Karl Kelschebach: Bildungskritik in Robert Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß.

Karl Kelschebach: Bildungskritik in Robert Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß.

 

1. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß als Schulroman?

Wenn es in diesem Beitrag um Bildungskritik in den Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906)[1] gehen soll, so scheint dies an die Lesart des Romans als Schulroman anzuknüpfen. Eine solche Genre-Zuordnung drängt sich geradezu auf, zum einen ganz einfach deshalb, weil der Roman an einem Internat spielt und seine Protagonisten Schüler sind, zum anderen, weil er zu einer Zeit erschien, da es »kein beliebteres Thema« gab als »die Niederhaltung und Abmarterung hochbegabter, zur Selbstständigkeit des Denkens emporstrebender Jünglinge durch verständnislose, pedantische, herrschsüchtige, blind am Alten hangende Schulmeister«, wie es Friedrich Paulsen formulierte.[2] Doch geht es darum überhaupt? Nahm Robert Musil mit dem Törleß wirklich »an dem kleinen literarischen Boom teil, für den die Schul- und Internatsromane um die Jahrhundertwende sorgten«?[3]

Verwiesen wird in diesem Zusammenhang in der älteren Musil-Forschung oft auf Musils eigenen Internatsaufenthalt in Mährisch-Weißkirchen: »Seit dem Erscheinen des Erstlingswerkes von Robert Musil im Jahre 1906 betont die Literaturwissenschaft mit leichtem Schaudern seine Erlebnisse in der Militär-Oberrealschule in Mährisch-Weißkirchen (1894-1897), und man sieht sich seit der Veröffentlichung seiner Tagebücher im Jahre 1955 dazu berechtigt, da Musil von kaum einem anderen Aufenthaltsort noch in späten Jahren mit ähnlicher Bitterkeit gesprochen hat.«[4] Besonders gründlich hat Carl Corino die biographischen Hintergründe des Törleß erforscht. Dabei stellte er nicht nur fest, dass der reale Zögling Musil ebenso wie der fiktive Zögling Törleß unter Heimweh gelitten hatte,[5] sondern konnte mithilfe alter Klassenbücher sogar reale Pendants zu Reiting, Beineberg und Basini ausmachen.[6] Zuweilen hat der Biographismus in der Musil-Forschung recht seltsame Blüten getrieben. Beispielsweise inspizierte Nanao Hayasaka auf der Suche nach dem Božena-Haus etliche ehemalige Tanzlokale in Mährisch-Weißkirchen – vergebens.[7]

Obwohl der Stoff der Handlung offenbar autobiographischer Prägung ist, fühlte sich Musil »beinahe beleidigt« durch Fragen »nach dem Wie, Wo und wirklichen Einzelheiten«[8] – für ihn selbst nebensächliche Aspekte. Doch nicht bloß die Autorenintention steht der Fixierung auf den autobiographischen Hintergrund des Törleß entgegen – von der sich die jüngere Musil-Forschung auch wegbewegt hat.[9] Vor allem der Roman selbst lässt eine solche Lesart zweifelhaft erscheinen: Dass Musil sich mit Grausen seiner Zeit an der Militär-Oberrealschule Mährisch-Weißkirchen erinnerte, wo es ihm »[ä]rger als Sträflinge[n]«[10] erging, verleitet dazu, im Konvikte zu W. ein Beispiel für das »Kasernensystem als entmenschlichende Erziehungsanstalt«[11] zu erblicken, wo »Kontrolle das angestrebte Ziel jeder strengen Zucht sein muß«[12]. Mit Musils eigener Schule mag es sich so oder ähnlich verhalten haben, mit der Törleß’ nicht: Mit Kontrolle kann es dort nicht weit her sein, sonst könnten die Zöglinge nicht monatelang heimlicher Exzesse frönen: »Liest man Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß als Geschichte einer exemplarischen Sozialisation, dann fällt in eindeutiger Übereinstimmung mit den Machttheorien Michel Foucaults auf, daß rein repressiven Erziehungsregeln und -praktiken in der Institution eigentlich keine dominierende Bedeutung zuzukommen scheint.«[13]

Schwer zu halten ist Matthias Luserkes Einwand, Reiting und Beineberg reproduzierten mit der Folterung Basinis »lediglich die Verhaltensweisen und Bewusstseinsformen der Erwachsenen«[14]: Die Gewalt wie auch immer gearteter Erziehung ist nicht graduell, sondern qualitativ von jener der Schüler verschieden. In der ›roten Kammer‹ wird nicht erzogen, sondern experimentiert. Beineberg erklärt ausdrücklich, es sei ihm nicht darum zu tun, Basini zu bestrafen, sondern darum, sich »an einem solchen Fall [zu] schulen« (T 83) – und wenn vor dem Lehrerkollegium schließlich von »Mittel[n] gütlicher Belehrung« die Rede ist, so ist dies »eine wohlverabredete Komödie« (T 195).

Die Bildungskritik im Törleß ist also nicht die autobiographisch genährte Verurteilung bestimmter Erziehungspraktiken, wie sie der Schulroman vornimmt.

Sie setzt vielmehr da an, wo Musil 1921 in seinem Essay Geist und Erfahrung[15] den »Schlüssel zur ›Bildung‹«[16] verortet: beim »Unterschied von ratioïd und nicht-ratioïd«[17], durch den die Wirklichkeit als dualistische erfahren wird. Dabei repräsentiert das Ratioïde jene Erkenntnisgebiete, die sich durch streng kausales Denken erschließen lassen, während das Nicht-Ratioïde sich einem solchen Zugriff entzieht. Es stellt jenen Teil der Wirklichkeit dar, der erfahren, aber nicht erklärt werden kann. Wie aus diesem Konzept Bildung gewonnen werden soll, lässt Musil freilich offen. Wie sich ihr die Verkennung nicht-ratioïder Erkenntnisbereiche in den Weg stellt, führt er, wie zunächst gezeigt werden soll, hingegen im Törleß vor. Anschließend werde ich die Lehrerfiguren als Personifizierungen einer »Dörrfischrationalität«[18] untersuchen. Zuletzt soll analysiert werden, wie im Törleß mit Kant umgegangen wird, wobei sich zeigen wird, dass Kant in der erzählten Welt sowohl durch Törleß’ Mathematiklehrer als auch durch seine Eltern einerseits zum Inbegriff geisteswissenschaftlicher Bildung, gar von Welterkenntnis schlechthin verklärt, andererseits auf soziales Prestige reduziert wird. Hierin zeigt sich die weit über das Institut hinausreichende Oberflächlichkeit der Gesellschaft der späten KuK-Monarchie, die zentraler Gegenstand der Bildungskritik des Törleß ist.

