Sara Melchior: Raumstrukturen in Maria La Ribots Performancesammlung Panoramix.

Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Performancesammlung Panoramix (2003) der spanischen Performancekünstlerin Maria La Ribot. Panoramix ist eine Komposition  einzelner Solostücke, die in der Zeit zwischen 1993 und 2003 entstanden sind. Adrian Heathfield nennt sie “image-action performances.”1 Maria La Ribot befindet sich hier zusammen mit den Zuschauern in einem weißen Ausstellungsraum, an dessen Wänden einige Objekte angebracht sowie über den Boden verteilt sind. Die einzelnen Performanceteile, die sogenannten distinguished pieces, werden nacheinander gezeigt, wobei Maria La Ribot ständig ihren Standort im Raum wechselt, um zum nächsten distinguished piece überzugehen oder die dazu benötigten Gegenstände zusammenzusuchen. Dabei ist es den Zuschauern vollkommen selbst überlassen, welche Perspektive sie wählen, ob sie La Ribot in ihren Wanderungen folgen oder an einem Platz verbleiben. Damit lässt sich der Raum auch nicht mehr unterteilen in Bühnen- und Publikumsbereich. Die Zuschauer bleiben zwischen La Ribots Objekten stehen oder lassen sich dort nieder, es gibt keinen Ort mehr im Raum, der nicht bespielt wird oder eine  Ecke, in der man sich so positionieren kann, dass man den besten Überblick hat. Unvorhergesehen tritt La Ribot in die Grüppchen von Sitzenden oder Stehenden hinein, um mit dem nächsten Teilstück ihrer Performance zu beginnen oder um sich einen Weg zu bahnen. Und so kann es sein, dass man nur wenige Zentimeter neben sich La Ribot in ihren Bewegungen verfolgt oder in einer unbequemen Haltung die Blicke der anderen Zuschauer auf sich gerichtet zu spüren meint, während die Performerin hinter einem selbst, an die Wand gelehnt, mit ihren Gegenständen verfährt.

Beschreibungen dieser Art finden sich auch bei Gerald Siegmund und André Lepecki, die der Performance live beiwohnen konnten2. Mir stand lediglich ein Dokumentarfilm von Luc Peter zur Verfügung, nach dessen Sichtung La Ribots Umgang mit ihrem Raum von großem Interesse für mich geworden ist. Unter Raum ist hier sowohl die tatsächliche Räumlichkeit des Spielortes und der Anordnung der verwendeten Objekte in diesem zu verstehen, als auch die Gestaltung  des Verhältnisses zwischen der Performerin und den Zuschauern. In meiner Interpretation greife ich auf den Text Das Glatte und das Gekerbte aus Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Tausend Plateaus zurück und möchte in meinen Überlegungen die Erscheinungsformen von Strukturen, wie sie Deleuze und Guattari beschreiben, mit der Struktur von Panoramix verbinden. Deleuzes und Guattaris Theorie liegt eine philosophische Idee von Kartografie zugrunde, die in dezidiert geologisch gefärbtem Vokabular die Struktur von geographischen, mentalen und fantastischen Räumen in Worte zu fassen sucht. Der  Aufsatz Das Glatte und das Gekerbte beschäftigt sich mit der Definitionsmöglichkeit noch ungeformter Räume und deren fort- und rückschrittlichen Prägungsentwicklungen.  Ich unternehme den Versuch einer Lesart, die Deleuzes und Guattaris Idee von dem Glatten und dem Gekerbten auf den Aufführungsraum einer Performance bezieht und damit auf eine abgeschlossene Zeit, während der performt wird und die den Zuschauer zu einem jeweils persönlichen Umgang herausfordert. Herausforderung in dem Sinne, dass nicht absehbar ist, wie lange eines der aufgeführten distinguished pieces dauert und ob sich aufgrund der Situation für den Zuschauer im Raum etwas wie eine Rückzugsmöglichkeit bietet oder ob die gesamte Dauer von Panoramix die Aufmerksamkeit fordert.

