Simon Haasis: Bach im Gewande des fortgeschrittensten Komponierens. Betrachtungen zur Ästhetik der Ricercar-Bearbeitung Anton Weberns1.

Eine These – Bach im Gewande des fortschrittlichsten Komponierens

Im Lichte dieser Möglichkeit2 gewinnt die vielberufene klangliche ‚Abstraktheit‘ des Musikalischen Opfers und der Kunst der Fuge als der Werke, in denen die Wahl der Instrumente offenbleibt, einen neuen Horizont. Denkbar, daß in ihnen der Widerspruch von Musik und Klangmaterial […] damals schon durchschlug. Dann hätte Bach den Klang ausgespart und seine reifsten Instrumentalwerke wartend auf den Klang, der ihnen selber gliche, hinterlassen. Bei diesen Stücken kann es am letzten sein Bewenden damit haben, daß kompositionsfremde Philologen die Stimmen ausschreiben und durchlaufenden Instrumenten oder Gruppen anvertrauen. Gefordert wäre, sie umzudenken auf ein Orchester, das weder schmückt noch spart, sondern als Moment integraler Komposition fungiert. […] Gerechtigkeit widerfährt Bach nicht durch die Usurpation stilkundiger Sachverständiger, sondern einzig vom fortgeschrittensten Stande des Komponierens her, der mit dem Stand des sich entfaltenden Werks von Bach konvergiert. Die wenigen Instrumentationen, die Schönberg und Anton von Webern beistellten, insbesondere die der großen Tripelfuge in Es-Dur und der sechsstimmigen Ricercata, in denen jeder Zug der Komposition in ein farbliches Korrelat übersetzt, die Oberfläche des Liniengeflechts in die kleinsten Motivzusammenhänge aufgelöst und diese dann durch die konstruktive Gesamtdisposition des Orchesters wieder vereint sind – diese Instrumentationen sind Modelle einer Stellung des Bewußtseins zu Bach, die dem Stande von dessen Wahrheit entspräche.Vielleicht ist der überlieferte Bach in der Tat uninterpretierbar geworden. Dann fällt sein Erbe dem Komponieren zu, das ihm die Treue hält, indem es sie bricht, und seinen Gehalt beim Namen ruft, indem es ihn aus sich heraus nochmals erzeugt.3

Es4 ist nicht im Geringsten überraschend, dass Theodor W. Adornos Aufsatz Bach gegen seine Liebhaber verteidigt, aus welchem hier die Schlussthese wiedergegeben ist, auf Widerstand, ja gar polemische Angriffe aus den Reihen der musikwissenschaftlichen Bachforschung seiner Zeit gestoßen ist.5 Adorno vertritt doch die skandalöse These, dass es nicht der richtige Weg zur Erschließung der Bachschen Musik sei, diese so historisch getreu wie möglich aufzuführen, sondern dass es nur dem fortschrittlichsten Komponieren (aus seiner Sicht darf dies selbstverständlich nur die Wiener Schule sein) vorbehalten sei, den wahren Bach der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, d.h. diesen aus dem Blickwinkel der Geistesgeschichte zu durchleuchten. Selbst bis zum heutigen Tage darf diese Auseinandersetzung nicht als beendet angesehen werden, obschon die These dieses Essays als überwunden gelten darf. Eines ist auf alle Fälle sicher: Die Wogen, die zeitweise aufs Heftigste zwischen einer historisierenden, d.h. einer pseudo-historischen Aufführungs- und einer von romantisierenden Tendenzen beeinflussten Bearbeitungspraxis tobten, haben sich geglättet.

Umso erstaunlicher ist es, welche beiden Werke hier Adorno in einen Topf wirft, um sie der historisierenden musikalischen Auseinandersetzung mit Bach entgegenzuhalten. Es handelt sich in beiden Fällen um Schöpfungen zweier Komponisten aus dem Kreise der Wiener Schule, die sich als Vertreter neuer Musik mit den ‚Alten Klängen‘ in bearbeitender Form auseinandersetzten. Dies scheint auf den ersten Blick aber das Einzige zu sein, was diese beiden Versuche miteinander verbindet. Alleine schon das Hören dieser Bearbeitungen legt vor dem Blick in die Partitur bereits den Gedanken nahe, dass hier zwei gänzlich verschiedene Wege – im einen Fall nämlich findet der Hörer die Fassung eines Orgelwerkes für großes spätromantisches Orchester vor, während er im anderen der kammermusikalischen Orchestrierung eines besetzungsmäßig nicht festgelegten Musikstückes gegenüber steht – beschritten werden. Ein genauerer Blick auf die Rezeptionsgeschichte und die ideologische Ausrichtung der Zweiten Wiener Schule zeigt aber, dass beide Bearbeitungen denselben Ideen und Grundgedanken nachhängen und den damit verbundenen Problemen lediglich auf verschiedenen Lösungswegen zu begegnen versuchen.

Inhalt und Ziel dieser Arbeit soll es in ihrem beschränkten Umfang sein, mit hauptsächlicher Schwerpunktlegung auf die Ricercar-Bearbeitung Anton Weberns diese Ästhetik der Bearbeitung, wie sie von diesen beiden Vertretern der Wiener Schule entwickelt worden ist, näher zu betrachten und dabei vor allem auch die Frage zu stellen, welchen Stellenwert eine solche Transkriptionsweise im musikhistorischen Kontext als ‚Alte Klänge‘ in neuer Musik einnimmt.

Entwickelnde Variation – Johann Sebastian Bach und die Wiener Schule Einleitung – Zur Bach-Rezeption des 19. Jahrhunderts

Bevor das Verhältnis der Wiener Schule zum ästhetisch-historischen Konstrukt „Johann Sebastian Bach“6 genauer untersucht werden kann, ist es zunächst erforderlich, einen Schritt zurück zu gehen und die Rezeption jenes Phänomens im vorhergegangenen neunzehnten Jahrhundert als Nährboden der folgenden Entwicklung etwas näher zu untersuchen. Schließlich und endlich beruft sich Arnold Schönberg selbst – seine ‚Schüler‘, vor allem der hier thematisierte Anton Webern, beschreiten nicht zuletzt auch diese Bahn – immer wieder auf die kompositorischen Fortschritte, wie auch auf die ästhetischen, philosophischen und (musik-)historischen Wege und Umwege, die dieses Zentenar mit sich gebracht hat.

Ohne Zweifel kommt dem neunzehnten Jahrhundert, verglichen mit den vorhergegangenen historischen Zeitabschnitten, eine äußerst eigentümliche Bedeutung darin zu, wie es mit der musikalischen Produktion der Vergangenheit umgeht. In der ästhetischen Beurteilung von Musik wird dies mit Beginn des Jahrhunderts mehr als offensichtlich: war immer die aktuelle Kunstmusikproduktion, im Bedarfsfalle auch die der ‚Vätergeneration‘, die zum Zeitpunkt hochwertigste, so änderte sich dies mit der Herausbildung dessen, was wir heute als Werkkanon bezeichnen würden. Mit einem Mal ist das ‚Zeitgenössische‘ nicht mehr der Höhepunkt einer Entwicklung, als welcher es alles vorher Dagewesene überstrahlt, sondern es muss es sich gefallen lassen, in eine Kompositions- und Ideengeschichte eingeordnet zu werden. Bereits mit seinem Erscheinen steht es in stetiger Wechselwirkung mit jener kleinen Gruppe von Werken, an der es sich nunmehr zu messen hat. Die Bedeutung der ‚Alten Musik‘ nimmt dabei exponentiell mit den verrinnenden Jahrzehnten zu. Woran dies festzumachen ist, lässt sich mit den Stichworten ‚Wiederbelebung und Erschließung der »Alten Musik«‘, ‚Historismus‘ und ‚Etablierung der Geisteswissenschaften als (universitäre) Disziplinen‘ umfahren. Ohne diese Aspekte, welche mit fließenden Grenzen untereinander vernetzt sind, nun einzeln ausarbeiten zu wollen, lässt sich das oben Gesagte anhand des Exempels Johann Sebastian Bachs auf eindrückliche Weise demonstrieren.