2. »…zwischen zwei Welten zerrissen«.
Die Erfahrung der dualistischen Wirklichkeit am Institut

Eine »Larvenexistenz« (T 58) führt Törleß hinter den Mauern des abgeschiedenen Konviktes zu W. »[W]eitab von der Residenz, im Osten des Reiches, in spärlich besiedeltem, trockenem Ackerland«, liegt es in »ferner, unwirtlicher Fremde« (T 10) und verhöhnt mit seinem abendlichen Glockenzeichen Törleß’ »in steter Gleichgültigkeit« (T 22) dahindämmerndes Leben. So überrascht »seine tiefinnerliche Langeweile« (T 58) kaum. Und doch muss da noch etwas anderes sein als die lähmende Tristesse, die sich bereits in der Bahnhofs- und Landschaftsbeschreibung der ersten Sätze des Romans ausbreitet.

Er fühlte sich gewissermaßen zwischen zwei Welten zerrissen: Einer solid bürgerlichen, in der schließlich doch alles geregelt war, und einer abenteuerlichen, voll Dunkelheit, Geheimnis, Blut und ungeahnter Überraschungen. (T 58)

Dass diese »innere Zwiespältigkeit« (T 59) Törleß’ sich gerade in der ›roten Kammer‹ einstellt, ist kein Zufall: Sie repräsentiert jene Welt, die weder mit der wohlvertrauten der primären Sozialisation vereinbar ist, in der die Eltern ihn mit »einer starken, gedankenlosen, tierischen Zärtlichkeit« (T 13) umfangen hatten, noch mit der als »leer und langweilig« (T 16) empfundenen Welt der sekundären Sozialisation am Institut.[19] Törleß erfährt eine »dualistische Wirklichkeit«[20], indem er gewahr wird, »daß von der hellen, täglichen Welt, die er bisher gekannt hatte, ein Tor zu einer anderen, dumpfen, brandenden, leidenschaftlichen, nackten vernichtenden führe.« (T 65)

Wie problematisch eine psychologische Lesart des Romans ausfallen kann, demonstriert Jakob A. Zelyolet, indem er darin den Hinweis auf eine »Geisteskrankheit«[21] erblickt und über seinen ›Patienten‹ schreibt: »Die Symptome, die also bei Törleß nach dem Diebstahl Basinis entstanden sind, lauten: Wahnvorstellung, Beziehungswahn, Doppelwahn und undeutliche Ausdrucksweise.«[22] Daher schließt er sich der Vermutung des Mathematiklehrers an, Törleß habe »Anlage zum Hysteriker« (T 203). Dass Törleß’ Verhalten von der Norm des Instituts abweicht, steht außer Frage – sonst würde es nicht für so viel Befremden sorgen. Diese Abweichung scheint jedoch vor allem darin zu bestehen, dass sein Geist im Vergleich zu dem seiner Kameraden »der beweglichste« (T 57) ist und seine Ausführungen vor dem kopfschüttelnden Lehrerkollegium »weit über Törleß’ Alter hinausgingen« (T 202). Was als Wahnsinn erscheinen mag, erweist sich bei genauer Lektüre als Manifestation eines besonderen Gespürs für die »Sinnprovinzen«[23] jenseits der Alltäglichkeit, das den übrigen Charakteren fehlt. Dass Törleß unverstanden bleibt, erklärt sich aus der Unfähigkeit seiner Mitmenschen zu begreifen, dass sich mit der Art von Verstand, die das Leben der Eltern und das Leben im Institut prägt, nicht alles erschließen lässt. Dabei befindet der (hier auktoriale) Erzähler:

Eine große Erkenntnis vollzieht sich nur zur Hälfte im Lichtkreise des Gehirns, zur andern Hälfte in dem dunklen Boden des Innersten, und sie ist vor allem ein Seelenzustand, auf dessen äußerster Spitze der Gedanke nur wie eine Blüte sitzt. (T 201)