1. “Neverending ocean full of drops”

La Ribots Raum, in dem sich Panoramix ausbreitet, birgt eine Sammlung von Möglichkeiten. Die Gegenstände, die hier über den Boden verteilt sind und an der Wand hängen, eröffnen dem Zuschauer einen breiten Assoziationsraum, noch bevor die Performerin ihre ‚Bühne‘ betritt. Genauso viele Möglichkeiten der Interpretation und Betrachtung bieten sich an, wenn man als Zuschauer mitten in den Dingen seinen Platz finden kann. Die Anhäufung von Farben und Geweben, die, auf eine bestimmte Weise vorbereitet, eine Struktur vermuten lässt, mischt sich mit den Zuschauern, die auf demselben Boden wie La Ribot Platz nehmen. Die Freiheit der Assoziation, das zu sehen, was man will, ohne in eine bestimmte Richtung gezwungen zu werden, ist ein Ziel La Ribots, die ihre Arbeit als einen „nicht enden wollenden Ozean aus Tropfen bezeichnet“ – Bildertropfen – jeder Tropfen ein Schuh, eine Tasche, Teile eines Stuhls, ein Körper.3 Auch Another Bloody Mary setzt sich aus solchen Tropfen zusammen. Zur Veranschaulichung zitiere ich Gerald Siegmund:

La Ribot öffnet hier eine veritable Büchse der Pandora und entnimmt ihr eine Reihe von Gegenständen, die sie auf dem Boden platziert. Eine rote Schürze, einige rote Lockenwickler, rote Platzdeckchen, einige Plastikobjekte, alle leuchtend rot. Sie setzt sich eine blonde Perücke verkehrtherum auf, so dass ihre Augen verdeckt werden und klemmt sich ein blondes Haarteil an die Schamhaare. In metallisch grünen hochhackigen Schuhen (der Komplementärfarbe von Rot) grätscht sie nun über einem Arrangement, das wie eine Blutlache wirkt und beginnt sich langsam nach hinten zu beugen, bis sie schließlich den Boden berührt. Regungslos liegt sie nun da, ihre Beine gespreizt wie eine offene Wunde. Wie sollen wir das lesen?4

Mit der abschließenden Frage in der zitierten Beschreibung scheint bereits auf, dass es hier tatsächlich nicht nur eine Möglichkeit gibt, das Gesehene für sich zu benennen, sondern, wie bereits weiter oben angesprochen, eine Vielzahl von Möglichkeiten.5

Ich will mich im Folgenden allerdings weniger auf die möglichen Bedeutungen der distinguished pieces konzentrieren, als vielmehr, mich an dem folgenden Zitat von Maria La Ribot orientierend, genauer auf die Raumaufteilung bei Zurrutada, Oh! Compositione und Another Bloody Mary eingehen und Deleuzes und Guattaris Vorstellungen vom Glatten und Gekerbten einbeziehen:

Le public ne doit pas […] être efficace, il ne doit pas comprendre tout, il ne doit pas voir tout, il ne doit pas consommer. J’en ai marre un peu d’efficacité. Je crois qu’un temps peut être très intéressant ou très poétique […].

(Das Publikum sollte […] nicht effektiv sein, es muss nicht alles verstehen, muss nicht alles sehen, es sollte nicht konsumieren […]. Ich habe ein wenig die Nase voll von der Effektivität. Ich glaube, dass eine Zeit auch so sehr interessant und sehr poetisch ist […]. Übersetzung durch die Autorin.)6

Im Folgenden wird also der Versuch unternommen, den Raum in seiner möglichen Beschaffenheit zu beschreiben, aber nicht um letztlich zu einem Verständnis der Geschehnisse zu kommen.

