Gleich von mehreren Seiten wird von der Wissenschaft über Kunst gesprochen. Die Philosophie meldet sich zu Wort, die Kunstwissenschaften, die Psychoanalyse und so fort. Assoziationen zum Werk werden zu Theoriegebäuden, die sich am Ende eines theoretischen Rundganges vielleicht im Werk eines Kunstschaffenden reflektieren. Kann das auch andersherum passieren? Oder folgt die Theorie immer der Praxis? Gibt es einen Einfluss der Wissenschaft auf die Kunst, Implikationen, ein Band zwischen Wissenschaft und Kunst?
Uns interessiert an dieser Stelle, wie Sie (wenn Sie das denn tun) sich selbst in diesem (Spannungs-)Feld verorten und wie Sie ganz persönlich den Umgang der Wissenschaft mit der Kunst beschreiben würden.
Frédéric Valin (Schriftsteller)
1982 in Wangen im Algäu geboren, lebt seit 2003 in Berlin und studierte Komparatistik und Romanistik. Er organisiert seitdem Kulturveranstaltungen und Lesebühnen und schreibt als freier Autor u. a. für Jungle World, Spreeblick.com und die taz über Politik und Fußball. Sein erstes Buch Randgruppenmitglied erschien 2010 beim Verbrecher Verlag. (Foto: Claudia Thomas)
twitter: freval
frederic-valin.de/
Woher wissen, was sich zu schreiben lohnt? Woher wissen, ob eine Textidee jetzt, in unserer Zeit etwas zu sagen hat? Man hat als Autor so wenig Kontakt zur Welt. Man sitzt an seinem Schreibtisch und schreibt. Wenn Welt stattfindet, dann stört sie bloß: die verdammten Autos auf der Straße, der Nachbar, der seinen Boden schleift, die Nachbarin, die ihre Katze verprügelt. Das stört. Wenn man abends doch noch Kontakt zur Welt hat, dann zu einer, die einem ähnlich ist: Studierte, Journalisten, Künstler, Kreative, mit denen spricht man sowieso nur über sich und seine Arbeit, und die machen das andersrum genauso. Das ist eine eigene kleine Welt, über die es schon viel zu viele Bücher und Geschichten gibt. Wie aber Neues, Anderes, Bedeutsames finden? Eine Perspektive, eine Stimme? Wie verhindern, dass man mit seinen Fragen an die Welt am Ende klingt wie Moritz von Uslar? So schnöselig, ichbezogen und selbstverliebt. „Wir glauben an unser Interview“, das schreibt der jedes Mal mit rein. Diese Selbstbestätigungsrituale, denen gilt es gerade zu entkommen.
Wie? Ich lese so gut wie keine Belletristik, fast nur noch Fachliteratur, Sachbücher und Theorie. Das hilft, Themen einzuordnen. Es ist übrigens ein weitverbreitetes Vorurteil, dass Schreibthemen schwierig zu finden seien, dass Autoren einsam an ihren Tischen sitzen, den Ellenbogen auf die Platte gestützt, und um Geschichten ringen. Das ist falsch. Geschichten gibt es viel zu viele, Themen gibt es viel zu viele, über die sich zu schreiben lohnt, und es gibt noch viel mehr Themen und Geschichten, über die sich nicht zu schreiben lohnt und die trotzdem gedruckt werden.
Die Frage ist also nicht, wie man Themen findet, sondern wie man sie ausschließt. Gerade in dieser Frage ist der Autor zunächst einmal völlig hilflos, weil es naturgemäß zu seiner Hybris gehört, sein Interesse und seine Perspektive als die einzig brauchbare zu nehmen. Weil ihn dieser oder jener Aspekt des Stoffes bereits interessiert, weil er die ersten Sätze bereits im Kopf hat, weil er zu diesem Zeitpunkt schon ganz von sich überzeugt sein muss, um mit der Arbeit zu beginnen, stößt er fortwährend an die Grenzen seiner Subjektivität: Der Autor kann seine Idee nicht mehr erfahren, weil er sie schafft. Er kann sie nicht bewerten. Um überhaupt irgendeinen Zugriff darauf zu haben, um seinen Gedanken überhaupt einordnen zu können, muss er es notdürftig objektivieren. Etwas finden, woran er sich misst.