Kontraste und Übergänge zwischen Hell und Dunkel ziehen sich in zahlreichen Variationen durch den gesamten Roman: Gleich nach der Abreise der Eltern, die »durch das allzu Taghelle ihres Daseins blind gegen das Dunkel« (T 188) sind, dämmert – über mehrere Absätze – der Abend heran und Törleß spürt: »Es war eine Welt für sich, dieses Dunkel« (T 33). Dunkel ist es dann auch im alten Badehaus, wo die Prostituierte Božena die Schüler verführt (T 39), dunkel sind die »Tore zu geheimnisvollen Freuden« (T 48), als welche Törleß die Nächte empfindet. Auf dem Weg zur ›roten Kammer‹ wird das Tageslicht selbst am Mittag »erstickt« (T 53; vgl. T 97f, 175). Als Törleß sich nach der ersten nächtlichen Zusammenkunft mit seinen Kameraden von Basini fern hält, weicht sein Befremden. Es wird »unwirklicher, wie die Spuren eines Traumes, die sich in der realen, festen, sonnenbeschienenen Welt nicht behaupten können« (T 73). Dann wieder bedrängen ihn seine Eindrücke von Basini »[w]ie ferne, dunkle Kräfte« (T 91) und die Erinnerung an ein »schweigsames Bild in einem dunklen Zimmer zu Hause« (T 92). In der nächsten ›Kammer‹-Szene hebt sich Basinis Lächeln »aus dem Rahmen des Lichtes heraus« (T 98). Als Törleß seine Erlebnisse zu reflektieren versucht, geht es ihm »wie einem Fischer […], der zwar am Zucken des Netzes fühlt, daß ihm eine schwere Beute ins Garn gegangen ist, aber trotz aller Anstrengungen nicht vermag, sie ans Licht zu heben« (T 128) – für ihre Ausformulierung wählt er dann interessanterweise ein »Wort voll biblischer Salbung, weil es ihn dunkler und voller dünkte« (T 128). Klarheit über seine Verwirrung kann er sich dennoch kaum verschaffen, weil ihm so ist, »wie wenn von einer unendlich sich in die Finsternis hinein erstreckenden Dünung nur einzelne losgelöste Teilchen an den Felsen eines beleuchteten Ufers in die Höhe spritzen, um gleich darauf hilflos aus dem Kreise des Lichtes wieder zu versinken« (T 130). Im Schlafsaal horcht er »durch das Dunkel« (T 140). Hier kommt es zur Verführung durch Basini, während in allen Gängen »die dunklen Fluten des Schweigens« unbeweglich zu schlafen scheinen (T 159). Daraufhin verfolgt ihn »eine ungewisse Angst […] wie einen, der im Dunkel nicht mehr weiß, ob er seinen Weg noch unter den Füßen hat oder wo er ihn verloren« (T 166). Einen ironischen Zug gewinnt diese Metaphorik, wenn Beineberg in der ›roten Kammer‹ das Licht ausknipst, »weil es sich so von solchen Dingen besser spricht« (T 169), bevor er zu einem kruden esoterischen Monolog ansetzt, den Törleß mit der Frage unterbricht, ob er auch so spräche, »wenn wir jetzt unten zwischen den anderen säßen […] wo die Lampen hell brennen« (T 171). Dass der Direktor der Schule mit Törleß’ Einlassungen über »[d]iesen dunklen und geheimnisvollen Weg, den er gegangen« (T 194), nichts anzufangen weiß, gibt er mit der abfälligen Bemerkung zu verstehen: »was Sie eben sagten, war sehr dunkel« (T 197).

Was aber hat es auf sich mit dem Dunkel, das sich einerseits so wenig mit der verstandesregierten Alltagswelt in Einklang bringen lässt, sie andererseits aber überall zu berühren, ja, in sie einzubrechen scheint? Augenfällig steht es für die Sexualität, was das ›alte Badehaus‹, die ›rote Kammer‹, das von Törleß imaginierte ›Tor zu vorenthaltenen Freuden‹ und die Sinnlichkeit im Schlafsaal betrifft.[24]

Diese naheliegende Interpretation erfasst jedoch nicht alle Facetten der Hell-Dunkel-Metaphorik. Zu ergänzen wären das Mystische, mit dem sich Beineberg aufspielt, und alles, was sich begrifflich nicht fassen lässt, wie die Gedanken, die Törleß nicht recht zu Papier zu bringen, geschweige denn seinen Lehrern begreiflich zu machen imstande ist. Nicht zuletzt steht das Dunkle im Kontrast zur Licht-Metaphorik der Aufklärung, insbesondere wenn die Stunden »der Dämmerung zu[kriechen]« (T 139), nachdem sich Törleß’ Kant-Lektüre als wenig erhellend erwiesen hat – die Vernunft (sei es nun die reine oder die praktische)[25] dringt nicht bis in die seelischen Abgründe vor, die der Protagonist zu beleuchten wünscht.

Dass das Helle und das Dunkle, das Alltägliche und das Aufwühlende, das Ratioïde und das Nicht-Ratioïde streng getrennt bleiben müssen und es Törleß verstört, wenn diese Trennung zu zerbrechen droht, ist nicht zuletzt den Ausschlussmechanismen des Instituts geschuldet, wo das »Ineinandergreifen von ratioïder und nicht-ratioïder Welt«[26] sanktioniert wird. Die diese Verbindung ausstellenden Charaktere werden zu Außenseitern: Der Fürst H., in seiner tiefen Religiosität »eine andere Art Mensch« (T 14), fühlt sich am Institut so unwohl, dass er aus ihm austritt. Der androgyne, sinnliche Basini wird verwiesen und auch Törleß, der sich weigert, sein »›Talent des Staunens‹«[27] aufzugeben, muss das Institut schließlich verlassen. Dass sich Institut und Gesellschaft analog zueinander verhalten, zeigt sich in der Außenseiterin Božena, die »in die Provinz hinausgespült« (T 40) wurde, weil ihre Sexualität gefragt, aber stigmatisiert ist.

Die Logik des Ausschlusses erfasst freilich nicht nur die Sexualität, sondern letztlich alles, was die Regentschaft hölzernen Alltagsverstandes infrage stellt. Paefgen weist zurecht auf den fehlenden Literaturunterricht, die dürftige Ausstattung der Bibliothek und die Überforderung des Mathematiklehrers mit Törleß’ Faszination für die imaginären Zahlen hin. Eine »im Imaginären forschende Tätigkeit«, auf die Menschen wie Törleß »existentiell angewiesen«[28] seien, bleibt den Zöglingen offenbar vorenthalten – dabei lehrt uns der Erzähler:

Das Denken, das sich an der beschienenen Oberfläche bewegt, das jederzeit an dem Faden der Kausalität nachgezählt werden kann, braucht noch nicht das lebendige zu sein. Ein Gedanke, den man auf diesem Weg trifft, bleibt gleichgültig wie ein beliebiger Mann in der Kolonne marschierender Soldaten. (T 200/201)

Die »Kolonne marschierender Soldaten« lässt auf die Uniformiertheit dieser Art des Denkens schließen, die sich in der Uniformiertheit der Schüler spiegelt.