2.1 Der Rahmen

Die Präsentation findet in einem weißen Ausstellungsraum statt, an dessen Wände Objekte verschiedener Art, viele Kleidungsstücke, mit Klebeband befestigt sind. Der Boden, auf dem sich alle im Raum Anwesenden bewegen, ist eine Fläche aus großen zusammengefügten Pappkartonstücken. Hier sind die Dinge verstreut, hier steht und läuft und liegt La Ribot inmitten der Zuschauer. In dieser nach außen hin abgeschlossenen, nach innen jedoch sehr offenen, für die Dauer der Aufführung geschaffenen Welt, herrscht eine eigene Zeitlichkeit, die bestimmt wird durch die Abfolge und Dauer der distinguished pieces. Die Offenheit im Inneren des Raumes besteht in den sehr vielfältigen Kombinationen, die mit den Objekten durchgeführt werden können sowie in den vielfältigen Assoziationsmöglichkeiten, die dem Zuschauer gegeben sind. So werden aus verschiedenen Teilen des Raumes und von verschiedenen Stellen der Wände, Gegenstände an einem Ort zusammengetragen, die auch der Vorstellung Raum geben, es könnten bestimmte Dinge an den Wänden mit anderen auf dem Boden zusammenpassen. Dieser Eindruck entsteht beispielsweise in dem Moment, als La Ribot für Oh! Compositione (distinguished piece N°22), nach dem Aufstellen eines Stuhls neben einem Haufen roter Stoffe und Schachteln, ein grünes Kleid von der Wand nimmt. Dabei führt ihr Weg an einem auf dem Boden stehenden Toaster vorbei, der vom Zuschauerblick ebenso registriert wird, wie die erwähnten roten Textilien und weitere an der Wand hängende Kleidungsstücke. Diese zusätzlich anwesenden Dinge sind nicht unmittelbar Teil des eben gezeigten Pieces, aber doch Elemente des Gesamtbildes. Hier ließe sich nun die Idee der Kerbung eines vormals glatten Raums und umgekehrt die Glättung einer eben unternommenen Kerbung des Raums anfügen. La Ribots Fläche, auf der alles angeordnet und doch vermischt ist, bleibt als Raum solange glatt, bis die distinguished pieces ihn belegen. Sobald ein Stück in das nächste übergeht, Verhältnisse von Objekt und Performerin, Performerin und Zuschauer, Raum und Inhalt sich neu ordnen, prägen sich Inseln von Situationen ein und wird die Fläche auf andere Weise gekerbt oder wieder geglättet:

Der glatte Raum und der gekerbte Raum sind keine einfachen Gegensätze. Sie gehen ineinander über, lösen einander ab.7

Um bei dem eben beschriebenen piece Oh! Compositione zu bleiben, ließe sich hiermit sagen, dass mit den Bewegungen La Ribots (Stuhl aufstellen, Kleid drapieren, Wasser trinken, auf den Stuhl steigen, singen, den Becher wegschleudern, den Stuhl wegschleudern) den Dingen in ihrer Anordnung eine Funktion zugeschrieben wird, eine Kerbung des Raums stattfindet, während einige Zentimeter neben dem Ort der momentan stattfindenden Handlung noch in ihrem Zusammenspiel von La Ribot undefinierte Gegenstände lagern, die roten Textilien, die später bei Another Bloody Mary Verwendung finden. Undefiniert im Sinne von ‚einem glatten Raum zugehörig‘, noch nicht eingeführt. Mit dem Übergang zum nächsten piece findet an anderer Stelle eine Kerbung statt, während der weggeschleuderte Stuhl sowie der Becher von Oh! Compositione als Fragmente eines pieces wieder Teile eines noch unbenannten und damit glatten Raumes werden.