Es gehört zu den vielgeliebten Märchen der populären Bach-Biografik, dass die Persönlichkeit und das Schaffen des Komponisten mit dessen Tode im Jahre 1750 in Vergessenheit geraten seien. Wie Friedrich Blume in seinem umfangreichen, durchaus nicht mit Vorsicht zu genießenden Essay zum Wandel des Bachbildes seit dem Ableben des Komponisten bis in die 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts feststellt7, kann diese Auffassung freilich einer historischen Kritik nicht standhalten. Erstens konnte der größte Teil von Bachs Schaffen gar nicht vergessen werden, da er nicht gewusst und gekannt wurde, und zweitens fiel das wenige Bekannte niemals gänzlich der Vergessenheit anheim. Bereits zu Lebzeiten war der besagte Tonsetzer für die Vertreter eines neuen musikalischen Stils inkommensurabel geworden. Daher verwundert es wenige, wenn Johann Adolf Scheibe im Jahre 1737 im sechsten Stück seines Critischen Musicus dem Komponisten vorhält – obwohl sein Name nie genannt wird, muss einem Zeitgenossen unmissverständlich klar gewesen sein, gegen wen diese Kritik artikuliert worden war –, seine „beschwerliche Arbeit“ und „ausnehmende Mühe“ streite wider die Vernunft.8 Damit war das Urteil der ‚Nachfolger‘ über den ‚Vorgänger‘ gesprochen: Für die Produzenten neuer Musik nicht mehr von Interesse, verkam sein Schaffen entweder zum Gegenstand der Überlieferung aus Tradition (so beispielsweise in Leipzig) oder zur geistreichen Unterhaltung an den Künsten des Kontrapunkts als „gelehrte Musik“, wie sie im Kreise des Baron van Swieten in Wien (u.a. unter Anwesenheit W. A. Mozarts und mit nicht geringen Folgen für dessen eigene Kompositionen) gepflegt wurde.9 Von diesem Geiste durchzogen sind auch die ersten Editionen, welche den Versuch unternehmen, das Werk Bachs wieder ins zeitgenössische Gedächtnis zurückzuholen, oder, besser noch, dem Geschmack der Zeit anzupassen, wie etwa jene Carl Czernys für den Verlag Peters.10

Vor diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund ist festzustellen, dass damit für das neunzehnte Jahrhundert Bachs Werk immer noch nicht in seiner Originalgestalt kommensurabel geworden war. Es bedurfte weiterhin überhaupt der Bearbeitung in ihren verschiedensten Facetten, oftmals mit der Zielsetzung, den Werken das beizugeben, was ihnen der Komponist aufgrund der eingeschränkten Mittel seiner Zeit nicht mit auf den Weg hätte geben können. Interessant ist dabei zu beobachten, dass verschiedene Aspekte im Schaffen Bachs, je nach weltanschaulicher Haltung seiner Bearbeiter, unterschiedlich akzentuiert worden sind. Diese Bearbeitungsprozesse lassen sich dabei in vier Epochen untergliedern, welche sich je nach Herangehensweise und Ergebnis voneinander abheben – die Grenzen zwischen diesen Zeitabschnitten sind durchaus fließend, so kann es auch dazu kommen, dass zwei Haltungen lange Zeit gleichberechtigt nebeneinander bestehen, so etwa die hier bezeichneten Epochen drei und vier im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert:

1. Die Epoche der eigenen Bearbeitungen Bachs
2. die aufklärerisch-fortschrittliche Epoche
3. die romantisch-historisierende Epoche und
4. die philologische Epoche11

War Bach in seinen eigenen Bearbeitungen noch durchaus darum bemüht, ein Werk aufführungspraktisch oder künstlerisch sinnvoll umzugestalten, so versuchte die aufklärerisch-fortschrittlich geprägte Epoche das Bachsche Werk als Relikt in bearbeiteter Form der zeitgenössischen Musik gegenüberzustellen. Die romantisch-historisierende Epoche nun, als deren Höhepunkt wohl die Versuche Ferruccio Busonis, Max Regers und Gustav Mahlers, vielleicht auch noch Arnold Schönbergs angesehen werden dürfen, hatte es ins Auge gefasst, mit meist guter Absicht, das Schaffen des wiederbelebten Tonsetzers in das lebendige, von romantischen Klangfarbenvorstellungen geprägte ästhetische Bewusstsein und die daraus erwachsenen Hörerwartungen zu überführen, während sich die philologische wieder dem ‚Urtext‘ (zu ihrem Beginn noch mit sklavischer Genauigkeit) zuwandte.

Um sich aber nun sklavisch an diesen ‚Urtext‘ halten zu können, musste dieser zunächst einmal überhaupt vorhanden sein. Dieser fundamentale Schritt einer nach festgesetzten Editionskriterien verfahrenden Gesamtausgabe kann als eine der großen Leistungen der Bach-Renaissance des neunzehnten Jahrhunderts gewertet werden und sieht sich in der von der Bach-Gesellschaft begründeten Ausgabe in 46 Bänden, welche genau 150 Jahre nach Bachs Tod im Jahre 1900 ihren Abschluss fand, vollendet.12 Das Vorliegen dieser Ausgabe treibt nun aber den Keil zwischen jene Anhänger einer romantisch-historischen Sichtweise auf das Schaffen Bachs und die einer philologischen, welcher unter anderem im Streit um Adornos hier bereits zitierte Schrift einen Kulminationspunkt finden wird, und beeinflusst die nicht im Geringsten wertfreie Beurteilung der ‚Bearbeitungsgeschichte‘ der Werke des Barockkomponisten bis heute maßgeblich.

Exposition – das ‚Vorbild‘ Ferruccio Busoni

So antipodisch sich Ferruccio Busoni und Max Reger, jene großen Bearbeiter der Bachschen Musik am Umbruch zur Moderne, zunächst als Komponisten gegenüber zu stehen scheinen – der eine gilt als Verkünder einer neuen Ästhetik der Tonkunst, welche er aber nur theoretisch entwirft, um sie niemals ins Komponieren in actu zu übernehmen, der andere als der große Kontrapunktiker in einer Welt, die sich der Tonalität langsam zu entfremden beginnt –, so sehr erkennen sie die fundamentale Bedeutung, die der große Praedezessor für das kompositorische Schaffen ihrer Zeit zu haben scheint. In klaren Worten, aus welchen durchaus auch eine gewisse Vergangenheitskritik spricht, äußert sich Max Reger im Rahmen einer 1905 durchgeführten Umfrage der Zeitschrift Die Musik neben Persönlichkeiten wie Hugo Riemann, Max Schillings und Hans Pfitzner zum großen Vorgänger Johann Sebastian Bach. Für ihn stellt Bach den „Anfang und [das] Ende aller Musik“ dar, auf ihm ruhe und fuße jeder wahre Fortschritt13:

Was Seb.[astian] Bach für unsere Zeit bedeutet – pardon – sollte? Ein kräftigliches, nie versiegendes Heilmittel nicht nur für alle jene Komponisten und Musiker, die an »missverstandenem Wagner« erkrankt sind, sondern für alle »Zeitgenossen«, die an Rückenmarksschwindsucht jeder Art leiden. »Bachisch« sein heisst: urgermanisch, unbeugsam sein. Dass Bach so lange verkannt sein konnte, ist die größte Blamage für die »kritischen Weisheiten« des 18. und 19. Jahrhunderts.14

In ähnlicher Weise, nur unter anderen ideologischen Vorzeichen, äußert sich auch Ferruccio Busoni zu Johann Sebastian Bach als einer Wurzel aller musikalischen Entwicklung. Im Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1906) wird er neben Beethoven der „Ur-Musik“ am verwandtesten prononciert15. Mit dieser Setzung Busonis schließt sich nun wieder der Kreis zum geistesgeschichtlichen Hintergrund, mit welchem die Wiener Schule an die Musik Johann Sebastian Bachs herantritt. Wie Eintragungen in Arnold Schönbergs Exemplar des Entwurf zu einer neuen Ästhetik der Tonkunst zeigen16, hatte sich dieser intensiv und durchaus kritisch mit Busonis Überlegungen auseinandergesetzt. Trotz allen Widerstandes treffen sich beide aber dennoch in einer gemeinsamen Überzeugung, über welche sich auch Busoni mit Reger einig war: Bachs Musik steht als ewig gewordenes Phänomen für den kompositionsgeschichtlichen Fortschritt und stellt zeitgleich ein Gegenmittel zur überfrachteten Musik der Spätromantik dar.