Wie starr das prüde, eindimensionale und geistlose System des Instituts ist, zeigt sich am Ende des Romans: »Die Erwachsenenwelt wird nicht erschüttert, sie bleibt, wie sie ist.«[29] Dass Törleß zuletzt dennoch einen Entwicklungsprozess durchlaufen hat, liegt daran, dass er sich dieser Welt immer wieder entzieht: »Wenn Törleß Entwicklung […] erfolgreich ist, dann nur deshalb, weil er sich im relativ autoritätsfreien Raum heimlicher Begegnungen und Erfahrungen selbst bildet«[30] – indem er genau das tut, was er im Sinne der Autoritäten nicht tun soll: Gegen die Empfehlung des Mathematiklehrers liest er Kant, gegen die herrschende Sexualmoral lässt er erotische Begegnungen mit Basini zu, gegen den Willen der Lehrer resümiert er am Ende die Erkenntnisse, die er im Verlauf der Handlung gewonnen hat.[31]

3. »…lächerliche Figuren«.
Törleß’ Lehrer

Wie hat man sich die Repräsentanten dieses Instituts vorzustellen? Wer sind die Lehrer, die »von den Zuständen des menschlichen Innern so wenig zu wissen schienen« (T 199)?

Schlör meint: »Die Lehrer als Erzieher werden als Zuchtmeister dargestellt, die sich der wachsenden Unsicherheit ihrer Zöglinge bewußt sind und versuchen, deren Grübeleien durch strengste Disziplin und härteste Anforderungen zu unterbinden«[32] – und Kroemer kommentiert treffend: »Eine These, die sich an keiner Stelle des Textes belegen läßt – und schlicht falsch ist!«[33] Dennoch erinnert ihn die Verhör-Szene in der Wohnung des Direktors an die Lehrerkarikaturen in Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1891).[34] Bereits in zeitgenössischen Rezensionen des Törleß wurde regelmäßig auf das Schuldrama referiert, allerdings eher um die Unterschiede zwischen beiden Werken herauszuarbeiten.[35] Denn was hat schon der »ehrliche[] Direktor[]« (T 203) im Törleß mit dem hämischen Direktor Sonnenstich gemein? Was die harmonische, freilich etwas dumpfe Eintracht im Lehrerkollegium des Konviktes zu W. mit dem Zank der Lehrer Fliegentod und Zungenschlag?[36] Wer wollte das »gewisse[] gerührte[] Wohlwollen« (T 196), mit dem der flüchtige und »mit Schonung« (T 195) zurück zum Institut gebrachte Törleß von seinen Lehrern empfangen wird, mit der Verachtung vergleichen, die die Lehrer im Frühlings Erwachen Moritz Stiefel noch über dessen Tod hinaus entgegenbringen?[37] Wer die Verhörmethode des Direktors Sonnenstich, dem nur mit »ja« oder »nein« geantwortet werden darf,[38] mit jener der Lehrer Törleß’ in Beziehung setzen, die ihrem Schüler, wenn auch verständnislos und zunehmend ungeduldig, so doch über mehrere Seiten hinwegzuhören? Nein, ›Feinde der Jugend‹, wie sie Frühlings Erwachen und die Schulromane der Jahrhundertwende bevölkern, sind »diese lächerlichen Figuren« (T 200) wahrlich nicht.

Autoritär sind sie nicht als ›Zuchtmeister‹, sondern als Ignoranten. Eine Sprache, die nicht in ihre »Marionettenwelt«[39] passt, unterdrücken sie: »Sie müssen sich deutlicher ausdrücken, mein lieber Törleß«, mahnt der Direktor, als Törleß von dem inneren »Sprung« beim Gedanken an Basini erzählt. Seine Erwiderung, man könne es nicht anders sagen, wischt der Direktor kurzerhand weg (T 197). Von den »gewisse[n] Sachen, die bestimmt sind, gewissermaßen in doppelter Form in unser Leben einzugreifen«, will er erst recht nichts wissen: »Aber um Himmels Willen, Törleß, wohin verirren Sie sich?« (T 198) Wie wenig er bereit ist, sich mit Törleß’ Überlegungen zu befassen, zeigt schließlich der Satz: »Wir können uns doch unmöglich mit Ihnen hier in eine philosophische Auseinandersetzung einlassen.« (T 199) Ausgerechnet der Schuldirektor legt hier eine völlig unverblümte ›Geistfeindschaft‹[40] an den Tag, die nur der Mathematiklehrer mit seiner Pathologisierung Törleß’ noch überbietet.[41]

Immerhin der Religionslehrer nimmt Törleß in Schutz, weil er ihn »von der Wissenschaft weg zu religiösen Gesichtspunkten gezogen« (T 199) wähnt und in ihm »ein empfängliches Gemüt für das feinere, ich möchte sagen göttliche und über uns hinausgehende Wesen der Moral« (T 199) vermutet – doch ihm dämmert, dass diese Einschätzung durchaus nicht erfasst, was Törleß zu sagen hat. Der Religionslehrer ist ratlos: »Er hatte aus den Reden Törleß’ so oft das Wort Seele aufgefangen und hätte sich gerne des jungen Menschen angenommen. Aber er wußte doch nicht recht, wie es gemeint war.« (T 203) Die Lehrer verstehen Törleß also zum einen nicht, weil sie gar nicht bereit sind, sich auf seine Ausführungen einzulassen, zum anderen weil diese den Rahmen ihrer Denkmuster sprengen. Wie verbissen sie an ihnen festhalten, zeigte sich bereits in der Aufforderung des Mathematiklehrers, einfach zu glauben und die Mathematik als »eine ganze Welt für sich« hinzunehmen (T 110). Baur analysiert:

Solches Denken gewinnt seine autoritäre Diktion dadurch, daß es seine Grundlagen für unantastbar, heilig erklärt […] Der Staat und mit ihm Schule und Eltern versagen also auch in der intellektuellen Führung des jungen Menschen; auch auf dem Gebiete der Wissenschaft deckt Musil die entscheidenden Fehler einer erstarrten Gesellschaft auf.[42]

