Theorie jenseits des Menschen?
In Zeiten ferngesteuerter Drohnenkriege, Klonschafen und des menschlich verursachten Klimawandels stellt sich die Frage nach ‚dem‘ Menschen auf eine neue Art und Weise. Rosi Braidotti, die am Centre for the Humanities der Universität Utrecht lehrt, hat ein Buch vorgelegt, das die zunehmend uneindeutiger werdenden Grenzen des ‚Menschlichen‘ scharfsinnig analysiert und gleichzeitig als eine vielversprechende Programmschrift für eine neue posthumanistische Perspektive gelten kann. Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen ist das erste Buch von Braidotti, das ins Deutsche übersetzt wurde. Angesichts ihrer besonderen Fortführung feministischer Subjekttheorie, die in der internationalen Debatte eine einflussreiche Stimme darstellt, ist eine Rezeption in der deutschsprachigen Forschung lange überfällig. Das mag unter anderem daran liegen, dass Braidotti sich offensiv in eine Tradition stellt, die es auf dieser Seite des Rheins lange Zeit schwer hatte – die des französischen Poststrukturalismus.
Braidotti betont, dass die Theorien von Michel Foucault, Gilles Deleuze oder Luce Irigaray sie entschieden geprägt haben. Dieser poststrukturalistische und feministische ‚Antihumanismus‘, wie Braidotti ihn nennt, eröffnete eine Alternative zum humanistischen Denken etwa von Sartre und de Beauvoir. Während Marxismus und humanistischer Feminismus sich um ein Erkenntnissubjekt zentrieren, das mit normativen und ausschließenden Eigenschaften versehen ist, und damit binäre Unterscheidungen reproduzieren, baut Braidotti ihre Überlegungen besonders auf der ‚nomadischen‘ Theorie von Gilles Deleuze und Felix Guattari mit ihrer Betonung von Prozess und Relationalität auf.
Vor dieser Folie erscheint es denn auch konsequent, wenn sie eine genuin ambi valente Position zur ‚posthumanen Gegenwart‘ einnimmt und ihre eigene Position durch eine doppelte Abgrenzung schärft: Einerseits nimmt Braidotti gegen posthumanistische Technik- und Fortschrittseuphorie Stellung, die sich aus ihrer Sicht zu schnell mit neoliberaler Individualisierung verbindet. Sie macht darauf aufmerksam, wie die zunehmende Ökonomisierung eben nicht mit einer zunehmenden Gleichberechtigung aller ‚Marktakteure‘ einhergeht und situiert diese neoliberale Vermarktung des ‚Lebens an sich‘ in einem Geflecht aus geschlechtlichen, ethnischen und soziogeographischen Differenzen.
Andererseits weist sie die neohumanistische Verteidigung ‚genuin menschlicher‘ Werte entschieden zurück. Denn diejenigen, die im Namen dieser Position sprechen, übernehmen damit – ob sie es wollen oder nicht – auch die grundlegende Perspektivierung des Humanismus: die eines weißen, männlichen, sich selbst transparenten Subjekts. Die Einsichten feministischer und postkolonialer Theorie sowie die Arbeiten der vielfältigen Studienfelder, die sich mit den ‚Anderen‘ dieses Subjekts auseinandersetzen (disability studies, subaltern studies etc.), bringen Braidotti dazu, dieser Vorstellung ‚des‘ Menschen eine entschiedene Absage zu erteilen.
Im Anschluss an Deleuze/ Guattari und Spinoza schlägt sie stattdessen eine ‚prozessuale Ontologie‘ und ‚affirmative Politik‘ vor. In anderen Worten bedeutet das den Versuch, eine Form von Selbstverständnis – als Individuum, Gruppe oder Gemeinschaft – zu denken, die von den historischen Subjektivierungsprozessen ausgeht. Damit wird eine essentialistische Begründung des Seins durch sich selbst vermieden und dennoch ‚verleiblichte‘ und ‚eingebettete‘ Subjektivität nicht als beliebiges Zeichenkonstrukt verstanden. Dieses Sein-in-Differenz stützt sich grundlegend auf experimentelle Kreativität und die Antizipation einer offenen Zukunft. Anstelle einer negativen Verbundenheit, die auf gemeinsamer Angst und Verletzbarkeit beruht, legt Braidotti den Schwerpunkt auf die Kraft des nicht-nur-menschlichen Lebens, das über Artengrenzen hinweg eine gemeinsame Zugehörigkeit bedeutet und dabei die Heterogenität der jeweiligen Verortung nicht einebnet. Sie nimmt hier zwar nicht ausdrücklich Bezug, lässt aber durchblicken, dass sie sich hier auch von Judith Butlers jüngeren Arbeiten zur Verletzbarkeit abgrenzen möchte.