Durchführung und Reprise – Annäherung an das Bachbild Arnold Schönbergs

Es ist nicht besonders originell, darauf zu verweisen, dass Arnold Schönberg sich nur ungern als Revolutionär bezeichnet gesehen hat. Vielmehr wurde er selbst nicht müde darin, unablässig zu betonen, dass er nur Fortführer einer alten Tradition sei, welche er anhand eines äußerst ungewöhnlichen teleologischen Musikgeschichtsbildes, welches dann von Anton Webern fortgeführt wurde, zu konstruieren versuchte. Damit gelang es ihm, seine Technik der Komposition mit nur zwölf aufeinander bezogenen Tönen als notwendiges Endergebnis einer rund vierhundertjährigen Kompositionsgeschichte zu etablieren. Wie Carl Dahlhaus hierüber zutreffend resümiert, erreicht der reaktionäre Neutöner in den vier Wänden seines zeitweise ahistorischen Konstrukts damit eine „höhere Stufe der kompositorischen Technik“, in welcher sich die Tradition der großen europäischen Musik, vertreten durch Wagners Chromatik, Beethovens thematisch-motivische Arbeit und die Kontrapunktik der Niederländer, aufhebt, das heißt: aufgezehrt wird und sich aber dennoch auch zeitgleich bewahrt.17 Die Rolle einer entscheidenden Instanz für den von Schönberg entwickelten Formsinn nimmt Bach ein. Bei ihm findet der Zwölftöner bereits alles vorweggenommen, was durch Beethoven, Brahms, und nicht zuletzt auch durch seine eigene Künstlerpersönlichkeit zur Blüte gelangt ist. Der Barockkomponist wird für ihn zum Bindeglied zwischen kompositorischer Vergangenheit und Zukunft, indem er nicht in die Geschichte ausweicht, um den musikalischen Problemen der Gegenwart zu entgehen, sondern im Vergangenen das Zukünftige entdeckt.18 Die wohl außergewöhnlichste Aussage als Produkt dieses ungewöhnlichen Denkens findet sich in Schönbergs Bach-Aufsatz aus dem Jahre 1950: “Bach is the first composer with twelve tones”19. Auch wenn der Komponist diesen Satz sofort wieder als Scherz, den er oftmals gemacht habe, zurücknimmt – eine solche Behauptung ist, ohne weitere Erklärung, schließlich als unrichtig zu entlarven20 – so versucht er auf der folgenden Seite seiner Ausführungen anhand der 24. Fuge21 aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klavier dennoch nachzuweisen, welche chromatisch kühnen Passagen Bach seiner Zeit zugemutet habe. Tatsächlich ist es so, dass die Chromatik ein Element ist, das weg von der Dur-Moll-Geschlechtlichkeit hin zur „Atonikalität“ weist, allerdings ist dies, selbst wenn es so erscheinen mag, niemals von Bach in diesem Sinnzusammenhang – hier bedenke man, in welchem geringen Maße Schönberg die barocke Tradition mitdenkt22 – verwendet worden: Wenn in seiner Musik solcherlei Kunstgriffe zu finden sind, so ist dies auf den Bau des kontrapunktischen Satzes oder auf die Verwendung kompositorischer Strukturmodalitäten (man denke an rhetorische Gesten) zurückzuführen.

Hart umkämpft ist ein weiterer Gedanke Schönbergs in Bezug auf das Bachsche Komponieren. Will man den zahlreichen Aussagen seiner Schüler glauben schenken, dann gelang es dem Komponisten auf eindrückliche Weise die sogenannten innermusikalischen Prozesse in der Kunst der Fuge (BWV 1080) aufs Genaueste zu beschreiben. Als Besonderheit des Bachschen Kontrapunktes erachtete er dabei die Ausweitung des Tonmaterials und die thematische Entwicklung, die sich im Verlauf des Satzes abspielt. Dieses mit dem Begriff „entwickelte Variation“ umschriebene Phänomen, welches er ursprünglich für die Analyse der Musik Johannes Brahmsens ins Auge gefasst und später auf die Bachs umgedeutet hatte, wird auch für seine Bach-Bearbeitungen zum bestimmenden Faktum. Gerade im Fugenkontrapunkt, an welchem er diese entwickelte Variation auch beim Instrumentieren aufzuzeigen versucht, liegt aber tatsächlich eine Verbindungslinie zur Zwölftontechnik. In gleicher Weise in welcher nämlich mit dem Fugensubjekt umgegangen wird – es wird zunächst vorgestellt und kehrt üblicherweise zwar transponiert, aber zunächst immer unverändert wieder, bevor es dann den komplexer werdenden kontrapunktischen Vorgängen angepasst wird –, so wird auch mit der Vorstellung und Verarbeitung der Reihe verfahren. Diese Annäherung lässt sich auch im Besonderen anhand der Orchestrierungen bachscher Orgelwerke durch Arnold Schönberg demonstrieren. 

Coda – der Bearbeiter Arnold Schönberg

VII. Unser Klangbedürfnis zielt nicht auf „geschmackige“ Farbigkeit ab, sondern die Farben bezwecken die Verdeutlichung des Verlaufs der Stimmen und das ist im kontrapunktischen Gewebe sehr wichtig! Ob die Bach-Orgel das leisten konnte, wissen wir nicht: das weiß ich (und das ist einer meiner Ausgangspunkte!)23

VIII. Unser heutiges musikalisches Auffassen verlangte Verdeutlichung des motivischen Verlaufes in der Horizontalen, sowie auch der Vertikalen. D.h. wir begnügen uns nicht mit dem Vertrauen auf die immanente Wirkung der als selbstverständlich vorausgesetzten kontrapunktischen Struktur, sondern wir wollen diese Kontrapunktik wahrnehmen: als motivische Zusammenhänge. […] Rein durch Zusammenklang kunstvoll geführter Stimmen entstehende angenehme Wirkung genügt uns nicht mehr. Wir brauchen: Durchsichtigkeit um durchschauen zu können.24

Die hier zitierten Teile eines Schreibens, welches Arnold Schönberg an den ihm befreundeten Kapellmeister Fritz Stiedry, der später selbst eine Instrumentation der Kunst der Fuge vorlegte25, richtete, stehen im Zusammenhang mit den ersten größeren Werken, die die jahrzehntelange Auseinandersetzung des Komponisten mit dem Bachschen Schaffen dokumentieren: die Bearbeitungen der Choralvorspiele Komm, Gott, Schöpfer, Heiliger Geist für großes Orchester und Schmücke dich, o liebe Seele für Solo-Violoncello und großes Orchester aus dem Jahre 1922. Sie spiegeln eine Haltung zur Bearbeitung der Orgelwerke wieder, die sich von der sonstigen Praxis solcher Instrumentationen abhebt. Ziel ist es dabei nicht, den oftmals als dürftig empfundenen Klang der Orgel durch einen umso reicheren Orchesterklang zu ersetzten, sondern die Farbigkeit des Orgelklangs mit Hilfe des Orchesters nachzubildenden und zu bereichern. Hierbei soll aber diese Farbigkeit nicht dazu dienen, irgendein Wohlgefallen damit auszulösen, sondern es soll das geschehen, was Schönberg auch mit seinem Verfahren der „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ bezweckt hat: der Gedanke des Schöpfers dieses musikalischen Werkes soll fasslich gemacht werden.26

Mit diesen Maximen ‚bewaffnet‘ wendete er sich dann einige Jahre später (1928), nach weiterer intensiver Beschäftigung mit dem Orgelwerk des Barockkomponisten – dies ist durch zahlreiche handschriftliche Vermerke in den Partituren der freien Orgelwerke, vor allem eingefügte Taktzählungen und Hinweise auf satztechnische Einzelheiten, im Besitz des Tonsetzers belegt27 – seiner Bearbeitung von Präludium und Fuge in Es-Dur für Orgel (BWV 552) aus dem Dritten Teil der Klavierübung zu. Würde man zunächst nicht berücksichtigen, dass Schönberg besonderes Gewicht auf die Verdeutlichung motivischer Zusammenhänge innerhalb dieser Orgelstücke gelegt hätte, so erscheint diese Orchestrierung im höchsten Maße konventionell. Die Ausführung – in der weiteren Betrachtung wird vor allem der Fokus auf die Bearbeitung der Fuge28 gelegt, da diese beste Ansatzpunkte zum Vergleich mit der Webernschen Ricercar-Bearbeitung liefert – ist einem überdimensionierten symphonischen Orchesterapparat anvertraut, der den Vergleich mit demjenigen, wie er von Gustav Mahler verwendet wird, nicht zu scheuen braucht. Auch der Umgang mit dem ersten Fugensubjekt der Tripelfuge ist durchaus wenig überraschend. Es ist jeweils einer Instrumentalstimme, später dann Gruppen solcher, überantwortet, jeden weiteren Einsatz des Themas zu gestalten, ähnlich wie dies auch im vierstimmigen Orgelsatz der Fall ist.29