Dabei hat gerade dieses Gebiet für Törleß anfangs einen besonderen Reiz.
Dass er zunächst eine Treppe hinaufsteigen muss (T 107), um zur Wohnung des Mathematiklehrers zu gelangen, deutet dies an: Treppen steigt er immer dann, wenn er sich in Räume aufmacht, die repräsentieren, was jenseits der Alltäglichkeit liegt – die Analogie der Lehrerwohnung als Stätte der Wissenschaft zur Kammer Boženas und zur ›roten Kammer‹ ist nicht zu übersehen.[43] Entsprechend ist auch die Funktion des Mathematiklehrers nicht nur »die des Fachmanns, von dem Törleß eine kundige Antwort erwartet«[44]. Vielmehr soll er Törleß in jenen Teil der Wirklichkeit einführen, der sich dem Alltagsverstand entzieht und für den daher im Unterrichtsbetrieb kein Platz ist. Törleß zweifelt, ob er überhaupt eine zufriedenstellende Auskunft erhalten werde, begehrt aber einen Blick »gewissermaßen hinter den Professor und in dessen tägliches Konkubinat mit der Mathematik hinein« (T 107). Welche Enttäuschung ist dann das Arbeitszimmer, das sich Törleß »mit irgendeinem Ausdrucke für die fürchterlichen Dinge, die darin gedacht wurden« (T 108f), vorgestellt hatte, und das diesen Erwartungen mit dem tintenübertropften Schreibtisch, dem schäbigen Sofa, dem »ovalen Tische mit X-Füßen, deren graziös sein sollende Schnörkel wie eine mißglückte Artigkeit wirkten«, und dem »Geruch nach billigem Knaster« (T 108) beim besten Willen nicht entspricht! Tatsächlich bringt das Treffen in der Lehrerwohnung keine Aufklärung, sondern eine Entzauberung der Wissenschaft.

Noch etwas anderes wird in der Auseinandersetzung mit dem Mathematiklehrer deutlich: Die Lebensferne der Schule. »Wenn dies wirklich die Vorbereitung für das Leben sein soll, wie sie sagen, so muß sich doch auch etwas von dem angedeutet finden, was ich suche« (T 104), denkt Törleß im Mathematikunterricht. Was sich in der Person seines Lehrers angedeutet findet, ist jedoch eher die déformation professionelle[45], die sich, wie Theodor W. Adorno in seinen Tabus über den Lehrberuf darlegt, im »Mikrokosmos Schule«[46] wegen dessen »immanente[r] Tendenz, sich als Sphäre eigenen Lebens und mit eigener Gesetzlichkeit zu etablieren«,[47] herausbildet. Diese déformation professionelle und nicht zuletzt das mit ihr einhergehende Bild des Lehrers als »quasi Kastrierten, wenigstens erotisch Neutralisierten, nicht frei Entwickelten«[48] wird im Törleß anschaulich beschrieben:

Ein gewisser Grad von Ausschweifung galt sogar als männlich, als verwegen, als kühnes Inbesitznehmen vorenthaltener Vergnügungen. Zumal wenn man sich mit der ehrbar verkümmerten Erscheinung der meisten Leherer verglich. Denn dann gewann das Mahnwort der Moral einen lächerlichen Zusammenhang mit schmalen Schultern, mit spitzen Bäuchen auf dünnen Beinen und Augen, die hinter ihren Brillen harmlos wie Schäfchen weideten, als sei das Leben nichts als ein Feld voll Blumen ernster Erbaulichkeit. (T 165)

Ganz so »harmlos« wie hier nahegelegt ist die Lebensferne der Lehrer wohl nicht. Denn die Schüler »meinen dadurch, daß sie erfolgreicher dem Realitätsprinzip sich anpassen, als der Lehrer es kann, der stets Über-Ich-Ideale verkünden und verkörpern muß, das auszugleichen, was sie als ihr eigenes Manko empfinden, daß sie noch keine selbstständigen Subjekte sind.«[49] Was dabei herauskommt, demonstrieren der zynische Realist Reiting, aber auch der fanatische Mystiker Beineberg, wenn er schimpft:

…du kannst jetzt sehen, wie schwach die Ansicht ist, mit der sich die Leute begnügen. Täuschung ist sie, Schwindel ist sie, Schwachköpfigkeit! Blutarmut! Denn ihr Verstand reicht gerade so weit, um ihre wissenschaftliche Erklärung aus dem Kopf herauszudenken, draußen erfriert sie aber, verstehst du? (T 118)

Als Törleß ihm widerspricht, spielt er mit einem unheilvollen »Du wirst schon sehen, du wirst schon sehen…« (T 119) auf den Gegenentwurf zur lebensuntauglichen Verschrobenheit an, den er in seinem Hypnose-Experiment mit Basini entfalten wird.

4. »Sehen Sie dieses Buch, das ist Philosophie…«
Kant im Törleß

Als Törleß nach dem wenig aufschlussreichen Vortrag seines Lehrers über »rein mathematische Denknotwendigkeiten« (T 110) den richtigen Moment zu gehen verpasst, greift der Lehrer zum letzten Mittel: »ein[em] Renommierband Kant. Den nahm der Professor und zeigte ihn Törleß. ›Sehen Sie dieses Buch, das ist Philosophie, es enthält die Bestimmungsstücke unseres Handelns […]‹.« (T 111)

Philosophie als Renommierband, der dazu bestimmt ist, gezeigt aber, wie der Lehrer etwas später betont, nicht geeignet ist, von Törleß gelesen zu werden. Überhaupt scheinen die Erwachsenen im Törleß von anspruchsvoller Lektüre lieber die Finger zu lassen:

Zu Hause standen diese Bücher [von Kant, Schiller und Goethe] in dem Schranke mit den grünen Scheiben in Papas Arbeitszimmer, und Törleß wußte, daß dieser nie geöffnet wurde, außer um ihn einem Besucher zu zeigen. (T 113)