Braidottis theoretische Bewegung, die über Sozialkonstruktivismus und ein schlichtes Abbildungsverhältnis von Natur und Kultur hinausgehen will, ist nicht ohne Schwierigkeiten. Innerhalb des Textes schlägt sich das hauptsächlich in jargonhaften Wiederholungen nieder – und im Ausklammern von konkreten Fragen nach Herrschaftsverhältnissen und der konkreten Bedeutung sozialer Praktiken. Wer sind die Subjekte, die mit ihrer Seinsform experimentieren können? Ähnlich mutet ihr Vorschlag für eine amor fati an, wenn man etwa an Situationen denkt, in denen Subjekte verzweifelt um ihr Leben kämpfen. Braidottis Aufruf zur Konzeption von Leben und Tod als Kontinuum bekommt dann einen etwas faden Beigeschmack.
Trotz dieser Einschränkungen sind Braidottis Überlegungen ein überaus wertvoller Beitrag zur Debatte um Posthumanismus und Anthropozän. Ihre spinozistische Subjektphilosophie stellt zu Recht lokale Zugehörigkeit und Leiblichkeit in den Mittelpunkt und antwortet so auf einen Mangel sozialkonstruktivistischer Zeichentheorien. Dieser ‚Materie-Realismus‘ (engl. matter-realism) ist anschlussfähig an die Diskussionen zum sogenannten Neuen Realismus, erweitert diese aber um eine feministische Perspektive und bringt so Fragen nach dem Politischen ins Zentrum. Damit legt Braidotti ein Programm für posthumanistische Theorie ‚auf der Höhe der Zeit‘ vor. (Matthias Lüthjohann)
Rosi Braidotti: Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen. Campus 2014. 215 Seiten. 24,90€.
Schamlose Gesellschaft
Menschen schämen sich nicht (mehr), nackt baden zu gehen – dank der 68er und der mit aller Vehemenz vollzogenen „Schamvernichtungskampagne“. Heute könnte es eher peinlich sein, nicht den ideal rasierten Körper oder die perfekt sitzende Hose zu präsentieren. Diesem Wahrnehmungswandel widmet Ulrich Greiner sein neuestes Werk: Dem Übergang von einer Schamkultur zu einer Kultur der Peinlichkeit. Schamverlust ist eine leicht lesbare Studie zum Phänomen des Wandels der Gefühlskultur in Soziologie, Psychoanalyse, Literatur, Malerei und PopKultur. Dabei kreist der Leitgedanke stets darum, dass Scham kein natürliches, sondern ein im Verlaufe der Geschichte anerzogenes, auferlegtes Gefühl sei, also ein Produkt der Kultur. Greiner definiert Scham als das Empfinden von Schuld aufgrund einer Verletzung
der Selbstachtung: Ein Gefühl, das sich der Selbstkontrolle des Einzelnen entzieht und eruptiv auftrete. In der Empfindung der Peinlichkeit hingegen sieht Greiner den bloßen Verstoß gegen eine Verhaltensregel, bei dem man beobachtet wird. Der soziale Wandel dieser Emotionen sei zentral für die Form des heutigen Zusammenlebens.
Historisch hervorgerufen durch das Erkennen der Scham entstand Greiner zu folge ein Gefühl der Unfreiheit. Da sich niemand schämen wolle, versuchte man, sich von den Autoritäten lösen, die für die Verinnerlichung verantwortlich gewesen seien. Denn diese Autoritäten hätten genau das zur Schau getragen, wofür man sich eigentlich schämen müsste. Greiner betont jedoch, dass ein entgegengesetztes, schamloses Leben nicht automatisch ein freies Leben ist, da es eigene Regeln mit sich bringe. Dies unterstreicht er anhand der entstandenen Kultur der Peinlichkeit.
