischen sitzen. Da kann man dann Praktiken beobachten, die ganz stark an die körperliche Präsenz gebunden sind und eben nicht nur ‚sayings‘, sondern auch ‚doings‘ sind. Wie sich zum Beispiel Sybille Berg bei Harald Schmidt präsentiert, wie die Gestik ist, wie die Mimik ist, wie kurz der Rock ist, das alles ist Teil der Praxis Autorschaft. Aus dieser Perspektive erscheinen dann auch andere Phänomene im Blickfeld, als wenn man sich nur auf Reflexionen und auf die Sprachebene konzentrieren würde.
Man muss sich klar machen, dass Autoren keine Geistwesen sind, sondern, genau wie Sybille Lewitscharoff es beschreibt, im Bett liegen oder am Tisch sitzen. Sie sagt auch, dass man eine bestimmte Kleidung für das Schreiben braucht, sonst würde es nicht funktionieren. Dieses Einbeziehen von Körperlichkeit und sozialer Praxis ist etwas, das den Autor ausmacht und sollte nicht dem ‚Geistwesen Autor‘ untergeordnet werden. Auch die mediale Inszenierung von Autoren und die Präsentierung von Texten ist keine Nebensache mehr. Da kann man nicht sagen, dass der Autor ein ‚Werk‘ hat und der Rest wäre irgendwie ein Paratext. Das trifft nicht zu. Für eine Untersuchung von Autorschaft in der Gegenwartsliteratur, die diese Aspekte mit einbezieht, gibt es im Moment noch keine ausgereifte Methodik und die Praxistheorien sind eine echte Hilfe.
Als neues Paradigma zur Analyse des Sozialen stehen viele praxeologische Ansätze in einem kritischen Verhältnis zum so genannten linguistic turn: Statt der absoluten Vorgängigkeit der Sprache werden materielle und körperliche Aspekte in den Mittelpunkt gestellt. Was bedeutet ein solcher Paradigmenwechsel für die literaturwissenschaftliche Forschung? Oder zugespitzt gefragt: Während die Literaturwissenschaft zur Zeit des linguistic turns eine prominente Impulsgeberin für die theoretische Diskussion war, wie kann sie produktiv auf die Wende zu den Praktiken reagieren?
Es ist sicher nicht so, dass die Praxistheorien das gesamte Feld der Literaturwisschenschaften bearbeiten können, das würde ich auf jeden Fall nicht behaupten. Natürlich gibt es, wenn es etwa um die Textinterpretation geht, auch andere Methoden. Es ist also nicht so, dass wir jetzt alle nur noch mit Praxistheorien arbeiten wollen. Zum anderen halte ich es für ein bisschen schmal, zu behaupten, dass ein Autor oder ein Text nur aus Imagination und Sprache bestehe und von der sozialen Konstellation ablösbar wäre. Deswegen halte ich die Praxistheorien für eine Möglichkeit, dieses ‚Soziale‘ auf eine methodisch geregelte Weise in den Text reinzuholen: Indem man systematisch guckt, was es für Praktiken in einer bestimmten historischen Konstellation gibt und dann versucht den Text davon ausgehend zu analysieren. Ich finde es allerdings ganz wichtig, dass man sich klar machen muss, dass ein literarischer Text nicht das Abbild der Wirklichkeit ist und dass deswegen soziale Praktiken in literarischen Texten anders auftauchen: Es gibt immer Subversionsvarianten oder Verschiebevarianten, man muss immer mit dem Eigensinn des literarischen Textes rechnen. Das finde ich wichtig, ich würde nicht wollen, dass man diese praxeologische Perspektive eins zu eins auf literarische Texte überträgt. Das würde Literatur ja auch total langweilig machen, weil man dann immer nur das Doppel der Realität hätte. Wenn man das im Hinterkopf behält, ist die Praxistheorie aber sehr fruchtbar. Einer meiner Doktoranden hat etwa zum Selbstmord um 1900 geforscht. Ausgehend von dem Verständnis von Selbstmord als sozialer Praxis können da zum Beispiel die Texte von Fontane oder sogar Kafka unter einer neuen Perspektive betrachtet werden. Man kann sich etwa Fragen, wie die Texte sich damit auseinandersetzen, dass sich der Selbstmord als soziale Praxis in verschiedenen sozialen Schichten jeweils anders ausprägt.
Daran anschließend würde ich gerne noch eine Frage stellen, die das Verhältnis von Praxis und Diskurs betrifft. Vor dem Hintergrund etwa einer soziologischen Untersuchung scheint diese Trennung ziemlich eingängig zu sein: Auf der einen Seite gibt es das, was die Menschen (oder die Dinge) tun und auf der anderen Seite die Zeichen und Texte. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive fällt gleich auf, dass die Lage komplizierter ist. Gibt es in der literaturwissenschaftlichen Arbeit überhaupt einen Unterschied zwischen diesen Begriffen, und wenn ja, wie könnte diese Differenz mit literaturwissenschaftlichen Mitteln bestimmt werden?
Zunächst einmal war ja das Entstehen der soziologischen Praxistheorien eine Gegenbewegung zur Diskursanalyse, die auf die Konzentration auf diskursive Verhältnisse mit Fragen nach routinisiertem körperlichen Verhalten reagiert hat. In den Literaturwissenschaften gibt es da das Problem, dass viele der Praktiken, um die es geht, nur als Text vorliegen. Das ist natürlich nicht nur ein literaturwissenschaftliches Problem, auch Historiker haben oft nur Textquellen. Das heißt, wir haben immer eine diskursive Präsentation von Praktiken, wenn wir uns zum Beispiel Texte aus dem frühen 19. Jahrhundert angucken. Hier im Graduiertenkolleg haben wir eine Zeit lang überlegt, wie genau der Praxisbegriff auf Texte angewendet werden kann, wie in Texten nach Praktiken gesucht werden kann. Das heißt, wie kann ein Text als etwas gelesen werden, das Praktiken gewissermaßen konserviert oder in Zeichen fasst. Das ist ein Problem, das immer auftaucht, wenn man es mit Textwissenschaften und schriftlichen Quellen zu tun hat. Was die Trennung zwischen Diskurs und Praxis angeht: Ich würde mich aus praxeologischer Perspektive auf bestimmte Praktiken in Texten konzentrieren. Eine Diskursanalyse würde da anders vorgehen und fragen, was die Bedingungen dafür sind, dass ein Text genauso bestimmte Diskurselemente zusammenfügt und sich genau an dieser Stelle des Diskurses positioniert. Das wäre eher eine Text-Text-Beziehung. Mich interessiert dagegen immer auch das Verhältnis zu Praktiken in der sozialen Realität. Das ist also ein etwas verschobenes Interesse in Bezug darauf, was eine literaturwissenschaftliche Diskursanalyse untersuchen würde.
Vielen Dank für das Gespräch!
Sabine Kyora ist Professorin für deutsche Literatur der Neuzeit an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Sie ist Expertin für die Literatur des 20. Jahrhunderts, Arno Schmidt und Alfred Döblin. Als Mitantragstellerin und stellvertretende Sprecherin des Graduiertenkollegs Selbst-Bildungen erforscht sie Phänomene der Gegenwartsliteratur aus praxeologischer Perspektive. Zuletzt hat sie in diesem Zusammenhang den Sammelband Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung (transcript 2014) herausgegeben.