Bücher sind hier nur noch Statussymbol: Reinhard Wittmann führt aus, dass, nachdem Bücher Mitte des 19. Jahrhunderts mehr oder weniger allgemein zugänglich wurden, »der Bildungsaristokratismus des Besitzbürgertums aufwendigere Belege seiner kulturellen Führungsrolle« benötigt, sodass teure Ausgaben entstehen, die als »typographische Nippesfiguren« dienen,[50] als »veräußerlichtes Konsumattribut, dessen Besitz von der geistigen Vereinnahmung zugleich kündet und dispensiert«[51]. So hat denn auch Kant in der »sich mit den Geisteswissenschaften nur von ferne befassenden Gesellschaft« einen »Kurswert« (T 112) und damit Warencharakter. Dass man von der Auseinandersetzung mit seinem Denken »dispensiert« ist, versteht sich da von selbst. Törleß’ Eltern und Lehrer setzen sich dementsprechend auch nicht mit Kant auseinander, sondern benutzen seinen Namen als Rechtfertigung dafür, sich mit dem Gegenstand seiner Philosophie gerade nicht zu befassen. »[U]m es endgültig zu erledigen« (T 111), verweist der Lehrer Törleß auf Kant; und daheim verehrt man ihn nur, weil man sich dank ihm »um gewisse Dinge nicht mehr zu kümmern braucht« (T 113). Diese Haltung steht in klarem Widerspruch zu dem berühmten kantischen Diktum »Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«[52]. Unverkennbar satirisch wird die Darstellung bildungsbürgerlicher Philosophie-Rezeption (bzw. Nicht-Rezeption), wenn es von Seiten des (in diesem Fall auktorialen) Erzählers heißt: »Nun war vor Törleß der Name Kant nie anders als gelegentlich und mit einer Miene ausgesprochen worden, wie der eines unheimlichen Heiligen.« (T 113)

Eine gewinnbringende Auseinandersetzung mit Literatur und Philosophie ist auch am Institut nicht vorgesehen, wo die Schüler mit »sentimentale[n] Novellenbände[n] und witzlose[n] Militärhumoresken« (T 17) abgespeist werden und die Lehrer Philosophie für einen Renommierband halten. Diese geistige Unterversorgung ist der Grund, weshalb Törleß »unter den brutalen und entschlossenen Einfluß seiner Gefährten« (T 113) gerät – hier wird die gesellschaftliche Relevanz geisteswissenschaftlicher Bildung vor Augen geführt: Ohne sie – so legt der Erzähler nahe – ist der Einzelne dem Sog der Gewalt ausgeliefert.

Doch wird mit Kant alles gut? Genau das scheint Törleß zu hoffen: Er will »Klarheit gewinnen« (T 114). »Dem unübersehbaren Anspruch, den er philosophischem Denken zuschreibt«, analysiert Thomas Söder, »kann er mit seinem begrenzten Horizont jedoch nicht gerecht werden.«[53] Es ist höchst fraglich, ob das Problem der »begrenzte Horizont« ist, der Törleß hier ohne Textverweis unterstellt wird, oder ob es nicht vielmehr in den durch die Eltern und den Mathematiklehrer geschürten Erwartungen besteht. Wenn Törleß der Verheißung seines Lehrers glaubt, von Kant »die Bestimmungsstücke unseres Handelns« (T 111) empfangen zu können, so verlangt er eine Anleitung zur Lösung seiner Probleme. Musil hingegen versteht »Lektüre als Erfahrung von Bewusstseinstypen und -formen, nicht als Aneignung positiver Erkenntnisse«.[54] Dass diese sich aus der Lektüre in Bezug auf seine wild wuchernden Erlebnisse und Empfindungen nicht ziehen lassen, macht Törleß sogar stolz. Nachdem ihm Kant als »wutzliges Männlein« (T 125) gemeinsam mit seinem Mathematiklehrer im Traum erschienen ist, empfindet er die Sinnlichkeit, die sich dem Zugriff der von ihnen verkörperten Rationalität entzieht, als etwas Eigenes, das ihn auszeichnet:

Er kam sich unendlich gesichert gegen diese gescheiten Menschen vor, und zum ersten Male fühlte er, daß er in seiner Sinnlichkeit – denn daß es diese sei, wußte er nun schon lange – etwas hatte, das ihm keiner zu nehmen vermochte […]. (T 125)

Die Voraussetzung für diese Reflexion ist jedoch jenes »schiefe[] Verhältnis zur Philosophie« (T 113), das Törleß von seinem Umfeld übernimmt. Äußerlich vermag Törleß sich vom bildungsbürgerlichen Umgang mit Philosophie zu emanzipieren, wenn er eine Reclamausgabe kauft, »ein Buch also, das nicht nur in seinem Preis, sondern auch in seinem Zweck, der ausschließlichen, oft mehrmaligen Lektüre, das Gegenteil zur repräsentativen Edelausgabe des Lehrers darstellt«.[55]

Dennoch bleibt die vom Erzähler in Aussicht gestellte »neue Phase« (T 113) im Verhältnis zur Philosophie aus, weil Törleß die Vorstellung übernimmt, »daß von Kant die Probleme der Philosophie endgültig gelöst seien« (T 112) und entsprechend enttäuscht ist, als er nicht auf Lösungen, sondern auf Klammern und Fußnoten stößt (T 115). Der Gewinn, den Törleß aus der Lektüre zieht, ist damit eher psychologischer als philosophischer Art: Er vermag seine eigene Sinnlichkeit zu bejahen – aber nicht, weil er Kant verstanden hat, sondern weil er ihn gerade nicht verstanden hat und auf der Grundlage des Zugangs zur Philosophie, den sein Umfeld ihm nahelegt, auch gar nicht verstehen kann.

5. Bildungskritik als Gesellschaftskritik

Dass der Törleß kein Schulroman im Sinne einer autobiographisch inspirierten Kritik an institutionellen Erziehungspraktiken ist, heißt nicht, dass er es nicht auf die Schule abgesehen hätte. Zwar gibt es keinen militärischen Drill, keine drakonischen Strafen, keine Lehrer, die die Jugend ihrer Schüler zu zermalmen trachten, obwohl Musils eigene Schulzeit für einen solchen Roman reichlich Material geboten hätte. Doch unschuldig an Törleß’ Verwirrungen ist das Institut mitnichten, verdichtet sich doch in ihm die Unfähigkeit der Gesellschaft das Nicht-Ratioïde anzunehmen, das immer wieder in die Alltagswelt einbricht. Wie Božena aus dem städtischen Leben gedrängt wird, so Basini aus dem Institut: Das Sexuelle wird ausgeschlossen. Wer von der Norm abweicht – sei es durch seine Sinnlichkeit, seine Religiosität oder seine Sprachskepsis – wird des Institutes verwiesen oder hält es dort ohnehin nicht aus, wie der Fürst H. und Törleß. Wie wenig daran zu rütteln ist, zeigt sich spätestens in dem Verhör, dem Törleß unterzogen wird. Seine Darstellung dessen, was in ihm während der verbotenen Handlungen vorging, stößt zunächst auf Wohlwollen, dann auf Ungeduld, beides in Phrasen geschnürt – einen ernsthaften Verständnisversuch unternimmt niemand. Schule repräsentiert hier eine geistige Erstarrung, wie Musil sie später in seinem Tagebuch beschreibt: »Erhaltung der bestehenden Kultur (Schule!) meint: Unterdrückung des Schöpferischen.«[56]

Das Schöpferische entfaltet sich gerade da, wo die Normen der Schule nicht eingehalten werden, etwa in der Verhör-Szene, in der Törleß zum Unbehagen der Lehrer Gedanken formuliert, die so noch nicht geäußert wurden.