Ulrich Greiner war zehn Jahre lang Feuilletonchef Der ‚Zeit‘ und ist ihr bis heute als Autor erhalten geblieben. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Er ist Mitglied des PEN sowie Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg. Greiner bezeichnet Schamverlust als einen Versuch, die gegenwärtige Gefühlskultur historisch zu erläutern. Das Werk ist insofern sehr gelungen, als das es mit großer Leichtigkeit durch verschiedene wissenschaftliche Gebiete führt, die verwendeten Thesen sprachlich konkret bündelt und dadurch eine gewinnbringende Brücke zwischen den unterschiedlichen Themenfeldern schlägt. Zudem erlauben die Fokuserweiterungen dem Autor, seine Lesarten der Werke oder sozialer Praktiken in den jeweiligen Zeitumständen zu fundieren. In dieser weitreichenden Wissensvernetzung erscheint es jedoch schade, dass der Klappentext das Werk einem wissenschaftlichen Kontext entheben will, wenn doch Greiner in seiner Vorgehensweise explizit auf diesen zurückgreift. Vielleicht liegt es daran, dass Greiner zwar viele treffende und prägnante, aber darunter nicht allzu viele neue Erkenntnisse aufzeigt. Dadurch, dass er diese auf moderne Geschehnisse oder Trends anwendet, wird es wiederum möglich, die Leserschaft auf seinen Referenzkorpus, der Klassiker und grundlegende Theorien nutzt, zu lenken und das Interesse daran zu wecken.
Greiners Schamverlust ist ein inspirierendes Buch. Prägnant, klar und deutlich geschrieben, erlaubt es dem Leser, den unterschiedlichen Konzeptionen und Beschreibungen von Scham und Peinlichkeit zu folgen. Dabei verschafft er einen einführenden Überblick über Soziologie und Kunst zu dem Thema. Mittels weiterführenden Querverweisen lädt er außerdem dazu ein, sich tiefgehender mit dem Thema zu befassen. Auch erlaubt der Bezug zur heutigen Zeit einen Ansatzpunkt für LeserInnen, die „schamlose Gesellschaft“ historisch zu kontextualisieren. (Claire Schmartz)
Ulrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur. Rowohlt 2014. 352 Seiten. 22,95€.
Das kommunistische Silicon Valley
Seinen Ursprung hat der #Accelerationism – man versteht sich als Bewegung – in dem ‚Manifesto for an Accelerationist Politics‘ auf dem Blog criticallegalthinking.com von Nick Srnicek und Alex Williams. Er erhebt den Anspruch, die konkrete und planvoll vollzogene systematische Forschung zur Überführung der Menschheit in eine post-kapitalistische Gesellschaft zu sein. Bewerkstelligen will er dies durch die Beschleunigung ausgesuchter Parameter des kapitalistischen Systems. Damit richte er sich gegen den linken Mainstream, der den Turbokapitalismus bezwingen will, indem er ihm Steine ins Getriebe wirft.
Der #Akzelerationismus versteht sich als politische Häresie, indem er es zu seinem zentrales Anliegen macht, der Technologie im Kampf um eine post-kapitalistische Gesellschaft zu ihrem Recht zu verhelfen. Anders als vom linken Mainstream angenommen, liege in der Technologie nicht die Wurzel allen Übels, sondern die ultimative Chance zur Überwindung des Kapitalismus.
Mit wehenden Fahnen unternehmen die beiden Herausgeber des Sammelbandes #Akzeleration#2 (#1 erschien 2013) Armen Avanessian & Robin Mackay eine historisch fundierte Untermauerung dieser Umdeutung. Im selben Schreibfluss, mit dem sie theoretische Ansätze von Marx bis hin zu Deleuze/ Guattari, Baudrillard und Lyotard retrospektiv dem #Akzelerationismus zuordnen, verorten sie in denselben Ansätzen die gescheiterte politische Praxis des bisherigen Klassenkampfs. Daraus leite sich klar ab, der politische Kampf beginne mit der Befreiung der Technologie aus ihrem Wertschöpfungszusammenhang. Mit dem Hashtag unterstreicht die Bewegung nicht nur ihre Affinität zur (digitalen) Technologie, sondern vollzieht bereits en passant, wovon sie spricht. Sie macht sich bereits vorhandene Infrastrukturen zu nutzen, überschreibt ihre Nutzungsparameter und beschleunigt so die Suche assoziierter Beiträge.
Konkreter als beim pamphletartigen Text der Herausgeber wird es bei Nick Srnicek. Dieser beschreibt die Auswirkung der Technologie der Automatisierung auf die Möglichkeiten individueller Freiheit. Wie bei den anderen AutorInnen ist der Angriffspunkt am Kapitalismus, dass dieser die Potenziale der von ihm hervorgebrachten Technologien selbst ausbremse. Die Weiterentwicklung der Automatisierung von Produktionsprozessen werde zu Gunsten des Erhalts der Lohnarbeit behindert. Schließlich würde dies einen Großteil der Bevölkerung in die Arbeitslosigkeit treiben. Aber genau letzteres ist erwünscht. Ein Umdenken in Bezug auf Lohnarbeit wäre notwendig und als optimaler Endpunkt stünde, Völker hört‘s, nicht die Übernahme der Produktionsmittel, sondern die Abschaffung der Lohnarbeit als Notwendigkeit zur Warenproduktion. Hier schließt sich der Kreis zur Freiheit. Ohne Notwendigkeit zur Warenproduktion mit ihren monotonen verblödenden Arbeitsprozessen verfügten die Menschen über die Möglichkeit, sich eigene Prämissen zu setzen, nach denen sie ihr Leben gestalten wollen. Ein Hoch auf den Individualismus.