Zum Verständnis dessen, was Glattheit, Kerbung und Glättung im Raum bedeuten können, geben Deleuze und Guattari Anhaltspunkte, indem sie sich auf verschiedene Systematiken, wie zum Beispiel die Musik, die Geographie, und die Mathematik beziehen. Dem Aufsatz liegt eine philosophische Idee von Kartografie zugrunde, die sich sowohl mit naturgegebenen oder geschaffenen Realitäten und ihren Strukturen sowie Ordnungen des Denkens auseinandersetzt und diese selbst versucht zu kartografieren. Die Karten, die dabei angelegt werden, erhalten verschiedene Namen, sie werden als Rhizom, Plateau, Ritornell, Strata, Gefüge oder auf ähnliche Weise bezeichnet. Dem Philosophen in seiner ordnenden, verstehenden Tätigkeit gegenüberstehend, entwirft der Kartograph ein ganzes Territorium. Sein Blick wird dabei von keinem Horizont eingegrenzt.8

So kann ein geographischer Raum allein durch das Erstellen einer Karte (von eben diesem Raum) gekerbt werden, wo man ihn vorher, ohne Einteilung in Strukturen und Festmachung von charakterisierenden Punkten, als glatten Raum bezeichnet hätte. Indem Längen- und Breitengrade eingezogen werden, die Atmosphäre in Schichten geteilt wird, Windrichtungen etc. ausgemacht werden, wird dem Raum quasi seine Einkerbung aufgezwungen.9 La Ribot teilt ihren Performanceraum auf ähnliche Weise ein, indem sie Stationen, die einzelnen distinguished pieces, festlegt und diese abwandert. Die ehemals in ihrer Funktion noch unklare Ansammlung von Objekten bekommt mit La Ribots Handlungen eine Struktur, ihr widerfahren Kerbungen. Gleichzeitig werden diese Kerbungen wieder glattgezogen im Moment des Weitergehens, des Fallenlassens des eben Gebrauchten, das als Überrest hinter der Performerin gelassen wird, die ihre Spuren durch den Raum zieht.

2.2 Der Weg durch den Raum

Was Deleuze und Guattari als ein Konzept von Kerbung und Glättung bezeichnen, entspricht dem Vorgang der Territorialisierung und Deterritorialisierung:

Das Glatte verfügt immer über ein Deterritorialisierungsvermögen, das dem Gekerbten überlegen ist.10

Maria La Ribot steckt Bereiche ab, zieht Grenzen für die Dauer des einzelnen piece und hebt dennoch ständig ihre Kleinstterritorien wieder auf, um aus dem durch die, den Pappkarton zusammenhaltenden, Klebestreifen linierten Raum wieder eine große Fläche zu machen. Bei Oh! Compositione ist es die Anordnung von Stuhl, Kleid, Wasserbecher, eingerahmt von einem Musikstück (Oh! Sole von Javier López de Guereña) und La Ribots unbekleideter Körper, der das Territorium absteckt und durch das abschließende Wegschleudern des Stuhls wieder aufhebt. Zurrutada und Another Bloody Mary existieren während Panoramix durch die räumliche Abtrennung nebeneinander und doch als gegeneinander abgegrenzte Gebiete. Während ein roter Scheinwerfer noch immer die Komposition roter Textilien, die Teil von Another Bloody Mary ist, anstrahlt, auch nachdem Maria La Ribot schon das Zentrum dieses piece verlassen hat, liegt gleichzeitig das grüne Licht eines weiteren Scheinwerfers auf La Ribot, die mittlerweile schon Zurrutada performt. Das Publikum hat sich zu großen Teilen um La Ribot gesammelt. Daneben bewegen sich einzelne Zuschauer im Raum, verweilen bei Another Bloody Mary, betrachten an den Wänden entlang gehend die angehängten Gegenstände oder haben sich völlig dem Pakt zwischen Performer und Zuschauer und damit der von La Ribot als „theatral“ bezeichneten Zeit entzogen. André Lepecki charakterisiert diesen Akt der Entterritorialisierung in seiner Ziellosigkeit, seinem Mäandern und Treiben, sowohl der Performance als auch des Publikums:

La Ribot [entterritorialisiert] den durch Linien gekennzeichneten, orthogonalen Raum der institutionellen Galerie, die zu einer nicht-determinierten und prekären Dimension wird.11

Wenn La Ribot in ihren Bewegungen durch den Saal dem Zuschauer das Gefühl gibt, sich vielmehr in einer auch zeitlich sich windenden und ausufernden Dimension zu befinden, als in einem Raum, der sich geometrisch erschließen ließe, dann drängt sich hier das Bild auf, das Deleuze und Guattari von einem glatten Raum entwerfen:

Der glatte Raum ist ein ‚amorpher, informeller Raum […]‘12

Der glatte Raum wird somit verstanden als noch nicht geformter Performanceraum. Denn der weiße Ausstellungsraum ist in seiner Situiertheit in einem Museumsgebäude und in seiner Funktion als Platz, an dem etwas gezeigt wird, natürlich bereits geformt.  Wobei doch hier vielmehr anstelle der Qualität des „Amorphen“ eine Begrifflichkeit den Sachverhalt treffen würde, die die ständige Veränderlichkeit des Raumes, von einem piece zum nächsten und damit Veränderlichkeit der Anhaltspunkte (oder gar Auflösung der Anhaltspunkte, wie ein Zitat des Tanztheoretikers Salazar-Condé über La Ribots Performances in einer Galerie annehmen lässt: „Das einzig Gewisse ist das Gewicht unserer Körper auf dem Boden.“13) für den Zuschauer benennt: Beide Räume existieren nur wegen ihrer wechselseitigen Vermischung, es findet eine ständige Umkrempelung der Raumstrukturen statt.14 Strukturiert wird der Raum durch die Bewegungen der Zuschauer, die Versuche, einen Platz zu finden und darauffolgend die Schritte, die La Ribot unternimmt, die das Publikum zerstreuen und damit die Anordnung im Raum wieder aufheben. So ist die Performerin dabei zu beobachten, wie sie sich in einer Kurve durch die aufmerksame Menge bewegt, um eine Perücke aufzuheben und sie dorthin zu tragen, wo schließlich Another Bloody Mary stattfindet.15

Es lässt sich also, um im Vokabular von Deleuze und Guattari zu bleiben, eine Krempelbewegung von der (partiellen) Strukturierung zurück zur Auflösung der festgelegten Punkte verzeichnen. Ebenso lässt sich die schrittweise Erweiterung des Performanceraums und damit die Verkleinerung des Zuschauerbereichs (wie in Outsized Baggage und auf dem bereits beschriebenen Weg zu Another Bloody Mary) mit der Fortsetzung des Wegs durch den Raum beobachten und mit dem Bild einer Krempelbewegung verbinden. Diese Bewegung ‚faltet‘ den Raum auf eine bestimmte Weise ‚ein‘ und glättet die Faltung wieder mit dem nächsten Zug. Das Publikum weicht zurück, um La Ribot Platz zu machen, die ihren Handlungsspielraum ausweitet. Es schließt den eben geschaffenen Platz wieder, wenn die Performerin sich in die entgegengesetzte Richtung zurückbewegt.

3. “There is no more representation, only presentation”

I would like to speak about presentation, rather than representation. The quietness that can be seen in Still Distinguished  as a means to speak about presentation- in the sense of being, or of feeling a corporeal presence and of contemplating inside a non-theatrical time, understanding “theatrical” as something that starts and finishes.16

Hier also wird von der Performerin die Aufforderung geäußert, sich Gedanken zu machen über eine theatral verstandene Zeit, und wie der Begriff der Theatralität in einen Raum passt, wo nicht klar ist und auch nicht letztendlich klar werden wird, wo die ‚Bühne‘ endet und was Teil von ihr ist und was noch nicht oder nicht mehr. Präsentation, die im Gegensatz zur Repräsentation auf nichts zurückgreift und damit auch das ‚Jetzt‘ thematisiert, die Gegenwärtigkeit des Stattfindenden, was sich womöglich als Plastizität verstehen lässt. Weniger lösen die Ereignisse die Empfindung aus, es hier mit einer gerahmten Vorstellung zu tun zu haben (zu der man eine gewisse Distanz bewahren kann, im Bewusstsein darüber, welchen Konventionen das Gezeigte unterliegt), sondern vielmehr das Gefühl, sich auf eine Weise zu dem Präsentierten in Bezug setzen zu müssen, das sich um einen herum bewegt.