Nicht erst in dieser Szene wird die ›Geistfeindschaft‹ der Lehrer aufs Korn genommen, sondern bereits in Törleß’ Begegnung mit seinem Mathematiklehrer satirisch angedeutet. In der »kleinen Professorenwohnung« (T 107) wird jedoch nicht nur die Wissenschaft entzaubert, auch eine Erwartung Törleß’ an die Schule wird enttäuscht: dass sie ihm »Vorbereitung für das Leben« (T 104) bieten werde. Die Lebensferne der Schule erweist sich an anderer Stelle als verhängnisvoll. Um sich von ihr abzusetzen, wenden sich Reiting und Beineberg Auffassungen zu, die sie für lebenstauglicher halten; jene Auffassungen, mit denen sie die brutale Erniedrigung ihres Mitschülers rechtfertigen.

Auch außerhalb des Instituts besteht jedoch wenig Anlass zur Hoffnung auf Bildung in einem emphatischen Sinne: Philosophie wird nicht allein im Büro des Mathematiklehrers, sondern auch in Törleß bürgerlichem Elternhaus als bloßes Prestige missverstanden, mit dem man sich seines gesellschaftlichen Standes vergewissert.

Die Kant-Rezeptionen im Törleß verdeutlichen, dass das Bildungsproblem über das Institut – über Schule – hinausreicht. Pointiert gesagt besteht es in einer Gesellschaft, die sich durch nichts in ihrer Behäbigkeit stören lässt, die den Denker zum Heiligen kürt, um ihre eigene Denkfaulheit zu entschuldigen. Wer sich dieser Stumpfheit nicht anpasst, wer sich mit den Phrasen, in die sie gegossen wird, nicht begnügt, wer Erkenntnis nicht aus »rechtschaffener, langweiliger Ethik« (T 188), sondern individueller Erfahrung gewinnen will, wird missverstanden, abgewiesen, pathologisiert. Bildung scheitert damit nicht an fragwürdigen Erziehungsmethoden, sondern an einer in Oberflächlichkeit erstarrten Gesellschaft.

 

[1] Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Mit einem Kommentar von Oliver Pfohlmann.            Berlin: Suhrkamp 2013. Nachfolgend wird sich auf diese Ausgabe im Fließtext mit der Sigle T und unter        Angabe der Seitennummer bezogen.

[2] Friedrich Paulsen: »Väter von heute.« In: Ders.: Moderne Erziehung und geschlechtliche Sittlichkeit. Berlin: J.G. Reuther & Reichard 1908. S. 3-25. Hier S. 3. Vgl. dazu York-Gothart Mix: Die Schulen der Nation.  Bildungskritik in der Literatur der frühen Moderne. Stuttgart: J. B. Metzler 1995. Hier S. 13.

[3]  Matthias Luserke: Schule erzählt. Literarische Spiegelbilder im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. Hier S. 78.

[4]  Uwe Baur: »Zeit- und Gesellschaftskritik in Robert Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß«. In: Vom Törleß zum Mann ohne Eigenschaften. Grazer Musil-Symposion 1972. Hrsg. von dems. u. Dietmar Goltschnigg. München u. Salzburg: Fink 1973. S. 19-45. Hier S. 19.

[5] Vgl. Karl Corino: »Törleß ignotus. Zu den biographischen Hintergründen von Robert Musils Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törleß.« In: text + kritik 21/22 (1968). S. 61-72. Hier S. 63.

[6]Vgl. ebd. S. 66f.

[7]Vgl. Nanao Hayasaka: »Besuch der Kaserne Generál Zahálky, der ehemaligen Militär-Oberrealschule Mährisch-Weißkirchen zu Hranice.« In: Musil-Forum 23/24 (1997/1998). S. 7-33. Hier S. 21-25.

[8]      Manuskript im Nachlass VI 1, 20. Zitiert nach: Corino: »Törleß ignotus.« S. 61.

[9]      Vgl. z.B. Sergej Rickenbacher: Wissen um Stimmung. Diskurs und Poetik in Robert Musils »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« und »Vereinigungen«. Paderborn: Fink 2015; Filippo Smerilli: »Wider eine Schule ohne Autorität. Von der Bildung der Sprache in Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß«. In: Institutionen der Pädagogik: Studien zur Kultur- und Mediengeschichte ihrer ästhetischen Formierungen. Hrsg. v. Metin Genç u. Christof Hamann. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016. S. 273-295.

[10]    Robert Musil im Heft 33/59 seines Nachlasses, zu finden in: Ders.: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Abt.: Nachlass, Mappen. Hrsg. von Walter Fanta, Klaus Amann u. Karl Corino. Klagenfurt: Robert Musil-Institut der Universität Klagenfurt. DVD-Version 2009. Zitiert nach: Oliver Pfohlmann: »Kommentar«. In: T 208-290. Hier T 229.

[11]    Irene Schlör: Pubertät und Poesie. Das Problem der Erziehung in den literarischen Beispielen von Wedekind, Musil und Siegfried Lenz. Konstanz: Wisslit 1992. S. 73.

[12]    Ebd. S. 68.