Natürlich ist dieser positive Ausgang ein Wunschtraum. Alex Williams setzt sich deshalb mit den Techniken des Kognitiven Kartierens auseinander, die solche Zukunftsvisionen präziser werden ließen. Zugleich setzt er die Bewegung so einerseits krass von jedem spontanen Aktionismus wie occupy wall street ab und andererseits vom blinden, emphatischen Vertrauen kleiner StartUps in die Wirkungsmacht von Technologie. Historisch, so die Vorarbeit Williams‘, scheiterten die linken Bewegungen an ihrem einseitigen und unkonkreten Kapitalismusbild. In vielen Bereichen gäbe es keine ausführlichen und unabhängigen Studien zum Funktionieren des Kapitalismus und seiner Wertschöpfungsprozesse. Genaue Analysen sollen dies beschreibbar und fassbar machen. Die entstandenen Karten des Kapitalismus sollen AktivistInnen helfen, dem Kapitalismus bei der Planung der nächsten Schritte zuvorzukommen und ihn mit der Entfesselung seiner eigenen Technologien zu bekämpfen.
Das Erstellen von Strategien und Fahrplänen leckt nur an einer Stelle, wenn es nach Ray Brassier geht. Alles Denken einer post-kapitalistischen Gesellschaft und die Fahrpläne, sie zu erzwingen, entspringe einem Dagegen, das sich nur ex negativo zum Kapitalismus verhält. Wie eine post-kapitalistische Gesellschaft beschaffen sei, so die logisch-philosophische Ableitung Brassiers, lasse sich, ausgehend vom heutigen Erkenntnishorizont, nicht denken. Insofern steuere jeder Fahrplan auf ein unbekanntes Ziel. Philosophisch lasse sich dies nur durch ein prozessuales Denken auffangen, das immer wieder neu auf die vom Kapitalismus oder von AktivistInnen geschaffenen Fakten reagiert. Williams nennt das „Antizipative Politik des Kartierens“.
Schließlich führt Luciana Parisi aus, wie die Technologie des Computanial Design Thinking das Problem durch Algorithmen zu lösen vermag. Anstatt, wie so oft durchgeführt, Algorithmen dafür zu verwenden, wahre Sätze zu prüfen – das klassische top-down der deduktiven Vernunft im digitalen Zeitalter –, werden aus Datensätzen Simulationen bzw. mögliche Zukunftsszenarien, erzeugt. Man sieht die digitale Karte förmlich vor sich. Anstelle wahrer Sätze erhalte man durch diese induktive Methode ein Set von Möglichkeiten. Diese sind allerdings anfällig für jede Veränderung der Faktenlage, also im höchsten Maße spekulativ. In Ermangelung theoretisch denkbarer Alternativen, wie Brassier zeigt, erscheint diese spekulative Vernunft allerdings vernünftiger als jedes schöngeistige Gelaber auf einer Demo von Globalisierungsgegnern.
#Akzeleration#2 ist die erste Text-Exegese des akzelerationistischen Manifests. Dem Begriffsdepot des Marxismus und des Klassenkampfs fügen die AutorInnen ihre Forschung zur Technologie oder konkreten Techniken bei und nehmen ihre Wirkungsmacht unter die Lupe. Die Überlegungen zur Überwindung des Kapitalismus bleiben allerdings ein Flickwerk spezieller und sehr theoretischer Ansätze. Die große Kartierung muss eben noch vorgenommen werden. So entsteht der Eindruck, dass hier ein interdisziplinärer Forschungsantrag stückweise formuliert und generiert werden soll. Es zeigt sich aber, dass die von Srnicek und Williams vorgeschlagenen Prämissen hin zu einer post-kapitalistischen Gesellschaft und die bisherige Forschung der Exegeten wunderbar ineinandergreifen und sich gegenseitig befruchten. Ein guter Lesestoff für alle, die sich im klassischen linken Lager nicht so recht aufgehoben fühlen und eine ordentliche Beschleunigung ihrer eigenen Gedanken zum Thema post-kapitalistische Gesellschaft benötigen. (Martin Lhotzky)
#Akzeleration#2. Hrsg. von Armen Avanessian/ Robin Mackay. Merve 2014. 120 Seiten. 14,00€.