Dennoch gibt es einige auffällige Besonderheiten: Die gesamte Exposition des ersten Fugenthemas wird nur von den Holzbläserstimmen (zunächst nur in den Klarinetten) ausgeführt. Zu ihnen treten im ersten Durchführungsteil die Hornstimmen hinzu, bevor dann mit einem außergewöhnlichen Solo der Basstuba ab Takt 236 noch einmal das erste Thema in seinem vollen Umfang zu hören ist – hierdurch wird dieser Einsatz besonders hervorgehoben (im Bachschen Original handelt es sich um den notengetreuen zweiten Einsatz des Pedals30). Das zweite Thema ist dann, abgesehen von Einwürfen der Bläserstimmen, den Streichinstrumenten vorbehalten, während die Gestaltung des dritten Themas gänzlich den Blechbläserstimmen anvertraut ist. Nur in den Zwischenspielteilen sowie am Schluss der Tripelfuge kommt das gesamte Orchester zum Einsatz. Mit diesen instrumentatorischen Kniffen (so auch durch die Verwendung von Harfe, Celesta und Glockenspiel zur Hervorhebung bestimmter Motive wie auch dem Anzeichnen von Haupt- und Nebenstimme im Satz) und der Spielvorschrift, dass das Thema nicht mehr hervorzuheben sei, als dies durch die Dynamik vorgezeichnet ist, gelingt es Schönberg genau das zu erreichen, was er bereits zuvor für seine Bearbeitung der Choralvorspiele in Anspruch genommen hatte: Er verdeutlicht durch diese Orchestrierung die motivischen Zusammenhänge, indem er die verschiedenen Klangfarben31 der Instrumente und deren Kombination ausnutzt und der Phrasierung der Stimmen einen besonderen Stellenwert beimisst. Auch dies hatte er bereits 1922 ins Auge gefasst:

Alles ist ohne Phrasierung nicht möglich. Phrasierung aber ist nicht „affektbetont“ anzuwenden, wie es das Zeitalter des Pathos tat. Sondern sie hat:
1. die Gewichtsverhältnisse in die Linie richtig zu verteilen.
2. die motivische Arbeit teils zu enthüllen, teils zu verschleiern.
3. die gegenseitige dynamische Rücksichtsnahme jeder Stimme auf alle und auf· den Gesamtklang (Durchsichtigkeit) zu bewirken.

Und genau diese drei ‚Vorschriften‘ für den richtigen Einsatz der Phrasierung inkl. der Ergänzung von dynamischen Anweisungen beachtet Schönberg nun auch in seiner Fugenbearbeitung, wie die Einteilung des ersten Subjekts in Phrasen und die Betonung einzelner Momente durch Akzentuierungen zeigen.32

Anbetracht der hier aufgezeigten Aspekte ergibt sich ein Bild des Bearbeiters Schönberg, das, wie auch seine Haltung zur Musikgeschichte, eine Mischung zwischen Revolution auf der einen Seite und Reaktion auf der anderen aufweist. Mit der Transkription der Orgelstimme auf einen spätromantischen Orchesterapparat bewegt sich der Komponist auf den Spuren seiner Vorgänger, indem er versucht, den Orgelklang mit Hilfe dieses enormen instrumentalen Materialaufwands farbenreicher zu gestalten, um dann aber andererseits mit Methoden, die an die Technik zur „Komposition mit nur zwölf aufeinander bezogenen Tönen“ erinnern (Hervorhebung der thematisch-motivischen Zusammenhänge durch Instrumentation und Anzeichnen der Haupt- und Nebenstimmen), die Musik des großen Praedezessors in einem neuen Lichte, sie, wie es Adorno formuliert hat, „vom fortgeschrittensten Stande des Komponierens“33 her, zu betrachten.

Theoretische Setzung – Zu einer Ästhetik der Bearbeitung bei Anton Webern

Die Ricercar-Bearbeitung im Schaffen des Komponisten

Im Schaffen des Schönberg-Schülers Anton Webern nehmen Bearbeitungen einen äußerst breiten Raum ein. Rund ein Viertel seiner Kompositionen, die alle außerhalb der offiziellen Opuszählung stehen, können in diese Sparte eingeordnet werden.34 Unter ihnen finden sich vor allem Reduktionen Schönbergscher und eigener Werke, unter anderem für die Konzerte des Vereines für musikalische Privataufführungen, Klavierauszüge der Fünf Orchesterstücke op. 16 und des Vorspiels zu den Gurre-Liedern sowie auch Orchesterfassungen von Klavierliedern Franz Schuberts und Hugo Wolfs.35 Alle tragen sie keine Opuszahl und scheinen auf den ersten Blick nicht das Geringste mit den üblicherweise herbeizitierten drei Phasen seines kompositorischen Schaffens (Phase stark erweiterter Tonalität, freitonale und Phase der Übernahme der Schönbergschen Zwölftonmusik) zu tun zu haben – ein Irrtum, der, wie das Folgende zeigt, nicht aufrecht zu erhalten ist.

Eine unanfechtbare Sonderstellung nimmt unter diesen Bearbeitungen die Orchesterfassung des Bachschen Ricercars a 6 (von Webern als „Ricercata“ bezeichnet) aus dem Musikalischen Opfer (BWV 1079) ein. Es ist nicht nur die einzige Bearbeitung, die auf einen Barockkomponisten, sondern überhaupt die einzige, die auf die Musik eines Komponisten vor der Zeit des 19. Jahrhunderts zurückgreift.36 Dies ist ein Hinweis darauf, dass Webern hier die Neigung seines Lehrers für diesen Komponisten ererbt hat, was sich auch in seiner Vortragsreihe Der Weg zur Neuen Musik widerspiegelt.37 Zunächst überrascht es etwas, dass Webern, wie ein Brief an Arnold Schönberg vom August 1934 zeigt, sich ein „Klavier- bzw. Orgelwerk“ Bachs zur Vorlage für eine Orchestrierung wählt:

Ich habe es übernommen, ein klassisches Werk (der Klavier- oder Orgelliteratur) für Orchester zu setzen. Ich bin noch nicht ganz entschieden, denke aber an die große sechsstimmige Fuge aus dem »musikalischen Opfer« von Bach […].38

Noch zu Beginn seiner Studienzeit nämlich hatte sich Webern solchen Experimenten, wie er es nannte, eher ablehnend, ja sogar feindlich gegenübergestellt: „Es ist doch gar keine Notwendigkeit dazu vorhanden.“39 Der Kontakt zu Arnold Schönberg dürfte wohl Weberns Einsicht zu solchen Unternehmungen deutlich verändert haben, was sich auch gerade daran festmachen lässt, dass er mit dem bereits in die Vereinigten Staaten abgereisten Freund dieses Projekt diskutiert.40

Welche inneren Beweggründe und künstlerischen Absichten letztlich überhaupt dazu geführt haben, dass Webern die Ricercar a 6 ins Auge gefasst hatte, lässt sich nur vermuten. Der äußere Anlass, der Plan und Tat erst möglich machte, ist hingegen äußerst profaner Art und auf elementarste Bedürfnisse zurückzuführen: Durch seine stets unglückliche Beschäftigungssituation war Webern in eine schlechte finanzielle Situation geraten, was ihn dazu brachte, im Mai 1934 die Witwe des Verlegers Emil Hertzka darum zu bitten, für ihn bei der Universal Edition in Wien zu intervenieren. Er bekam daraufhin den Auftrag zur Bearbeitung eines klassischen Werkes, welcher eine einmalige Zahlung von 500 Schilling und 5 Prozent Tantiemen als Vergütung vorsah. Hierauf entstand die Ricercata innerhalb der Zeit zwischen Mitte November 1934 und Anfang Februar 1935.41