Der Begriff der Plastizität impliziert eine Fassbarkeit – eine ‚Anfassbarkeit‘ dessen, was man zu sehen bekommt, eine unmittelbare Nähe dazu und passt sich so in die hier spezifische Raumkonzeption ein, die eine Abgrenzung des Zuschauers verunmöglicht. La Ribot entwickelt den Begriff der Plastizität aus dem der Präsentation:

There is no more theatricality, only plasticity.17

Plastizität wird hier verstanden im Sinne von räumlichen Erhebungen und Vertiefungen, in denen man sich verliert, sich treiben lässt in Farben und Bildern. Plastizität als Handlungsvorgabe im Sinne von ‚Situationen formen‘. In Maria La Ribots Arbeit soll die Form der Plastizität die der Theatralität, verstanden als räumlich und zeitlich eingrenzendes Moment, aufheben. Laut ihren Aussagen in Luc Peters Dokumentarfilm gibt es in ihren pieces keine Entwicklung, keine Narration, sie schafft Situationsskulpturen in einer Anhäufung von Momenten und Objekten:

C‘est comme un assemblage total. Il n‘ y a pas un développement. Je fragmente et je fragmente en petits morceaux en tant que je veux.

(Es ist wie eine totale Zusammenfügung, es gibt keine Entwicklung. Ich fragmentiere und fragmentiere in kleine Teile so oft ich will. [Übersetzung durch die Autorin])18

Dieses Fragmentieren lässt ein Verstehen oder Sehen des Gezeigten auf vielfache Weise zu. Es lässt sich mit Deleuzes und Guattaris Begriff der Mannigfaltigkeit beschreiben. Michaela Ott gibt in einer Einführung zu Deleuzes Werk dem Begriff der Mannigfaltigkeit eine für Deleuze existentielle Bedeutung. Die Mannigfaltigkeit, die an anderen Stellen auch als ‚Immanenz‘ auftaucht, wird bei Deleuze als reines Begehren charakterisiert, als Vorstadium des Bewusstseins. Diese psychoanalytisch gefärbte Ausdrucksweise findet in der geologisch inspirierten Terminologie von Mille Plateaux, dem ‚glatten‘, ‚nicht-stratifizierten‘, ‚nicht-gekerbten‘ Raum wie Wüste und Meer ihre synonyme Entsprechung. Solche Räume werden dem ‚stratifizierten‘ und ‚gekerbten Organisationsplan‘ von Sprache, Organismus und Subjektivität gegenübergestellt.19

Als zum Teil immer wieder glatter Raum lässt sich somit auch La Ribots Räumlichkeit charakterisieren, die dem Zuschauer einen Bewusstseinsstrom eröffnet, ausgehend von den Momenten und Objekten.