Das im Schreibprozess selbst zu wissen, ist schwierig, denn was eine Geschichte taugt, weiß man in der Regel hinterher (oder nie). Deswegen schreiben sich viele Autoren fortwährend an einem begrenzten Themenfeld ab, weil der Prozess nie mit dem Ende einer Geschichte zusammenfällt. Was man dann dem Publikum präsentiert, ist meistens nur Etappe.
Wie weiß man, dass man auf dem richtigen Weg ist? Dass, was man schreibt, berechtigten Anspruch hat, gehört zu werden?
Bedeutung wird häufig, immer häufiger mit Resonanz verwechselt. Resonanz misst sich zum Beispiel an Einschaltquoten, an Verkaufszahlen, am Publikum, das sich für einen interessiert. Das ist kein neues Phänomen, Eugène Sue hielt sich in den 1840er Jahren sicherlich auch für einen einflussreichen Schriftsteller, weil sein Fortsetzungsroman Les mystères de Paris das wichtigste literarische Ereignis seiner Zeit war. Heute liest sich das wie Bastei Lübbe.
Es geht nicht um die Annäherung an ein ‚Lesepublikum‘ oder sogar ‚großes Lesepublikum‘. Das ‚große Lesepublikum‘ ist eine Erfindung von Verlagsstrategen und Statistikern. Die Vorlieben und Bedürfnisse dieses Lesepublikums sind häufig analysiert worden, es ist heute also möglich, diesen Ergebnissen hinterherzuschreiben: man bleibt dann Unterhaltung1, was nichts schlechtes ist, davon kann man immerhin leben. Es ist nur leider nicht sehr spannend, man entdeckt nichts beim Schreiben. Bedeutsam ist auch nicht, was Feuilleton und Preisverleihungen als bedeutend bezeichnen: tatsächlich bilden beide nicht die Gegenwartsliteratur ab, sondern die Beziehungen, Abhängigkeiten und, ja doch, Seilschaften innerhalb des gegenwärtigen Literaturbetriebs. Das klingt anklagender, als es gemeint ist: jeder weiß das (außer jenen Feuilletonisten und Preisverleihern, die es sich nicht eingestehen wollen), und man klagt exakt so lange darüber, wie man nicht mit von der Partie ist. Allerdings interessiert sich ernsthaft dafür, was im Feuilleton steht, nur, wer im Feuilleton steht oder zu stehen wünscht. Dass das Feuilleton progressiv oder subversiv ist, gilt ja höchstens noch bei der FAZ, und auch da nur im Vergleich zum Innenpolitikteil, wo tiefstes, tiefstes Dunkeldeutschland herrscht. Die haben es nicht sonderlich schwer, subversiv zu sein. Es reicht schon, Sarrazin zu widersprechen.
Was aber ist relevant, und vor allem: was ist relevant für die Literatur? Es gab eine Zeit, da war sich Europa einig, dass die Liebe so ist, wie Flaubert sie schreibt. Wo wird heute die Liebe erzählt? Oder vom Hass. Insgesamt: von Gefühlen. Wo werden die Geschichten erzählt? In den Büchern? Nein, von den Gefühlen erzählt das Fernsehen, oder vielmehr: das bewegte Bild. „Das Fernsehen hat eine Art faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne eines Großteils der Menschen“, schreibt Perre Bourdieu2, und es tut es vor allem, indem es dramatisiert. Dieser Art der Erzählung muss die Literatur sich verweigern. Für sie muss gelten, was Bourdieu später an gleicher Stelle schreibt: „Nichts ist schwieriger, als die Realität in ihrer Banalität erfahrbar zu machen. Flaubert sprach gerne davon, ‚das Mittelmäßige sorgfältig auszumalen‘. Darin besteht das Problem des Soziologen: das Gewöhnliche ungewohnt zu machen; es so zu schildern, dass sichtbar wird, wie außergewöhnlich es ist.“ Und nicht nur des Soziologen: auch des Autoren.