Interessen und Ziele

Von welcher tragenden ideellen Wichtigkeit dieses Arrangement für Webern gewesen sein muss, dokumentieren einige Briefe, die er an die ihm eng befreundete Dichterin Hildegard Jone, die auch unter anderem den Text für die beiden Kantaten op. 29 und 31 lieferte, sandte. Dort berichtet er nicht nur, mit welchem Pensum und Ausdauer er an diesem Projekt arbeitet, sondern er bezeichnet dieses Werk, als es dann endlich zur Aufführung gelangen sollte, als seine „Bach-Fuge“42. Hinter dieser schwergewichtigen Bedeutungsbeimessung verbirgt sich ein umfangreiches Konzept, welches dieser Bearbeitung beigegeben ist. Webern konnte diesem Projekt unter vier Aspekten, neben dem finanziellen, etwas abgewinnen:

Zunächst zog die derart strenge musikalische Form, in der die Ricercar a 6 gearbeitet ist, die intellektuelle Disziplin43, welche hinter dieser steht, den Komponisten magisch an. Es sind nicht nur seine Eigenkompositionen dieser Zeit, die vermehrt von kanonischen Strukturen durchzogen sind, sondern seine akademischen Interessen der Vergangenheit waren schon immer von solchen Phänomenen geprägt gewesen. Als Student am musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Wien hatte sich Webern für seine 1906 unter Guido Adler entstandene Dissertation eingehend mit den Kanons in Heinrich Isaacs Choralis Constantinus auseinandergesetzt. Kanonische Strukturen stellen, wie auch die Fuge und das Ricercar, Formen konzentrierter Kompositionsweise dar, somit durfte auch die Bachsche Komposition unter diesem Aspekt von Webern ausgewählt worden sein.44

Zu diesem formalen Aspekt tritt hinzu, dass das Bachsche Spiel mit dem königlichen Thema ein „Abstraktum“ darstellt, welches nur in wissenschaftlichen Fachkreisen überhaupt Beachtung gefunden haben dürfte und vielleicht bis heute findet, und, wie Webern selbst mutmaßte, „ außer vielleicht gelegentlich durch einen Organisten wohl kaum jemals aufgeführt worden sein dürfte“45. Für ihn lag nun die interessante Aufgabe darin, dieses Werk durch sein Eingreifen „in eine akustische mögliche Realität zu verwandeln“46. Dies ist ein Reiz der Alten Musik, dem nicht nur Anton Webern, sondern auch zahlreiche seiner Zeitgenossen seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, verfallen waren. Die dabei sichtbare Freiheit der Gestaltung aber ist gerade das, wovor der um Rat angesuchte Lehrer Schönberg den Freund warnt, indem er gleichzeitig noch einmal daran erinnert, wie er selbst mit einer solchen Aufgabe umgegangen war:

[I]ch habe sozusagen die Orgel modernisiert, ihren langsamen, seltenen Farbenwechsel durch reicheren ersetzt, der den Vortrag und den Charakter der einzelnen Stücke fixiert, und habe auf Klarheit des Stimmgewebes geachtet. Um zu erfahren, wie man die für ein großes Orchester doch unerläßlich größere Anzahl von Stimmen erhalten kann, habe ich die Technik der 8-stimmigen Sätze bei Bach angeschaut und konnte dann ganz leicht 6-10-stimmige schreiben und auch genügend Füllstimmen erzielen. Denn nur durch Verdoppelung läßt sich das schwerlich erzielen. Ich habe mich dabei allerdings auf den Standpunkt gestellt, daß ich eine Transkription anfertige und mir wenigstens solche Freiheit gestatte, wo er sogar Figuratives und insbesondere Harmonisches vollkommen neu schafft – soweit bin ich aber nicht gegangen.47

Aus diesen Zeilen spricht die eingeschränkte Sicht, welche Schönberg in seinem Begriff von Bearbeitung in Kauf genommen hatte. Webern hingegen hat, dies soll das Nachfolgende noch zeigen, „diesen Spielraum [die Freiheit der Möglichkeiten, S.H.] […] in vollem Maße ausgenutzt, ohne […] die kunstvolle Bachsche Polyphonie auch nur im Geringsten durch massive Orchestereffekte zu vergröbern“48.

Zu den beiden bisher genannten Aspekten tritt nun noch Weberns didaktischer Anspruch hinzu. Ihm scheint es bei diesem Projekt nicht nur darum zu gehen, das „abstrakte Spätwerk“ Bachs für die musikalische Praxis zugängig zu machen, sondern, ganz im Sinne Schönbergs, das Barockwerk zu veranschaulichen49, d.h., die Gedanken des bearbeiteten Komponisten offen zu Tage treten zu lassen, indem das Werk fasslich gemacht wird. Dies stellt einen wichtigen Unterschied zu den anderen Werkbearbeitungen des 19. und 20. Jahrhunderts dar. Der Höreindruck blieb bei diesen beibehalten, lediglich der Klang wurde auf das Orchester übertragen. Webern nun greift durch seinen Bearbeitungsvorgang viel stärker in die Ausgangskomposition ein, ohne sie allerdings maßgeblich zu verändern.50

Zuletzt ist bei Weberns Vorgehensweise auch spürbar, dass er mit dieser Transkription letztlich den Versuch unternimmt, aus den Problemen der klassischen Instrumentationsideen und damit auch aus deren verschlungener Geschichte auszubrechen, indem er mit dem Anspruch der Orchestrierung eine Mithineinnahme der eigenen Kompositionstechnik ins Auge fasst. Abschließend soll nun das Bachsche Ricercars a 6 unter dem Aspekt des Umgangs mit den Stimmen des Satzes und dem artifiziellen Spiel mit Klangfarben untersucht werden.

Zur Ausführung

Reihentechnik und -partikel ohne existente Reihe

Das Ergebnis von Weberns Bearbeitungsbemühungen mutet nun im direkten Vergleich zu Schönbergs Orchestrierung eigentümlich an. Er verzichtet auf den großen Orchesterapparat, von welchem er sich bereits mit der ersten Fassung seiner Sechs Stücke für großes Orchester op. 6 verabschiedet hatte. Die Besetzung setzt sich lediglich aus sechs Holzbläserstimmen (Flöte, Oboe, Klarinette und Fagott, inkl. obligat besetztem Englisch Horn und Bassklarinette), drei Blechbläserstimmen (Horn, Trompete und Posaune), Pauke, Harfe und Streicherstimmen, die sowohl chorisch als auch solistisch verwendet werden, zusammen, was sie in die Nähe der in der Symphonie op. 2151 verwendeten Instrumentenwahl rückt. Der Umgang mit dem musikalischen Material selbst ist von Webern nunmehr stark eingeschränkt: Die Durchführungen des Fugenthemas werden hauptsächlich von den Bläserstimmen ausgeführt, demgegenüber die kontrapunktischen Phrasen von den meist chorisch eingesetzten Streicherstimmen (nur beim letzten Aufscheinen des Fugenthemas beteiligen sich Violoncelli und Kontrabässe an dessen Ausführung52). Außer am Schluss des Werks, der irgendwie nicht zum restlichen Stück passen möchte, findet sich der gesamte Orchesterapparat, der stets kammermusikalisch behandelt und immer so eingesetzt wird, dass er eher „auf plastische Linienführung als auf vollen Klang bedacht ist“53, zu einem kompakten Tutti mit Stimmverdoppelungen zusammen.54

Neben dem Aspekt der Verteilung des musikalischen Materials, an dem Webern keinerlei Veränderungen gegenüber dem Bachschen Original vornahm, ist dieses Klangfarbenspiel, das gleich noch betrachtet werden soll, vor allem durch die Anwendung der Webernschen Kompositionsweise auf das ‚barocke‘ Werk beeinflusst. Ein solches Vorgehen ist damit gemeint, wenn Webern Schönberg im hier bereits zitierten Schreiben darauf aufmerksam macht, dass die Instrumentation hier in den Dienst ihrer Auffassung zu stellen ist, d.h. als Mittel der Offenlegung der musikalischen Zusammenhänge dient.