Ein glatter Raum ist in seiner Existenz mannigfaltig gefüllt, mögliche Strukturen können sich ent-falten, so wie La Ribot ihre Fragmente präsentiert und Situationen wie Oh! Compositione oder La Zurrutada ent-faltet. In La Zurrutada trinkt La Ribot unbekleidet im Stehen aus einer Flasche Wasser, während um sie herum die Zuschauer verteilt sind, im Raum spazieren gehen. Sie trinkt nach dem Ansetzen so lange, bis die Flasche leer ist. Mit der Flasche am Mund geht sie in die Knie und allmählich immer weiter nach unten, bis sie auf den Boden gesunken ist. Begleitet wird dieser Vorgang von Musik, die durch ein leichtes Klingeln an tropfendes Wasser erinnert und die Zeitlupe- Geschwindigkeit, die La Ribot gewählt hat, durch das Klingeln, wie Tropfen, wie Zeittropfen, wie Fallen von Zeittropfen, wie das Sekundenticken einer Uhr, noch verstärken. Die Situation umfasst die Dehnung von Zeit, ihre Wahrnehmung während des Trinkens und des das Trinken Beobachtens und die gleichzeitige Gewissheit einer Endlichkeit der Zeit, die hier so betont wird: Die Zeit, die La Ribot sich nimmt, wird mit dem letzten Schluck aus der Flasche und dem Ankommen auf dem Boden zu Ende gehen.  Dieser Zeitraum bildet als Teil der übrigen ‚Zeiten‘, die durch das Performen der pieces im Raum stattfinden, nur eine weitere Falte im Gesamtgeschehen von Panoramix. Durch die Verwendung der Deleuzeschen Vokabeln wie „glatt“, „gekerbt“, „Falten“ aber auch durch den von La Ribot selbstgewählten Begriff der „Plastizität“ stellt sich eine gewisse Greifbarkeit der hier geschilderten Strukturen und Vorgänge ein, die verwendeten Worte machen den behandelten Gegenstand ‚anfassbar‘. Die Räumlichkeit und der Charakter von Panoramix, die unmittelbare Nähe der Zuschauer zur Performerin und zu den Objekten (es besteht die Möglichkeit, die Hand auszustrecken und sie anzufassen) taucht in diesen Begrifflichkeiten wieder auf.

Die haptische Qualität, die Deleuze und Guattari dem glatten Raum (oder der Glattheit von Raumstrukturen) zuschreiben, lässt sich nicht nur auf einer Ebene der Theoretisierung von Panoramix und den beschriebenen einzelnen pieces  betrachten, sondern zugleich auf einer Ebene der unmittelbaren Betroffenheit als Zuschauer während der Performance. Der Begriff des „Affekt-Raums“ bebildert diese Wirkungsweise:

Der glatte Raum wird viel mehr von Ereignissen als von geformten oder wahrgenommenen Dingen besetzt. Er ist eher ein Affekt-Raum als ein Raum von Besitztümern. Er ist eher eine haptische als eine optische Wahrnehmung. Während im gekerbten Raum die Formen eine Materie organisieren, verweisen im glatten Raum die Materialien auf Kräfte oder dienen ihnen als Symptome. Es ist eher ein intensiver als ein extensiver Raum, ein Raum der Entfernungen und nicht der Maßeinheiten.20

Diese körperliche Erfühlbarkeit weist La Ribots Präsentation auch insofern auf, dass die Dauer der Performance lediglich als ungefähre Zeit wahrgenommen werden soll, die sich nicht klar abstecken lässt und sich von der Zeit eines Draußen unterscheidet. Die Ereignisse, die den Performancezeitraum prägen, bieten sich dem Zuschauer an. Auf welche Weise er damit verfährt, wie er mit der Zeit, die ihm verfügbar gemacht wird und dem Bewegungsraum, den kleinen Strecken, die er zurücklegen kann, um die Handlungen der Performerin zu verfolgen, umgeht, bleibt ihm überlassen:

The spectator now works his space and has a relative period of time to use, a period of time that begins to be understood, and is made up by each of us individually.21

Zugleich liegt der körperlichen Erfühlbarkeit, was zeitliche Ausdehnung betrifft, das Vorhaben zugrunde, auf eine leidenschaftslose Art und Weise Bilder zu schaffen:

I am interested in proposing images, a series of things together, that act ‘impassively’, on my behalf, on the onlooker[…].22