Es ist also dieses Ziel, das Literatur, wie ich sie verstehe, verfolgt: das soziale Wissen ums Gewöhnliche zu erweitern. Als Voraussetzung, um herauszufinden, was dieses Gewöhnliche, Alltägliche ist, das vom Fernsehen und dem Medientheater verschüttet oder übermalt wird, braucht es die kritische Analyse. Und es sind (vor allem) Strukturalisten und Poststrukturalisten, die bei dieser Aufgabe helfen: Bourdieu, Foucault, Barthes, an manchen Tagen Habermas, auch Derida, Deleuze, Lacan, Butler, Zizek und die selbst in dieser illustren Aufzählung ganz besonders unlesbare Kristeva, Chomsky, Wacquant und so weiter, die Namen sind bekannt.
Wenn mein Studium überhaupt etwas gebracht hat, dann, dass ich ein wenig Zeit hatte, in diesen Autoren zu lesen. Oder sie überhaupt zu entdecken. Mein Studium – Komparatistik und Romanistik – war wie ein Buch, das man sich kauft, und von dem man am Ende feststellt, dass es bis auf die Bibliographie am Ende nichts taugt.
Ich weiß nicht mehr, was ich mir von diesem Studium versprochen habe: wenn ich mir irgendetwas davon versprochen habe, hat es das mit Sicherheit nicht gehalten. Kurse, in denen drei bis vier Autoren pro Sitzung behandelt werden, uninspirierte Referatsorgien, und wenn ein Dozent tatsächlich eine Haltung zur Literatur entwickelt hatte, dann in der Regel eine ästhetizistische. (Das hat sich jetzt, da Vogl Institutsleiter geworden ist, vermutlich geändert.) Wenn mich das beeinflusst hat, dann darin, dass ich eine abgrundtiefe Ablehnung gegen alles Manirierte, Kandidelte entwickelt habe.
In diesem Studium lernt man nur dann etwas, wenn man schreibt, wenn man Hausarbeiten verfasst und seine Erkenntnisse in Strukturen einbettet. Das ist mir im Bachelorstudium zu selten passiert, abgesehen davon hat mich die wissenschaftliche Form nie interessiert. Dieses enge Korsett, das Objektivität simuliert, keine eigene Stimme zulässt und auf Unlesbarkeit als Distinktionsmittel setzt – ich übertreibe. Es lässt sich sicher einiges zur Verteidigung dieses Stils sagen, und es lässt sich sicher ein wenig ausdifferenzieren, aber alles in allem hat mich dieser Verzicht auf Perspektive mindestens so abgestoßen wie die strukturelle Beschneidung, die einem da auferlegt wird.
Die Kritik der oben genannten Autoren, die eine politische ist, heißt es für mich nicht wissenschaftlich weiterzudrehen. Sondern zurückzuübersetzen ins Ästhetische. Wie das geht mit der Resubjektivierung, das hat Rimbaud mit den entscheidenden Fragen, in dem ihm eigenen Pathos illustriert. Welches Tier muss ich anbeten, welches Heiligenbild angreifen, welches Herz brechen, welche Lüge einlösen? In welchem Blut waten? Man mag es nüchterner formulieren, wenn man es nüchterner mag (und die Prosa mag es ja nüchterner, vor allem aber unpersönlicher): Welche Stimmen, welche Standpunkte bleiben ungehört? Welche Perspektive, welche Wahrheit blieb bis heute unerzählt?
Erst kommt die Entscheidung. Und dann beginnt die Arbeit.
1 Eine kleine Nebenbemerkung: Gerade in den populären Formaten spielt die Wissenschaft eine immer wichtigere Rolle, selbstverständlich nicht als Wissenschaft. Die meisten zeitgenössischen Fernsehserien (die legitimen Nachfolger der Groschenromane) spielen entweder in Krankenhäusern oder unter Kriminalermittlern. Bei beiden spielt die Welt der Wissenschaft eine entscheidende Rolle: Bei den Krankenhausserien als Hintergrund und Leitmotiv, bei den Ermittlerserien als treibendes Element, das durch Spezialisten zur Anwendung kommt und durch sie hindurch die Fälle löst.
2 Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998.