Was das bedeutet, lässt sich am eindrucksvollsten anhand der Exposition des Thema regiums zeigen. Anstatt dieses als „lange Wurst“55 zu behandeln, zersetzt er es mit Hilfe von wechselnden Klangfarben und neuen Einsätzen der Instrumente in Partikel (dem Prozess vergleichbar, wie Webern auch mit der Zwölftonreihe umgeht), um die kunstvolle Folge von Impulsen und Artikulationen in den rhythmischen Valeurs und melodischen Intervallen herauszuarbeiten.56 Dies hat dann zur Folge, dass das Thema in seinen ersten beiden Einsätzen zunächst zwischen gedämpfter Posaune, Horn und Trompete, und dann zwischen Flöte, Klarinette und Oboe in jeweils mehrtonige Partikel aufgeteilt ‚umhergereicht‘ wird.

Welche Vorstellungen Webern damit verband, zeigt auch sein an Hermann Scherchen gerichteter Brief, in dem er wiederum von „seiner“ Bach-Fuge spricht, womit er apostrophiert, dass es sich hierbei um seine eigene, individuelle Deutung des Werkes handelt und welcher Anweisungen für die Aufführung desselben beinhaltet57.

Klangfarbenmelodie versus Klangfarbenwechsel

Die abschließend von Webern in seinem Schreiben an Hermann Scherchen vorgenommene Setzung führt nun zum letzten Thema dieser Betrachtung über – das der Klangfarbe. Immer wieder verweist Webern selbst auf dieses Faktum, das nicht unschuldig daran ist, dass Theodor W. Adorno seinen geschätzten Kompositionslehrer, durchaus zutreffend, als den pianissimo-Komponisten zu bezeichnen pflegte.58 Die überreizte Steuerung der klanglichen Dimension seiner Werke, durch dynamische Vorschriften und ausdifferenzierteste Tempoangaben, spricht dafür. Das Bedeutungsschwergewicht auf die Klangfarbe zu legen ist eine wichtige Prämisse, die Anton Webern von seinem Lehrer Arnold Schönberg übernommen hatte. Dieser sah in der „Klangfarbenmelodie“59 einem Terminus, den er in seiner Harmonielehre, abweichend von der allgemeinverbindlichen Definition des Begriffes ‚Klangfarbe‘, konstruiert hatte, „die Möglichkeit, Melodien nicht nur als Folge von Tonhöhen entstehen zu lassen, sondern auch aus Klangfarben, da letztere seiner Meinung nach sogar als umfassenderer Begriff die Tonhöhe einschließen“60. Hierin, wie aber auch in einer entgegenstehenden Stellungnahme von Walther Kolneder, der die Auffassung vertritt, dass es eine Klangfarbenmelodie nicht geben könne, weil man nicht aus Klangfarben, sondern nur aus Tönen eine Melodie bilden könne61, liegt ein schwerwiegender Denkfehler, der durch den Ausschließlichkeitscharakter beider Argumentationen entsteht.62 Schließlich besteht eine Melodie immer aus Tönen und Klangfarben, nur durch eine entsprechende Kompositionsweise kann eben einer dieser beiden Elemente derart stark hervorgehoben werden, dass das andere nur noch sekundär erscheint.63

Die „Klangfarbenmelodie“ Schönbergs denkt Webern nun in seinen Werken fort (Kolneder hat hierfür den Begriff „Klangfarbenwechsel“ vorgeschlagen), indem er die „Klangfarben bewusst und systematisch zur Strukturierung in Zusammenhang mit der Tonhöhe einsetzt“64. Die kann man in der Ricercar-Bearbeitung in Form der Verwendung der Klangfarben aller 16 Instrumente unter Zuhilfenahme diversester Spieltechniken (Verwendung von Dämpfern für Blechbläser und Streichinstrumente, Pizzicati oder mit Bogen etc.) beobachten.

Will man diese Kompositions- und Instrumentationsweise nun nicht, wie es Adorno auf beeindruckende metaphorische Weise getan hat, mit dem Stil der Malerei Paul Klees vergleichen, so sei man auf die Analyse dieser durch György Ligeti verwiesen:

Manchmal werden innerhalb einer solchen Gestalt nur drei oder zwei Töne, ja sogar innerhalb einer solchen Gestalt nur ein einziger Ton von demselben Instrument gespielt. Dadurch wird das Reihenhafte der Klangfarbenverteilung noch stärker betont, ohne daß aber […] richtige Klangfarbenreihen als konstruktive Grundlagen der Komposition dienten. Die Anordnung der Klangfarben ist vielmehr mit der Tonhöhenreihe in Zusammenhang gebracht.65

In diesem Sinne ist also der Widerspruch zwischen Klangfarbenmelodie und Klangfarbenwechsel aufzulösen: Webern versteht erstere als Bindung von Klangfarbe an die jeweiligen melodischen Bruchstücke, was wiederum als Klangfarbenwechsel gelesen werden kann.66

Conclusio – „analytische Orchestrierung“ oder „komponierte Verdeutlichung“

Abschließend ist nun die Frage danach zu stellen, welche Bedeutung der Ricercata Anton Weberns letztlich als neue Musik, die sich aus ‚Alten Klängen‘ generiert, beizumessen ist. Ohne Zweifel stellt sie ein Kuriosum dar: Dies gilt nicht nur für die Tatsache, dass sie als eine subjektive Interpretation in schriftlich fixierter Form vorliegt, mit der der Komponist und Bearbeiter das Interesse des Hörers durch dynamische und tempomäßige Angaben in eine ganz bestimmte Richtung lenkt, sondern auch durch die Anpassung der Bachschen Schöpfung in die gegenwärtige Kompositionsweise, d.h. als Übertragung an den eigenen Stil. Eine solche Art von Bearbeitung zeigt, wie sehr doch Anton Webern von seiner eigenen Technik des Komponierens überzeugt war. Sein Anspruch ist es nicht, einen historisierenden Rekonstruktionsversuch durchzuführen, wie er von Generationen von Bearbeitern vor und nach ihm unternommen wurde, sondern sein Ziel liegt in der Verdeutlichung der unbekannten Komposition des hochgeschätzten Vorgängers im Geiste. Wie revolutionär eine solche Herangehensweise ist, dokumentieren die bis hierher verschwiegenen, nahezu gleichzeitig entstandenen Bearbeitungen der Ricercar durch Hermann Besseler67 und Roger Vuatez68, die genau das unternommen haben, was nach Ansicht Anton Weberns und später auch Theodor W. Adornos vermieden werden sollte: Sie behandelten die sechs Stimmen dieses Werkes als „lange Würste“ und verteilten sie als gestrenge „Philologen“ auf durchlaufende Instrumente oder Gruppen.

Dass der Gedanke der „Verdeutlichung“ dabei durchaus zu weit gegriffen ist, darf bei aller Begeisterung für diese außergewöhnliche Art der Transkription, die von Carl Dahlhaus folgerichtig nicht als Ergänzung des Bachschen Werkes, sondern als Beweis dafür, dass „die Idee einer wahrhaft adäquaten instrumentalen Darstellung des Ricercars in dem Niemandsland zwischen dem zur Zeit Bachs noch nicht und heut nicht mehr Möglichen beheimatet ist“69, gelesen wurde, nicht außer Acht gelassen werden. Für einen Laien wird es kaum möglich sein, mit Hilfe der Webernschen Bearbeitung, zu deren wahrem Verständnis man eine Analyse derselben benötigt, um zu verstehen, was Webern in seinen Bach hineininterpretierte, das Bachsche Werk besser zu erfassen und zu durchdringen. Da mit einer durch deutliche Artikulation und Phrasierung geprägten Interpretation auf einem Tasteninstrument eine ebensolche Verdeutlichung erreicht werden kann, scheint der Aufwand, ein Orchester dafür zu nutzten, doch vielleicht etwas zu groß.70

Doch, was bleibt dann von Weberns Bearbeitung als Randkapitel der ‚Alten Musik‘-Rezeption der Zweiten Wiener Schule übrig? Hierzu fand Erwin Stein am Ende seiner Besprechung der Webernschen Bach-Bearbeitung im Christian Science Monitor die richtigen Wort:

Für jeden der Weberns Musik kennt, ist es offenkundig, daß das klangliche Konzept, das er für Bachs Musik anwendet, völlig sein eigenes ist. Es ist erstaunlich, daß zwei Dinge, stilistisch so weit voneinander entfernt, zu einem perfekten künstlerischen Ganzen verschmelzen können. Zugegeben, wir werden hier mit einer völlig neuen Bach-Interpretation konfrontiert. Für diejenigen aber, die Bach verstehen und bewundern, wird es ein Erlebnis sein, ihn einmal mit den Ohren eines Webern zu hören.71