[13]    Carl Niekerk: »Foucault, Freud, Musil. Macht und Masochismus in den Verwirrungen des Zöglings Törleß«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 116 (1997). S. 545-566. Hier S. 549f. Elisabeth K. Paefgen bringt es auf den Punkt: »Der Terror spielt sich unter den Jugendlichen ab, ohne unmittelbaren Einfluß der Erziehenden« (Elisabeth K. Paefgen: »Kunst oder Wissenschaft? Deutschunterricht in der Literatur«. In: Wirkendes Wort 47 (1997) H. 1. S. 75-93. Hier S. 78). Filippo Smerilli geht noch einen Schritt weiter, wenn er konstatiert: »Signifikant für die negative Bedeutung der Institution Schule in Die Verwirrungen des Zöglings Törleß ist ihre weitgehende Abwesenheit« (Filippo Smerilli: »Wider eine Schule ohne Autorität.« S. 274).

[14]    Matthias Luserke: Schule erzählt. S. 86; ähnlich argumentiert Baur, demzufolge das eigentlich Beklemmende an den Taten der Peiniger Basinis darin besteht, dass wir in ihnen „im Grunde nichts Neues erkennen“ (Uwe Baur: »Zeit- und Gesellschaftskritik«. S. 39).

[15]    Robert Musil: »Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind«. [März 1921] In: Ders.: Gesammelte Werke. Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978. S.1042-1059.

[16]    Ebd. S. 1059.

[17]    Ebd.

[18]    Ebd.

[19]    Zur Darstellung von primärer und sekundärer Sozialisation im Törleß siehe Roland Kroemer: Ein endloser Knoten? Robert Musils ›Verwirrungen des Zöglings Törleß‹ im Spiegel soziologischer, psychoanalytischer und philosophischer Diskurse. München: Fink 2004. Hier S. 28-33.

[20]    Helmut Arntzen: Musil-Kommentar sämtlicher zu Lebzeiten erschienener Schriften außer dem Roman ›Der Mann ohne Eigenschaften‹. München: Winkler 1980. Hier S. 97.

[21]    Jakob A. Zelyolet: »Zum Törleß von Robert Musil«. In: Musil-Forum 13/14 (1987/1988). S. 22-33. Hier S. 22.

[22]    Ebd. S. 26.

[23]    Roland Kroemer: Ein endloser Knoten? S. 34.

[24]    Vgl. hierzu Uwe Baur: »Zeit- und Gesellschaftskritik«. S. 29f; Irene Schlör: Pubertät und Poesie. S. 74-89.

[25]      Zur Frage, welche Schrift von Kant Törleß eigentlich liest, vgl. Thomas Söder: »Robert Musil und die Begegnung mit dem Denken Kants in Die Verwirrungen des Zöglings Törleß«. In: Musil-Forum 19/20 (1993/1994). S. 31-46. Hier S. 32; Roland Kroemer: Ein endloser Knoten? S. 108.

[26]    Alice Bolterauer: Rahmen und Riss. Robert Musil und die Moderne. Wien: Praesens 1999. Hier S. 61.

[27]    Uwe Baur: »Zeit- und Gesellschaftskritik«. S. 34.

[28]    Elisabeth K. Paefgen: »Kunst oder Wissenschaft?« S. 81.

[29]    Uwe Baur: »Zeit- und Gesellschaftskritik«. S. 44.

[30]    Filippo Smerilli: »Wider eine Schule ohne Autorität.« S. 289.

[31]    Smerilli führt aus, dass das Medium der Entwicklung des Protagonisten die Sprache ist. Durch sie konstituiert er Erfahrungs- und Erkenntnisräume jenseits der institutionellen Ordnung, in denen die erwähnten Normbrüche ihr Bildungspotential zu entfalten vermögen, vgl. ebd. S. 285-293.

[32]    Irene Schlör: Pubertät und Poesie. S. 68.

[33]    Roland Kroemer: Ein endloser Knoten? S. 20.

[34]    Vgl. ebd; York-Gothart Mix: Die Schulen der Nation. S. 133.

[35]    Vgl. Oliver Pfohlmann: »Kommentar«. S. 223f.

[36]    Vgl. Frank Wedekind: Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie. Hrsg. von Hans Wagener. Stuttgart: Reclam 2008. S. 53f.

[37]    Vgl. ebd. S. 57.

[38]    Vgl. ebd. S. 54f.

[39]    Uwe Baur: »Zeit- und Gesellschaftskritik«. S. 29.

[40]    Der Begriff ist Adornos Vortrag Tabus über den Lehrberuf entnommen. »Geistfeindschaft« prägt, Adorno zufolge, manche Schulverwaltungen und setzt sich im Schulbetrieb fort, vgl. Theodor W. Adorno: »Tabus über den Lehrberuf.« In: Ders.: Kritische Modelle. Bd. 2: Stichworte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969. S. 68-84. Hier S. 83.

[41]    Vgl. T 203: »Er war wirklich so eigentümlich, daß ich beinahe glaube, er hat Anlage zum Hysteriker«.

[42]    Uwe Baur: »Zeit- und Gesellschaftskritik«. S. 38f.

[43]    Vgl. Matthias Luserke: Schule erzählt. S. 86.

[44]    Hellmut Arntzen: Musil-Kommentar. S. 102.

[45]    Theodor W. Adorno: »Tabus über den Lehrberuf.« S. 77.

[46]    Ebd. S. 78.

[47]    Ebd. S. 82.

[48]    Ebd. S. 77.

[49]    Ebd. S. 78.

[50]    Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick. München: C. H. Beck 1991. S. 249.

[51]    Ebd. S. 250.

[52] Immanuel Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« [1784] In: Was ist Aufklärung? Kant, Erhard, Hamann, Herder, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wieland. Hrsg. von Ehrhard Bahr. Stuttgart: Reclam 1992. S. 9

[53] Thomas Söder: Begegnung mit dem Denken Kants. S. 31.

[54] Hellmut Arntzen: Musil-Kommentar. S. 21.

[55] Roland Kroemer: Es ist ein endloser Knoten. S. 109.

[56] Robert Musil: Tagebuch, Heft 9 [1919/20]. In: Ders.: Tagebücher. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1983. Hier S. 428.