4. Abschließend

Der Umgang Deleuzes und Guattaris mit ihren Begrifflichkeiten, die das Gefühl vermitteln, (Denk-)Räume, in denen man sich bewegt, hätten eine Materialität, indem man sie als glatt, gekerbt, umkrempelbar und entfaltbar beschreibt, war der Ausgangspunkt für eine Auseinandersetzung mit Maria La Ribots Performance Panoramix, um herauszufinden, inwiefern ihr Raum, ihr künstlerisches System Eigenschaften hat, wie sie Deleuze und Guattari beschreiben. Gerade auch, da La Ribot den zur Verfügung stehenden Raum ohne zu hierarchisieren mit den Zuschauern teilt23 und in ihrem Handeln auf von ihr selbst als nicht- theatral beschriebene Weise24 versucht, so etwas wie ein eigenes zeitliches System zu schaffen, erschienen mir die Gedanken in 1440 – Das Glatte und das Gekerbte als Bezugspunkt, da auch hier die Schaffung von Räumen behandelt wird. Mir erscheint die Interpretation von La Ribots Raum als solchem, der zwischen Glätte, Kerbung und Glättung changiert, interessanter, als die Einteilung in eine der Kategorien. Womöglich lassen sich diese Raumstrukturen gar nicht im Sinne einer Definition (es handelt sich um einen glatten/ gekerbten Raum, da…) auf einen tatsächlich existierenden Raum übertragen, sondern bestehen vielmehr als Qualitäten, die dem hier behandelten Raum, dem Performanceraum und Handlungsraum La Ribots, immanent sind. So prägen diese Begrifflichkeiten auch die hier stattfindende theoretische Auseinandersetzung mit der Performance Panoramix, da sie es meines Erachtens vermögen, in der ihnen eigenen Haptik, eine Unmittelbarkeit und ‚Greifbarkeit‘ im Aufeinandertreffen von Zuschauer-, Performer- und Objektkörper darzustellen.

Justus-Liebig-Universität Gießen, Sommersemester 2009

1 Adrian Heathfield: „Alive.“ In: Ders.: Art and Performance Live. London: Tate Publishing 2004. S.9.

2 Vgl. André Lepecki: Option Tanz. Berlin: Theater der Zeit 2008. S. 116 ff und Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. Bielefeld: transcript 2006. S. 454 ff.

3 Maria La Ribot: “Panoramix.” In: Adrian Heathfield: Art and Performance Live. London: Tate Publishing 2004. S. 34.

4 Gerald Siegmund: Abwesenheit. S. 455.

5 Vgl. ebd. S. 455-456.

6 aus dem Film von Luc Peter: La Ribot Distinguida. Genf: Intermezzo Films 2004. Timecode: 00:45:06-00:46:40.

7 Stefan Heyer: Deleuzes & Guattaris Kunstkonzept. Ein Wegweiser durch Tausend Plateaus. Wien: Passagen 2001. S. 20.

8 Ebd. S. 13.

9 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte.“ In: dies. Tausend Plateaus. Berlin: Merve 1992. S. 664-665.

10 Ebd. S. 665.

11 André Lepecki: Option Tanz. S. 116.

12 Gilles Deleuze/Félix Guattari: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte.“ S. 660.

13 André Lepecki: Option Tanz. S. 116.

14 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte.“ S. 658.

15 Vgl. Luc Peter: La Ribot Distinguida. Timecode: 00:06:30-00:06:50.

16 Maria La Ribot: “Panoramix.” S. 30.

17 Ebd.

18 Luc Peter: La Ribot Distinguida. Timecode: 00:16:00-00:17:00 und 00:23:06-00:23:40.

19 Vgl. Michaela Ott: Gilles Deleuze zur Einführung. Hamburg: Junius 2005. S.37.

20 Gilles Deleuze/Félix Guattari: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte.“ S. 664.

21 Maria La Ribot: „Panoramix.“ S. 30.

22 Ebd.

23 Vgl. Maria La Ribot: “Panoramix.” S. 30.

24 Ebd.

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