Um damit den Rahmen zu Theodor W. Adornos am Anfang dieser Arbeit besprochenen These zu schließen, sei noch auf die historische Bedeutung von Weberns Bearbeitung verwiesen. Vom Standpunkt des strengen Historikers her mag sie falsch sein, allerdings ist zu bedenken, ob nicht umgekehrt auch der festgefahrene Standpunkt des Historikers falsch wäre. Insofern könnte Weberns Kunstgriff als „schöpferische Verlebendigung“ aus dem Geiste der Musik heraus verstanden werden, da sie vielleicht mehr im Bachschen Sinne ist, der schließlich selbst ein Bearbeiter von fremden, wie auch eigenen Werken war, als die vermeintlich dem Komponisten gewidmete „Werktreue“.72

Universität Wien, Wintersemester 2008/2009

1 Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine geringfügig geänderte und gekürzte Fassung einer unter selbem Titel eingereichten Seminararbeit. Für seine Hilfe und Mitarbeit bei den notwendigen Kürzungen für die Druckfassung gilt der besondere Dank des Verfassers Herrn Alexander Meschik (Wien).

2 Gemeint ist hier der vorher von Adorno entwickelte Gedanke einer sich abzeichnenden Möglichkeit eines Widerspruches zwischen Bachs kompositorischer Substanz und den Mitteln von deren klanglicher Realisierung. Vgl. Theodor W. Adorno: „Bach gegen seine Liebhaber verteidigt.“ In: Ders.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft (= Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Band 10. 1) Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. S. 150f.

3 Ebd. S. 151.

4 Der Grammatik und der Verständlichkeit der Sprache wegen sind alle personalen Begriffe geschlechtsneutral, also weiblich und männlich zu verstehen.

5 Vgl. Walter Blankenburg: „Zwölf Jahre Bachforschung.“ In: Acta musicologica. Nr. 37. Jg. 1965. New York. S. 95-158.

6 Vgl. Friedrich Blume: Johann Sebastian Bach im Wandel der Geschichte. (= Musikwissenschaftliche Arbeiten. Hrsg. von der Gesellschaft für Musikforschung. Band 1) Kassel: Bärenreiter 1947. S. 3-5.

7 Vgl. ebd. S. 11.

8 Zitiert nach Friedrich Blume: Bach im Wandel der Geschichte. S. 6. Dort ohne exakten Fundstellennachweis.

9 Vgl. ebd. S. 12f.

10 Vgl. Grete Wehmeyer: „Carl Czerny.“ In: Musik in Geschichte und Gegenwart. Personenteil. Bd. 5. Hrsg. von Friedrich Blume. Kassel (u.a.): Bärenreiter 2001. Sp. 230f.

11 Vgl. Paul Mies: Gedanken zur Bearbeitung von Werken Joh. Seb. Bachs. (= Jahresgabe 1976 der Internationalen Bach-Gesellschaft. Schaffhausen) Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1978. S. 13.

12 Vgl. ebd. S. 27.

13 Vgl. o.V.: „Eine Umfrage: Was ist mir Johann Sebastian Bach und was bedeutet er für unsere Zeit?“ In: Die Musik 5 (1905–1906). Bd. 17. Erster Quartalsband. S. 74.

14 Ebd. Die Zeilenumbrüche des Originalartikels wurden, geschuldet auf eine bessere Lesbarkeit im Fließtext, angepasst.

15 Vgl. Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Aesthetik der Tonkunst (1906). Berlin 1907. S. 9 und Ferruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1916). Mit Anmerkungen von Arnold Schönberg und einem Nachwort von H. H. Stuckenschmidt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. S. 15. Da beide Ausgaben des Textes aus den Jahren 1906 und 1916 hier identisch sind, wird im Folgenden immer nur der erweiterte Text von 1916 zitiert.

16 Vgl. ebd. S. 62f.

17 Vgl. ebd. S. 199.

18 Vgl. ebd. S. 199f. Und Arnold Schönberg: „Bach. 1950.“ In ders.: Style and Idea. Selected writings of Arnold Schönberg. Edited by Leonard Stein. Berkeley und Los Angeles 1984. S. 395.

19 Ebd. S. 393.

20 Vgl. Regina Bauer: „Anton Webern und Johann Sebastian Bach. Zur Bearbeitung des Ricercar aus dem »Musikalischen Opfer«.“ In: ARTES LIBERALES. Karlheinz Schlager zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Marcel Dobberstein. (= Eichstätter Abhandlungen zur Musikwissenschaft. Bd. 13) Tutzing: Schneider 1998. S. 359.

21 Eine ganzheitliche Bestimmung für den Begriff der ‚Fuge‘ bzw. ‚Fuga‘ (griech. φυγή) zu finden, ist unmöglich. Bezeichnet er grundsätzlich die Beziehung zweier Stimmen zueinander, so kursiert er seit dem 14. Jahrhundert in der wie auch immer gearteten Musikliteratur zunächst in Bezug auf das Kompositionsverfahren des Kanons (man denke an das Lied Bruder Jakob). Durchaus konturlos wird er in der folgenden Zeit dazu verwendet, verschiedenste Verfahren kontrapunktischer Arbeit in Musikstücken, wenn nicht sogar diese selbst, zu bezeichnen. Mit dem 17. Jahrhundert bildet sich der Begriff ‚Fuge‘ als Beschreibung einer musikalischen Form heraus, die den Höhepunkt ihrer Entwicklung zur Mitte des 18. Jahrhunderts findet (Johann Sebastian Bachs Spätwerk zeugt davon). Die damit geborene ‚Fuge‘ spielt, vergleichbar dem Kanon, nur weitaus kunstvoller, mit einem Thema, welches gemeinhin als Subjekt bezeichnet wird. Dieses Subjekt wird sich selbst im Verlauf des Stückes entweder gleich (als Dux) oder verschiedenartig (als Comes) gegenübergestellt. Der Kunstgriff im Rahmen einer ‚Fuge‘ liegt dabei darin, dieses Begegnen für den Hörer auf stets ansprechende, wie überraschende Weise zu gestalten, was sie zum lohnenswerten Schaustück für das technische Können eines Komponisten macht. Während sie in den nachfolgenden Jahrhunderten in diesem Sinne zum Lehrbeispiel wie zeitgleich zur Konvention ‚verkommt‘ – Kompositionsschüler haben bis heute ihre Fertigkeiten im Fugenkomponieren zu schulen – entdeckt das 20. Jahrhundert die ‚Fuge‘ neu als kompositorische Technik, Textur oder auch Stil. Was das Verhältnis von ‚Fuge‘ und ‚Ricercar‘ anbelangt, sind diese seit Michael Praetoriusens Bestimmung in seinem Syntagma Musicum (III, 1619) gleichgestellt.

22 Vgl. Gerd Rienäcker: „Anmerkungen zur Bach-Rezeption der Zweiten Wiener Schule.“ In: Bach und die Nachwelt 3: 1900–1990. Hrsg. von· Michael Heinemann und Hans-Joachim Hinrichsen. Laaber: Laaber 2000. S. 322.

23 Ebd. Hervorhebungen S.H.

24 Ebd. Hervorhebungen S.H.

25 Vgl. Arnold Schönberg: Bearbeitungen I/II. Kritischer Bericht. Fragmente. Hrsg. von Rudolf Stephan und Tadeusz Okuljar. Abteilung VII: Bearbeitungen. Reihe B. Bd. 25/26. (= Ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Rudolf Stephan) Mainz [u.a.]: Schott [u.a.] 1988. S. XXVII.

26 Vgl. Arnold Schönberg: „Komposition mit zwölf Tönen.“ In Ders.: Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik. Hrsg. von Ivan Vojtěch. (= Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1) Frankfurt am Main: S. Fischer 1976. S. 72f.

27 Arnold Schönberg: Bearbeitungen I/II. S. XXIX.

28 Vgl. Johann Sebastian Bach: „Fuga a5 con pedale pro Organo.(BWV 552,2) In: Ders.: Dritter Teil der Klavierübung. Hrsg. von Manfred Tessmer. (= Ders.: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv-Leipzig. Serie IV: Orgelwerke. Bd. 4) Kassel [u.a.]: Bärenreiter 1969. S. 105-113.

29 Vgl. ebd. S. 97f. (Takt 206-221).

30 Johann Sebastian Bach: „Fuge.“ S. 106 (Takt 31–37).

31 Beim Begriff ‚Klangfarbe‘ handelt es sich um einen im musiktheoretischen bzw. kompositionsgeschichtlichen Diskurs inflationär häufig verwendeten Begriff, der ständig wechselnden Bestimmungen unterworfen ist (aus quantitativer wie qualitativer Perspektive, wertfrei wie wertend, je nach kompositorischer Schule, Epoche oder ästhetischer Ausrichtung). Prinzipiell gehen vor allem frühe Definitionsversuche (man denke an zahlreiche Äußerungen hierzu in der Literatur des 19. Jahrhunderts von Musikschriftstellern wie Komponisten gleichermaßen) von, wie es der Philosoph und Psychologe Carl Stumpf genannt hat, „associierten Vorstellungen und Gefühlen“ aus, die sich aus den „vielfachen Folgen der Tonempfindungen“ ableiten. Hermann von Helmholtzens Bestimmung der Klangfarbe im „weiteren Sinne“ als „das, was gleichhohe und gleichstarke Töne noch für unsre Empfindungen unterscheidet, wenn sie von verschiedenen Instrumenten hervorgebracht werden“, und im „engeren Sinne“ als „die Zusammensetzung des Klanges aus Teiltönen“ darf bis heute als gültig erachtet werden. Wie im Folgenden gezeigt wird, gehören die Bestimmungen von Arnold Schönberg wie auch Anton Webern der ersten, eher assoziativen Kategorie an.

32 Schönbergs Eingriffe werden bereits beim Betrachten der ersten 4 Takte der Fuge im originalen Orgelsatz Johann Sebastian Bachs und in der Orchestrierung durch Arnold Schönberg. Johann Sebastian Bach: „Fuge.“ S. 105 (Takt 1-5) und Arnold Schönberg: „Fuge.“ S. 97 (Takt 206-209) deutlich.

33 Vgl. Theodor W. Adorno: „Bach gegen seine Liebhaber verteidigt.“ S. 151.

34 Vgl. Regina Bauer: „Anton Webern und Johann Sebastian Bach.“ S. 359.

35 Vgl. Hans und Rosaleen Moldenhauer: Anton von Webern. Chronik seines Lebens und Werkes. Zürich: Atlantis 1980. S. 664-666.

36 Ebd.

37 Vgl. Anton Webern: „Der Weg zur Neuen Musik.“ In: Ders.: Der Weg zur Neuen Musik. Hrsg. von Willi Reich. Wien: Universal Ed. 1960. S. 9-44. Hier S. 37.

38 Undatiertes Brieffragment an Arnold Schönberg. Zitiert nach Hans und Rosaleen Moldenhauer: Anton von Webern. S. 400.

39 Im konkreten Fall ging es um eine Orchestrierung einer Bachschen Orgeltoccata, welche Webern in der Konzertsaison 1903/1904 kennengelernt hatte. Vgl. Hans und Rosaleen Moldenhauer: Anton von Webern. S. 47.

40 Vgl. ebd. S. 400.

41 Vgl. Regina Bauer: „Anton Webern und Johann Sebastian Bach.“ S. 359.

42 Vgl. Anton Webern: Briefe an Hildegard Jone und Josef Humplik. Hrsg. von Josef Polnauer. Wien: Universal Ed. 1959. S. 30f.

43 Vgl. Hans und Rosaleen Moldenhauer: Anton von Webern. S. 401.

44 Regina Bauer: „Anton Webern und Johann Sebastian Bach.“ S. 360.

45 Undatiertes Brieffragment an Arnold Schönberg. Zitiert nach Hans und Rosaleen Moldenhauer: Anton von Webern. S. 400.

46 Ebd.

47 Antwortschreiben Arnold Schönbergs an Anton Webern vom 13. November 1934 auf den hier bereits erwähnten undatierten Brief aus dem Sommer desselben Jahres. Zitiert nach Hans und Rosaleen Moldenauer: Anton von Webern. S. 400. Hervorhebungen S.H.

48 Felix Meyer: „Johann Sebastian Bach/Anton Webern »Fuga (Ricercata) a 6 voci« aus dem Musikalischen Opfer.“ In: Klassizistische Moderne. Hrsg. von Felix Meyer. (= Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung. Bd. 4) Winterthur: Amadeus 1996. S. 14.

49 Vgl. Regina Bauer: „Anton Webern und Johann Sebastian Bach.“ S. 360.

50 Ebd.

51 Vgl. Anton Webern: Symphonie für Klarinette, Bassklarinette, zwei Hörner, Harfe, 1. und 2. Geige, Bratsche, Violoncell op. 21. Wien 1956.

52 Vgl. Anton Webern: Johann Sebastian Bach: Fuga (Ricercata) a 6 voci. No. 2 aus dem „Musikalischen Opfer“. Für Orchester gesetzt von Anton Webern. Wien o.J. S. 43 (Takt 197).

53 Carl Dahlhaus: „Analytische Instrumentation. Bachs sechsstimmiges Ricercar in der Orchestrierung Anton Weberns.“ In: Ders.: Schönberg und andere. Gesammelte Aufsätze zur Neuen Musik mit einer Einleitung von Hans Oesch. Mainz [u.a.]: Schott 1978. S. 210-217.

54 Vgl. ebd.

55 Memoiren von Arnold Elston. Typescript. WA zitiert in Hans und Rosaleen Moldenhauer: Anton von Webern. S. 401.

56 Vgl. ebd.

57 Vgl. Brief von Anton Webern an Hermann Scherchen vom 01. Januar 1938. Zitiert nach Anton Webern: „Aus dem Briefwechsel. Briefe an Alban Berg, Emil Hertzka und Hermann Scherchen.“ In: Anton Webern. Hrsg. von· Herbert Eimert. (= Die Reihe. Informationen über serielle Musik. Heft 2) Wien: Universal Ed. 1955. S. 25f.

58 Vgl. Theodor W. Adorno: „Anton von Webern.“ In: Ders.: Klangfiguren. Musikalische Schriften I. (= Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Bd. 16) Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. S. 110.

59 Vgl. Arnold Schönberg: Harmonielehre. Wien: Universal Ed. 1922. S. 503.

60 Regina Bauer: „Anton Webern und Johann Sebastian Bach.“ S. 373.

61 Vgl. Walter Kolneder: „Webern und die Klangfarbenmelodie.“ In: Österreichische Musikzeitschrift. 27. Nr. 3. Jg. 1972. Wien. S. 150.

62 Vgl. Regina Bauer: „Anton Webern und Johann Sebastian Bach.“ S. 374.

63 Vgl. ebd.

64 Vgl. ebd.

65 György Ligeti: „Die Komposition mit Reihen und ihre Konsequenz bei Anton Webern.“ S. 301. (Anm. 7) Zitiert nach Regina Bauer: „Anton Webern und Johann Sebastian Bach.“ S. 377.

66 Vgl. Regina Bauer: „Anton Webern und Johann Sebastian Bach.“ S. 377.

67 Vgl. Felix Meyer: „Johann Sebastian Bach/Anton Webern.“ S. 14.

68 Vgl. Martin Elste: Meilenstein der Bach-Interpretation 1750-2000. Eine Werkgeschichte im Wandel. Stuttgart [u.a.]: Metzler [u.a.] 2000. S. 314.

69 Carl Dahlhaus: „Analytische Instrumentation.“ S. 217.

70 Vgl. Regina Bauer: „Anton Webern und Johann Sebastian Bach.“ S. 377f.

71 Erwin Stein: „Bach via Anton Webern.“ In. Christian Science Monitor (1938). Zitiert nach Hans und Rosaleen Moldenauer: Anton von Webern. S. 403. Dort ohne nähere Fundstellenangabe.

72 Vgl. Friedhelm Döhl: Webern. Weberns Beitrag zur Stilwende der Neuen Musik. Studien über Voraussetzung, Technik und Ästhetik der „Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen. (= Berliner Musikwissenschaftliche Arbeiten. Hrsg. von Carl Dahlhaus und Rudolf Stephan. Band 12) München und Salzburg: Katzbichler 1976. S. 356.

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